18. Dez. 2020COVID-19

Die stille Gefahr: Long Covid & mögliche Spätfolgen bei Kindern

Je länger die Corona-Pandemie dauert, desto häufiger wird von Langzeitsymptomen (Long Covid) und/oder Spätschäden samt neurologischer Manifestationen berichtet – in allen Altersgruppen. Nun deutet eine rezente Studie darauf hin, dass bei Kindern selbst stumme oder milde SARS-CoV-2-Infektionen womöglich Gefäße und Nieren schädigen könnten. Denn bei allen Kindern war der Biomarker sC5b9 – ein Anzeichen für eine thrombotische Mikroangiopathie (TMA) – erhöht. Die Kinderärzte-Fachgesellschaft ÖGKJ zieht indes die durch die Gurgelstudie eruierte Dunkelziffer in Zweifel und schließt Schäden durch Maskentragen nicht aus – beides ohne Beleg (Update am 28.01.2021: nunmehr "Evidenz", dass Masken die Kinder nicht schädigen würden, siehe unten). Zu Long Covid will sie „medizinisch valide“ Daten sammeln.

Mutter und Kind mit Gesichtsmaske und Händedesinfektionsmittel
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Bekannt ist bisher, dass der Großteil SARS-CoV-2-infizierter Kinder asymptomatisch ist oder nur leichte Symptome aufweist. Ein kleiner Teil der akut infizierten Kinder hat jedoch schwere Verläufe oder entwickelt ein entzündliches Multisystem-Syndrom, eine postvirale Entzündungsreaktion auf COVID-19 (MIS-C, PIMS-TS, Kawasaki-like-Syndrom). Was jedoch bei Kindern noch nicht untersucht wurde, ist die Komplement-vermittelte thrombotische Mikroangiopathie (TMA), die bei Erwachsenen als mögliche Ursache für schwere SARS-CoV-2-Infektionen identifiziert wurde.

50 Kinder eingeschlossen – mit milden bis schweren Verläufen

Das wollten Dr. Caroline Diorio, pädiatrische Hämatologin und Onkologin, Children’s Hospital of Philadelphia (CHOP), USA, und Kollegen ändern. In die Studie1, die vergangene Woche publiziert wurde, flossen 50 Kinder unterschiedlicher Ethnizität ein, davon 21 mit milder Symptomatik, elf mit schwerer COVID-19-Symptomatik und 18 Kinder mit MIS-C. Bei allen Kindern wurde als Biomarker für die Komplementaktivierung und TMA lösliches C5b9 (sC5b9) gemessen, höhere sC5b9-Spiegel waren mit einem höheren Serumkreatinin (p = 0,01) verbunden – jedoch nicht mit dem Alter.

Die zwei wichtigsten Ergebnisse:

1. Die sC5b9-Plasmaspiegel waren bei Kindern mit SARS-CoV-2-Infektion erhöht, auch wenn sie nur minimale oder keine Symptome von COVID-19 aufwiesen.

2. Ein hoher Anteil der Kinder mit SARS-CoV-2-Infektion erfüllte außerdem die klinischen Kriterien für eine TMA: Von den 22 Patienten, für die vollständige Daten verfügbar waren, erfüllten 19 (86 Prozent) die Kriterien für TMA.

Biomarker um das Sechs- bis Zehnfache erhöht, Folgen unklar

Während gesunde Kinder im Durchschnitt 57 Nanogramm des Biomarkers pro Milliliter Blut aufwiesen, war der sC5b9-Wert bei den infizierten Kindern um das Sechs- bis Zehnfache erhöht. Die Aktivierung des Komplementsystems und TMA scheint bei mit SARS-CoV-2-infizierten Kindern häufig zu sein – unabhängig von der Schwere der Symptome. Welche langfristigen Folgen daraus entstehen könnten, sei unklar.

