Gender auf der Aschenbahn
Störungen der Geschlechtsentwicklung sind im Spitzensport zunehmend ein Thema: Sportlerinnen sehen sich gegenüber intersexuellen Konkurrentinnen benachteiligt.
Zwei olympische Goldmedaillen, drei Weltmeistertitel und Siege in zahlreichen anderen Bewerben: Die südafrikanische Mittelstreckenläuferin Caster Semenya dominiert seit über zehn Jahren alle Bewerbe über die Laufdistanz von 800 Meter. Viele ihrer Mitbewerberinnen allerdings sind der Meinung, Semenya hätte bei all den genannten Bewerben gar nicht antreten dürfen. Bereits im Vorfeld des ersten WM-Sieges wurde aufgrund der tiefen Stimme und der maskulinen Erscheinung die Vermutung laut, dass Semenya intersexuell sein könnte. Obwohl es nie offiziell bestätigt wurde, geht man in der Welt der Leichtathletik davon aus, dass sich ein Y-Chromosom in Semenyas Genen befindet. Semenya ist also genetisch ein Mann – präzise ausgedrückt: Karyotyp 46, XY. Semenya fühlt sich allerdings als Frau und hält es daher für selbstverständlich, in Sportwettbewerben für Frauen anzutreten. Sportlerinnen mit Karyotyp 46, XX hingegen fühlen sich ungerecht behandelt, weil Frauen aus biologischen Gründen bei den meisten sportlichen Wettbewerben gegen männliche Konkurrenz chancenlos sind.
„In den letzten Jahren haben zunehmend einige wenige Athletinnen mit uneindeutigen sekundären Geschlechtsmerkmalen, aber männlichen Geschlechtschromosomen bestimmte Sportarten dominiert“, sagt Prof. Dr. Martin H. Birkhäuser, emeritierter Professor für Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin der Universität Bern: „Wir haben es hier mit einem einen Konflikt zwischen Gender-Identität und Sex-Identität zu tun.“
Gender und Sex stimmen nicht immer überein
Der Begriff „Gender“ stammt aus den Sozialwissenschaften und meint, dass das Geschlecht ein subjektiv wahrgenommenes soziales Konstrukt sei. Demnach ist eine Person männlich oder weiblich, weil sie sich als männlich oder weiblich empfindet – völlig unabhängig von biologischen Fakten wie dem Chromosomensatz oder anderen medizinischen Kategorien. „Sex“ hingegen ist ein objektiver biologischer Zustand. Die Zugehörigkeit zum biologischen Geschlecht ist eindeutig durch genetische, chromosomale, gonadale, hormonale und phänotypische Parameter festgelegt.
In der Regel stimmen Sex und Gender von Geburt an überein. Bei wie vielen Menschen biologisches und soziales Geschlecht nicht deckungsgleich sind, ist – wie das Thema „Gender“ im Allgemeinen – Gegenstand heftiger ideologischer Grabenkämpfe. In seltenen Fällen – und das ist wohl der Fall bei Semenya – ist die Ursache eine Störung der Geschlechtsentwicklung (Disorders of sex development, DSD), die nach ICD-10 als Krankheit definiert sind. Die Inzidenz einer solchen Störung, die mit einem uneindeutigen Genital bei der Geburt verbunden ist, wird auf etwa 1:4.500 bis 5.500 geschätzt, es sind also 0,007 Prozent der Neugeborenen betroffen. „DSD liegt vor, wenn zwei oder mehr entgegengerichtete Merkmale des biologischen Sex kollidieren“, erklärt Birkhäuser. In der Öffentlichkeit wird für Menschen mit DSD meist das Attribut „intersexuell“ verwendet.
Drei im Sport relevante DSD
Drei der in Zusammenhang mit Athletinnen relevanten Störungen der Geschlechtsentwicklung sind: die Komplette Androgenresistenz (Complete Androgen Insensitivity Syndrom, CAIS), die Partielle Androgenresisienz (Partial Androgen Insensitivity Syndrom, PAIS) und der 5-alpha Reduktase-Mangel.
