Recht: Leitlinien und der aktuelle Stand der Wissenschaft
Ärztliche Heilbehandlungen müssen dem medizinischen Standard zum Zeitpunkt ihrer Durchführung entsprechen. Der Bestimmung dieses Standes der medizinischen Wissenschaft kommt daher bei Haftungsprozessen große Bedeutung zu. In diesem Zusammenhang musste sich der deutsche Bundesgerichtshof (BGH) in einer Entscheidung aus dem Jahr 2014 mit der Frage beschäftigen, ob Leitlinien ärztlicher Fachgremien oder Verbände den medizinischen Standard widerspiegeln. Der Bundesgerichtshof hielt dazu grundsätzlich fest, dass Handlungsanweisungen in Leitlinien ärztlicher Fachgremien oder Verbände nicht unbesehen mit dem medizinischen Standard gleichgesetzt werden dürfen. Dies gelte in besonderem Maße für Leitlinien, die erst nach der zu beurteilenden medizinischen Behandlung veröffentlicht worden sind.
Leitlinien würden auch kein Sachverständigengutachten ersetzen. Zwar können sie im Einzelfall den medizinischen Standard für den Zeitpunkt ihres Erlasses zutreffend beschreiben; sie können aber auch Standards ärztlicher Behandlung fortentwickeln oder ihrerseits veralten. Entsprechendes gelte auch für Handlungsanweisungen in klinischen Leitfäden oder Lehrbüchern. Diese geben nicht stets einen bereits zuvor bestehenden medizinischen Standard wieder. Fasst man die nachvollziehbaren Bedenken des Bundesgerichtshofs zusammen, so sind Leitlinien, die deutlich vor oder deutlich nach der zu beurteilenden Heilbehandlung erlassen werden, kein sicherer Beleg für den Stand der medizinischen Wissenschaft. Leitlinien, die zeitnah zu der zu beurteilenden Heilbehandlung geschaffen werden, sind hingegen aussagekräftiger. Es ist aber auch in diesen Fällen zu untersuchen, ob die Leitlinie dazu gedient hat, den medizinischen Standard festzuschreiben, oder darauf gerichtet war, diesen fortzuentwickeln.