Jedoch wisse man von Kindern, die nach einer Transplantation von Blutstammzellen TMA entwickeln, dass sie lebenslang unter klinischen Spätfolgen wie Hypertonie, Lungenhochdruck, Schlaganfällen und chronischen Nierenerkrankungen leiden könnten. Transplantationspatienten mit deutlich erhöhtem sC5b9 hätten auch eine erhöhte Mortalität. Ob Spätschäden auch bei den Mikrothrombosen durch eine SARS-CoV-2-Infektion der Fall sein könnten, sollte daher untersucht werden, betonen die Autoren.

Zukünftige Studien seien erforderlich, um festzustellen, ob hospitalisierte Kinder mit SARS-CoV-2 auf TMA untersucht werden sollten, ob eine entsprechende Behandlung hilfreich ist und ob kurz- oder langfristige klinische Konsequenzen der Komplementaktivierung und Endothelschäden bei Kindern mit COVID-19 oder MIS-C vorliegen.

„Wir sollten weiterhin Kinder mit SARS-CoV-2 testen und überwachen, damit wir besser verstehen können, wie sich das Virus kurz- und langfristig auf sie auswirkt“, sagt Co-Senior Autor Dr. David T. Teachey, Direktor für klinische Forschung am CHOP-Zentrum für Krebsforschung, in einer Aussendung am 08.12.2020.

Beunruhigend auch jüngste Daten, die am 15.12.2020 im „Lancet“ publiziert wurden: In einer multinationalen und multizentrischen Fallserie2 wurde bei 38 Kindern und Jugendlichen (0–18) – ohne Vorerkrankungen – aus acht Ländern, darunter Frankreich und Großbritannien, Gehirn- und Rückenmarkserkrankungen im Zusammenhang mit SARS-CoV-2 festgestellt.

Selbsthilfegruppen für Long Covid bei Kindern

Unabhängig davon häufen sich immer mehr Berichte über Long Covid auch bei Kindern. Da in vielen Ländern die Forschung dazu (noch) rar ist, greifen betroffene Eltern zur Selbsthilfe – wie etwa die Initiative „LongCovidKids“ (https://www.longcovidkids.org/) in Großbritannien. Die Kinder und Jugendlichen berichten von Atemproblemen, Herzrhythmusstörungen, extremer Fatigue, Übelkeit, Angststörungen, Depressionen, Kopfschmerzen, Nasenbluten, Bein- und Muskelschmerzen, unwillkürlichem Zittern, Geschmacks- und Geruchsstörungen, Kakosmie, Hauterscheinungen (Ausschläge, Rötungen, Schwellungen) u.v.m.

Die SH-Gruppe setzt sich auch für sichere Schulen bzw. mehr Forschung zu Long Covid ein, ebenso wie zwei Patienten- bzw. Eltern-/Schulvereine in Schweden, wo es besonders viele Langzeitkranke gibt (covidforeningen.se und covid19skola.se). Bisher sind vier Kinder unter zehn Jahren und ein Teenager an Corona gestorben (insgesamt 7.893 Tote, Stand 17.12.2020), 16 Kinder unter zehn und 25 Teenager lagen/liegen auf der Intensivstation und bis Anfang September wurde in schwedischen Medien von rund 70 Kindern und Jugendlichen mit MIS-C berichtet.

Angesichts steigender Infektionszahlen in Österreich auch bei Kindern – laut AGES bisher mehr als 20.000 infizierte Kinder unter 15 Jahren (bei insgesamt mehr als 330.000 Infizierten, davon 4.982 verstorben, Stand 17.12.2020) – fragte medonline bei Assoz. Prof. Priv.-Doz. Dr. Volker Strenger, Leiter AG Infektiologie, Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ), nach, da zu den offiziellen Zahlen auch noch eine Dunkelziffer dazukomme.

Bei der Studie von Diorio et al. handle es sich nicht um Long Covid, sondern um Mikroangiopathien im Akutstadium, präzisiert Strenger. Natürlich könnten TMA auch zu Langzeitfolgen führen. Aber: „Alle typischen Symptome des ‚Post-COVID-Syndrome‘, das sich erst langsam zu einem Bild – oder mehreren unterschiedlichen Bildern – zusammenfügt, sind damit eher nicht zu erklären.“

ÖGKJ will valide Daten zu Long Covid bei Kindern sammeln

Long Covid sei ein interessantes Thema, das nicht nur Kinder betreffe, sondern naturgemäß viel häufiger Erwachsene. Man wisse noch sehr wenig über Symptome, Mechanismus, (Labor-)Befunde, Häufigkeit, Dauer, Therapie etc. Was Long Covid bei Kindern angeht, versuche die ÖGKJ entsprechende Daten – medizinisch valide – zu sammeln.