Bei der Kompletten Androgenresistenz, auch bekannt als Goldberg-Maxwell-Morris-Syndrom, liegt ein genetisch bedingter Rezeptordefekt der Zielzellen für Testosteron vor. Die Folge ist ein weiblicher Phänotyp und ein weibliches soziales Geschlecht bei männlichem Geschlechtschromosomenmuster (Karyotyp 46, XY). Der Hoden verbleibt in der Leiste, die externen Genitalien sind weiblich, man spricht von „Testikulärer Feminisierung“. Bei der Geburt weist in der Regel nichts darauf hin, dass es sich bei dem Neugeborenen nicht um ein normal entwickeltes Mädchen handelt. Ab der Pubertät befindet sich das Testosteron bei der CAIS im normalen adulten männlichen Bereich, ist aber im ganzen Körper völlig unwirksam. Die Betroffenen entwickeln keine Sexualbehaarung und ihre Körpergröße liegt über dem Durchschnitt. „Berühmte Models gehörten dieser Gruppe von Patientinnen an“, weiß Birkhäuser.
Beim Partiellen Androgeninsensitivitäts-Syndrom kann das Testosteron im Körper seine Wirkung nur eingeschränkt entfalten. PAIS kann klinisch bei Neugeborenen mit 46, XY-Gonaden – je nach Ausmaß der Androgen-Insensivität – unter dem Bild eines „weiblichen“ äußeren Genitale mit Klitorishypertrophie oder demjenigen eines „männlichen“ äußeren Genitales mit Hypospadie auftreten.
Beim 5-alpha-Reduktase Typ 2-Mangel kann Testosteron nicht in Dihydrotestosteron umgewandelt werden. Genetisch männliche Kinder werden zwar mit Hoden geboren, diese sind allerdings zunächst im Körperinneren verborgen. Überwiegend finden sich weibliche äußere Genitalien mit vergrößerter Klitoris. Die Betroffenen werden meist bei Geburt als Mädchen registriert und als solche sozialisiert. In der Pubertät jedoch, wenn der Körper vermehrt Testosteron ausschüttet, durchleben die vermeintlichen Mädchen eine männliche Pubertät. Die bislang im Körperinneren verbliebenen Hoden steigen ab und treten nach außen. Die Klitoris vergrößert sich zu einem Mikropenis oder wächst zu einem Penis aus, es kommt zu einer Maskulinisierung von Muskulatur, Skelett und Stimme. In der Dominikanischen Republik, wo rund 50 Familien von der Erkrankung betroffen sind, vollziehen die meisten Betroffenen nach einer Kindheit als Mädchen einen sozialen Rollenwechsel zum Mann. Trotz unterentwickelter Prostata besteht bei einigen sogar Fruchtbarkeit. Ein differenzialdiagnostischer Hinweis Birkhäusers: „17-beta-Hydroxysteroid-Dehydrogenase-Mangel Typ 3 führt als Folge einer Testosteron-Synthesestörung zu einem klinisch verwechselbaren Bild.“
Die Menschen mit Kariotyp 46, XY, die von einer der drei genannten Störungen der Geschlechtsentwicklung betroffen sind, weisen eine Testosteronkonzentration auf, wie sie für einen Mann typisch ist. Die Konzentration von Testosteron beträgt beim Mann zwischen 10 und 35 nmol/l, bei Frauen zwischen 0,2 und 2,8 nmol/l.
Leistungsfähiger durch erhöhten Testosteronspiegel
Im Spitzensport ist der Testosteronspiegel ein wesentlicher Faktor für die Leistungsfähigkeit. Studien belegen, dass ein höherer Testosteronspiegel die Leistungsfähigkeit erhöht. Eine Studie von Bermon et al. aus dem Jahr 20181 belegte, dass der Androgenspiegel im Serum mit der Leistung und den Wettkampfresultaten weiblicher Spitzensportlerinnen positiv korreliert. Verglichen wurden dabei gesunde Spitzenläuferinnen (400–1500 m) mit Testosteronwerten über dem Schwellenwert von 2 nmol/l und solche mit tieferen Testosteronwerten unter dem Schwellenwert von 2 nmol/l. Die Resultate der Gruppe mit höherem Testosteronwert übertrafen die Gruppe mit den tieferen Testosteronwerten um 1,6 Prozent. Eine rezente Studie von Hirschberg et al.2 untersuchte die Auswirkungen einer experimentell gering erhöhten Testosteronkonzentration auf die körperliche Leistungsfähigkeit gesunder und körperlich aktiver 18- bis 35-jähriger Frauen. Diese Daten sprechen für eine kausale steigernde Testosteronwirkung auf die körperliche Leistungsfähigkeit und die der Magermasse des Körpers (Lean Body Mass) bei jungen körperlich aktiven Frauen.
„Alle gezeigten Studien beweisen, dass Frauen mit höherem endogenen Testosteron leistungsfähiger sind“, fasst Birkhäuser diese Ergebnisse zusammen: „Somit haben Athletinnen mit weiblichem Gender und männlichen Sex Wettbewerbsvorteile.“
Der Leichtathletik-Weltverband IAAF hat aufgrund der genannten Studie von 2018 bei Rennen zwischen 400 Meter und einer Meile eine Testosteron-Obergrenze von fünf nmol/l für Frauen festgelegt. Läuferinnen mit einem 46, XY-Chromosomensatz müssen sechs Monate vor internationalen Wettkämpfen ihren Testosteronspiegel mit Medikamenten senken. Der Grenzwert ist so gewählt, dass auch 46, XX-Frauen mit polyzystischem Ovarialsyndrom (polycystic ovary syndrome, PCOS) – eine der häufigsten hormonellen Erkrankungen bei Frauen – nicht darüber liegen. Caster Semenya und der südafrikanische Leichtathletikverband fechten dieses Reglement mit allen juristischen Finessen an. Im Mai des Vorjahres hat der Internationale Sportgerichtshof (CAS) in Lausanne die Testosteron-Obergrenze für rechtens erklärt. Das Gericht räumte zwar ein, dass eine Diskriminierung vorliege – diese sei aber notwendig, um die Integrität der Frauenleichtathletik zu schützen. Dieses Urteil wiederum haben Semenya und ihr Verband vor der höchsten juristischen Instanz der Schweiz – dem Bundesgericht – angefochten. Das letzte Wort ist also noch nicht gesprochen.
„Heute ist unbestritten, dass Gender respektiert werden muss“, betont Birkhäuser. Das werde meist gelöst durch soziale und berufliche Integration in Gruppe des erwünschten sozialen Geschlechts. „Es ist jedoch fraglich, ob ein Vorgehen allein nach Gender zu den Menschenrechten sensu strictiori gehört, wenn dem Wunsch-Gender eine klar definierte Krankheit zu Grunde liegt, und dadurch andere geschädigt werden“, bezieht der Schweizer Endokrinologe Stellung.
Quelle: Erhöhtes endogenes Testosteron und weiblicher Spitzensport – ein Ausschlussgrund? Menopause, Andropause, Anti-Aging 2019, Wien 6. 12. 2019
Referenzen:
1 Bermon S et al.: Serum androgen levels are positively correlated with athletic performance and competition results in elite female athletes. British Journal of Sports Medicine 2018; 52:1531-1532. doi:bjsports-2018. 10.1136/bjsports-2018-099700
2 Hirschberg AL et al.: Effects of moderately increased testosterone concentration on physical performance in young women: a double blind, randomised, placebo controlled study. Br J Sports Med. 2020 May;54(10):599-604. doi: 10.1136/bjsports-2018-100525