9. Apr. 2014

Medizin für “schwimmende Kleinstädte”

LINZ – Kreuzfahrten weisen seit Jahren zweistellige Zuwachsraten auf – eine Trendwende ist nicht in Sicht. Was in der reisemedizinischen Beratung von „Kreuzfahrern“ wichtig ist, damit sie den Traum auf hoher See genießen können, wurde auf der 19. Linzer Reisemedizinischen Tagung besprochen.

„Das Geschäft boomt“, berichtet Prof. Dr. Tomas Jelinek, Medizinischer Direktor des Berliner Centrums für Reise- und Tropenmedizin (BCRT) und wissenschaftlicher Leiter des Centrums für Reisemedizin in Düsseldorf (CRM). Während 2010 laut dem Deutschem Reiseverband rund 1,2 Mio. Urlauber eine Kreuzfahrt buchten, waren es 2012 bereits 1,5 Mio., das ist eine Steigerung um ein Viertel. Teilweise sind die Schiffe größer als der Hafen, in dem sie anlegen. Solche Gigaliner beherbergen mitunter 6000 Passagiere plus die Crew mit 2000 Personen.

Was ist nun für die reisemedizinische Beratung zu beachten? Zunächst rückt der Reisemediziner das Vorurteil etwas zurecht, der typische Kreuzfahrtreisende wäre älter und chronisch krank. Nach deutschen Zahlen seien lediglich 35 Prozent über 55 Jahre alt. „Allerdings haben wir es in Deutschland genauso wie in Österreich mit einer älter werdenden Population zu tun, die finanziell durchaus gutgestellt ist und gerne reist“, räumt Prof. Jelinek ein, und natürlich die eine oder andere Krankheit in die Beratung mitbringe.

„Schneckenhaus“ immer dabei

Das andere, was Prof. Jelinek für seine Risikoanalyse berücksichtigt, ist der Aufenthaltsort. „Bei Hochseekreuzfahrten habe ich wie eine Schnecke mein Haus immer dabei“, umschreibt der Mediziner die gute touristische Infrastruktur dieser Reiseform, deren Gesundheitsrisiken sich daher von Landreisen unterscheiden. Die öffentliche Wahrnehmung der Risiken ist oft von schlagzeilenträchtigen Unfällen geprägt, wie Brände an Bord oder das Sinken von Schiffen.

„Auch das Phänomen des verschwundenen Passagiers, der einfach eines Morgens beim Frühstück fehlt, tritt immer wieder auf “, erzählt Prof. Jelinek. Doch auch hier seien die Gesamtzahlen gering. „Die Wahrscheinlichkeit, bei einer Kreuzfahrt während eines Strandspaziergangs von einer herunterfallenden Kokosnuss erschlagen zu werden, ist mindestens um den Faktor zehn größer, als auf dem Kreuzfahrtschiff umzukommen“, beruhigt der Tropenmediziner.

Ratten auch auf Nobelschiffen

Relevante Risiken sind hingegen übertragbare Krankheiten, da es zahlreiche Infektionsquellen in dieser „schwimmenden Kleinstadt“ gebe: die Reisenden selbst, Klimaund Lüftungsanlagen, Oberflächen, Nahrungsmittel, Trinkwasser, Wellness- Bereich, Bordklinik (nosokomiale Infektionen) und – Ratten. „Das Kreuzfahrtschiff kann noch so schick sein, Ratten sind immer an Bord und bringen den einen oder anderen Krankheitserreger mit“, weiß der Infektiologe. Vom Spektrum her gebe es die gesamte bunte Mischung der menschlichen Infektionskrankheiten, von Cholera, Masern, Skabies oder Meningitis bis zu TBC. Vieles werde auch über die Crew verbreitet, die zu einem großen Teil aus Ländern kommt, in denen diese Krankheiten viel häufiger sind. Wer woran erkrankt, hänge stark mit den Tätigkeiten der Menschen zusammen, präsentiert der Mediziner Daten von Kollegen, die auf großen Kreuzfahrtschiffen der deutschen Reedereien arbeiten.

Demnach gehören etwa 20 Prozent der Patienten in den Schiffskliniken zur Crew, 80 Prozent sind Passagiere. Die Diagnosen nach absteigender Häufigkeit sind bei der Crew: Unfälle, Verletzungen, Sucht (Alkohol), psychische/psychiatrische Symptome, muskuloskelettale Beschwerden, Seekrankheit, gastrointestinale Beschwerden und Sonstiges. Bei den Passagieren rangiert die Seekrankheit an erster Stelle, dann kommen gastrointestinale Beschwerden, muskuloskelettale Beschwerden und schließlich Grunderkrankungen wie Diabetes oder kardiovaskuläre Erkrankungen.