Was sind nun die „richtigen“ Präventionsmaßnahmen in Schulen und reichen die derzeitigen (wie etwa Maskenpflicht erst ab der Sekundarstufe 1, obwohl das RKI diese auch in Volksschulen ab einer 7-Tages-Inzidenz von 50/100.000 empfiehlt) aus? Zu wissen, welche Maßnahmen die richtigen sind, sei ja genau das Schwierige, betont Strenger: „Wer behauptet, er wisse das, ist unseriös.“

Zum Thema „Kinder und Masken(pflicht)“ sei die ÖGKJ förmlich „bombardiert“ worden, heißt es im aktuellen COVID-19-Editiorial auf der ÖGKJ-Website (https://www.paediatrie.at/covid, Stand 04.12.2020). Mit der „leider nur partiellen“ Schulöffnung ab 7.12.2020 bestehe nun auch eine durchgehende Maskenpflicht für Kinder ab zehn Jahren, schreiben Univ.-Prof. Dr. Daniela Karall (ÖGKJ-Präsidentin) und Prim. Univ.-Prof. Dr. Reinhold Kerbl (ÖGKJ-Generalsekretär) und Strenger.

Proteste „vieler Eltern“, die Schäden durch Maskenpflicht befürchten

Dies habe zu Protesten "vieler Eltern" geführt, die durch Maskenpflicht Schäden für ihre Kinder befürchten. Tatsächlich, heißt es weiter, gebe es zum Thema „Kinder und Masken“ kaum belastbare Evidenz. Eine Gesundheitsgefährdung durch Hypoxämie, Hyperkapnie, Totraumventilation und dgl. könne aber „weitestgehend“ ausgeschlossen werden.

„Weitestgehend“ heißt, dass nichts absolut sicher sei, erläutert Strenger auf Nachfrage: „Auch wenn es keinen Hinweis gibt, dass Maskengebrauch Schäden verursacht, kann dies nicht mit allerletzter Sicherheit ausgeschlossen werden.“ Schon gar nicht zum jetzigen Zeitpunkt – ohne entsprechende Studien. „Negative“ wissenschaftlich seriöse Studien gebe es  keine, so der Kinderarzt auf die Frage nach einer Quelle.

WHO und UNICEF hätten im August 2020 eine Empfehlung zum Maskengebrauch bei Kindern und Jugendlichen herausgegeben, informiert das Editorial, diese werde unter dem Menüpunkt Diverse aktuelle Literatur“ komprimiert wiedergegeben. Strenger verweist auch noch auf die Empfehlungen der DGPI3 (Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie). Update am 28.01.2021: Im Interview mit der ZIB2 am 27.01.2021 sagt ÖGKJ-Präsidentin Karall nunmehr: "Die Evidenz zu den Masken ist auf jeden Fall so, dass man sagen kann, dass Masken die Kinder nicht schädigen."

Während übrigens die WHO einen Mund-Nasen-Schutz für Kinder bis zu fünf Jahren als nicht notwendig erachtet, wie ein Blick auf die Website zeigt, empfehlen US-amerikanische Kinderärzte (American Academy of Pediatrics, AAP) schon für Kinder ab zwei Jahren MNS in Innenräumen – außer im eigenen Haushalt.

ÖGKJ vermutet höhere Dunkelziffer in den USA als in Österreich

Zum Erlass des Bildungsministeriums, insbesondere die nicht unbedingt stringenten Regelungen zur MNS-Pflicht (erst ab Sekundarstufe 1, jedoch nicht im Turnunterricht in geschlossenen Räumen, im Internat in Gemeinschaftsräumen schon) sagt der Kinderarzt: „In Abwägung aller Parameter (Infektionsrisiko, mögliche Fehler beim Maskentragen etc.) kann ich das nachvollziehen.“ Und es entspreche auch den Empfehlungen von WHO, DGPI, RKI (sic!) etc., unterstreicht Strenger.

Angesprochen auf die Kinder-Mortalität in den USA (1/3.000–8.000) müsste es in Österreich drei bis sieben Todesfälle geben – und das ohne Dunkelziffer. „Eventuell ist diese in den USA höher als bei uns, weil wir nicht so wenig testen, wie oft behauptet wird, sondern eventuell sogar mehr als in den USA“, vermutet Strenger. In Österreich sei noch kein Kind an COVID-19 gestorben. Drei bis sieben Todesfälle wären laut dem Kinderarzt übrigens mit der Influenza-Saison vergleichbar: „Dagegen gibt es schon seit Jahren eine Impfung, aber kaum jemand impft seine Kinder.“

Wagner: „Kinder in Österreich zu wenig getestet“

„Die zweite Runde der Gurgeltests in Schulen ist fertig ausgewertet“, informiert der wissenschaftliche Koordinator der SARS-CoV-2-Monitoringstudie, Univ.-Prof. Dr.Dr.h.c. Michael Wagner, Department für Mikrobiologie und Ökosystemforschung, Universität Wien (erste Auswertungsrunde siehe https://medonline.at/10064532/2020/schul-gurgeltests-juengere-aeltere-kinder-gleich-haeufig-infiziert/), auf Anfrage. Diesmal habe das Konsortium aber beschlossen, ein Manuskript zu schreiben – welches schon weit fortgeschritten sei – und dieses auf einen Preprint-Server zu stellen. „Ich kann nicht beurteilen, ob in den USA Kinder noch deutlicher untergetestet werden als in Österreich“, sagt Wagner, „allerdings weiß ich, dass sie in Österreich zu wenig getestet werden.“

Wagner weist auch auf die neue REACT-Studie4 aus England hin. Diese zeige – auch wieder an einer Zufallsstichprobe –, dass Kinder und Jugendliche häufiger infiziert seien als Erwachsene, bestätigt er gegenüber medonline einen entsprechenden Eintrag auf Twitter: „Das passt sehr gut zu unseren Schulmonitoring-Ergebnissen. Ich hoffe, dass nun langsam allen klar wird, dass sich Kinder unter zwölf Jahren ähnlich häufig infizieren wie Erwachsene. Ist eine ähnlich mühsame Diskussion wie die um die angeblich falsch-positiven PCR-Ergebnisse im Sommer.“

Österreich dürfte zumindest mehr als die Schweiz testen: Denn dort werden Kinder unter 12 Jahren überhaupt nicht getestet, selbst wenn sie mit Fieber ins Krankenhaus kommen, berichtet eine gebürtige Österreicherin gegenüber medonline. Sie sei sich ziemlich sicher, dass ihr dreijähriger Sohn COVID-19 hatte und zwar aus der Kindertagesstätte, wo eine Kita-Betreuerin positiv getestet worden war. Neben trockenem Husten und Müdigkeit habe er so „komisch beim Essen“ getan, wie wenn er nichts schmecken würde. Im Gegensatz zu anderen Müttern (deren Kinder einen Tag Fieber bekamen) ließ sie sich testen: Das Ergebnis war positiv, aufgrund der Umstände geht sie von einer Ansteckung durch ihr Kind aus. Sie hatte glücklicherweise nur milde Symptome, beide sind jetzt wieder gesund und wohlauf.

1Diorio C et al.: Evidence of thrombotic microangiopathy in children with SARS-CoV-2 across the spectrum of clinical presentations. Blood Adv (2020); 4(23): 6051–6063. doi: 10.1182/bloodadvances.2020003471

2https://www.thelancet.com/journals/lanchi/article/PIIS2352-4642(20)30362-X/fulltext

3https://dgpi.de/covid19-masken-stand-10-11-2020/

4https://spiral.imperial.ac.uk/bitstream/10044/1/84879/2/REACT1_r7_FINAL_14.12.20.pdf