Schwimmende Brutstätten für Erreger

Das Umfeld ist überhaupt viel eher ein Risiko als der Reisende selbst. Prof. Jelinek: „Kreuzfahrtschiffe sind schwimmende Inkubatoren für übertragbare Krankheiten.“ Ein besonders wichtiges Thema ist die Influenza, immer wieder gibt es Ausbrüche auf Kreuzfahrtschiffen. Die Menschen kämen von überall her, könnten nicht ausweichen, es seien Ausscheider, Ältere und Abwehrgeschwächte dabei, „ein wunderbares Setting für dieses Virus“, schildert Prof. Jelinek und bringt die Bilanz eines Influenza- Ausbruchs auf einem Kreuzfahrtschiff: Von rund 1150 Passagieren erkrankten fast 800, rund 40 mussten stationär aufgenommen werden, 26 hatten Lungenentzündungen, bei zehn exazerbierten Herz- und Lungenerkrankungen und zwei sind durch die Infektion, die sie sich auf der Kreuzfahrt zugezogen haben, gestorben.

Ebenfalls nicht zu unterschätzen sind die Masern. Erst Ende Februar gab es einen Ausbruch auf einer italienischen Kreuzfahrtschiff-Linie, wo insgesamt 76 Erkrankte vorzeitig an Land geschickt werden mussten. Die Indexperson arbeitete im Service und hatte vor ihrer Isolierung reichlich Kontakt mit Passagieren. „Es lohnt sich zu schauen, ob die Masernimpfung vorliegt“, appelliert der Arzt. Probleme bereiten auch die Windpocken, wo die für alle „offensichtlich“ Erkrankten isoliert werden müssen, bis die Sache ausgestanden ist.

Kein Schiff ohne Noro-Virus

Zwar nicht massenhaft auftretend, aber relevant für die Reisenden ist die Legionellose. Sie betreffe primär ältere Reisende, sagt Prof. Jelinek, wobei Studien zeigten, dass das höchste Risiko die Whirlpools auf den Schiffen sind. „Für die Beratung ist das schwierig“, meint der Reisemediziner, wer wolle schon eine „Spaßbremse“ sein. Aber auch Krankheiten, die man auf Kreuzfahrtschiffen nicht erwarten würde, führen gelegentlich zu Ärger. So musste ein Kreuzfahrtschiff vor der Küste mehr als zwei Wochen isoliert werden – wegen Hepatitis E.

Die häufigste Infektion auf Kreuzfahrtschiffen ist laut dem Infektiologen aber der Noro-Virus. „Es gibt heute kein einziges Kreuzfahrtschiff, das im Moment frei wäre vom ‚Vomiting Bug‘, wie die Kreuzfahrtindustrie sagt“, erzählt Prof. Jelinek, was auch eine „Riesenkostenfrage“ sei. Mitunter sind mehr als 80 Prozent der Passagiere betroffen. Der Noro-Virus sei auch nicht durch den alten Leitsatz der Tropenmediziner „Koch es, schäl es oder vergiss es“ zu beherrschen, weil der Erreger gar nicht im Essen sein müsse, sondern auf Oberflächen, Türklinken, an der Hand des Kochs oder Kapitänssitze.

Beratung: Individuelles Paket schnüren

Anhand der Risikoanalyse – einerseits der Reisenden, andererseits der vorliegenden Infrastruktur – sollte bei der reisemedizinischen Beratung ein individuelles Paket angeboten werden:

  • Reiseimpfungen je nach Route und Landgängen
  • Grundimpfungen kontrollieren und auffrischen, v.a. Masern
  • Influenza-Impfung
  • Hepatitis A
  • bei entsprechender Gefährdung: Impfung gegen Pneumokokken, Zoster, Gelbfieber (oft reisetechnisch), Meningokokken (bei Jugendlichen), Hepatitis B („verhaltensabhängig“)

Zu den Impfungen betont Prof. Jelinek: „Die Influenza-Impfung ist vielleicht bei Kreuzfahrern die wichtigste Impfung, die wir haben, wenn man sich die Fallzahlen anschaut.“ Für die Reiseapotheke empfiehlt der Arzt nur die eigene Dauermedikation, Mittel gegen Durchfall und die Seekrankheit sowie eventuell eine Thromboseprophylaxe für den Flug. Denn in der Regel gebe es eine gut ausgestattete Schiffsapotheke. Eine Malariaprophylaxe sei ebenfalls nicht unbedingt notwendig, auch nicht für die Küste Westafrikas, da die Leute an Bord schlafen würden und die nachtaktive Anophelesmücke üblicherweise nicht ein vor Anker liegendes Schiff anfliege.

„Ganz entscheidend ist aber der Mückenschutz bei Landgängen“, weist der Experte auf die Ausbreitung von Dengue und Chikungunya hin, auch der Zika-Virus sei ein Thema. Zu guter Letzt rät der Reisemediziner noch, sich v.a. bei chronisch Kranken die medizinische Infrastruktur vor Ort anzuschauen. Viele Destinationen seien diesbezüglich heikel. „Allerdings hat der Kreuzfahrer hier den großen Vorteil, dass er seine Klinik dabeihat, bis hin zur Dialysestation“, so der Internist, „und damit die Infrastruktur vor Ort am Land sekundär ist.“ Auf großen Schiffskliniken könne man enorm viel machen, auch kleine OPs, und „häufig werden schwer erkrankte Kreuzfahrer sogar ausgeflogen“.

19. Linzer Reisemedizinische Tagung: Das große Krabbeln. Menschen auf Reisen; Linz, März 2014

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune