Suizidalität in der Arztpraxis
Sätze wie „Ich mache mir Sorgen um Sie“ können im ärztlichen Gespräch als Eisbrecher wirken und Patientinnen und Patienten unterstützen, mögliche Suizidgedanken anzusprechen. Entgegen der weit verbreiteten Meinung ist die Frage nach Suizidalität keineswegs ein Risiko, sondern ganz im Gegenteil: Sie verschafft den meisten Erleichterung und ebnet den Weg in die fachgerechte Beratung und Behandlung.
Vielleicht haben Sie es schon erlebt: Ihnen gegenüber sitzt ein Patient oder eine Patientin mit körperlichen Beschwerden ohne klare Ursache, er oder sie wirkt bedrückt oder unruhig. Kurz: Sie haben einfach ein „ungutes Gefühl“, was die psychische Situation angeht. Ein Vorteil ist es natürlich, wenn Sie Ihre Klientel schon länger kennen, auch über das psychosoziale Umfeld ein wenig Bescheid wissen oder Ihnen zu Ohren gekommen ist, dass Ihr Gegenüber gerade eine Lebenskrise durchmacht. Hausärztinnen und Hausärzte, vor allem solche im ländlichen Bereich, haben da womöglich einen Vorteil, aber auch als Fachärztin oder Facharzt können Sie durchaus während der Untersuchung etwa Fragen nach der aktuellen Lebenssituation stellen.
Nicht jeder, der einen Schicksalsschlag erlebt, wird suizidal, aber es ist auch nicht falsch, nach Suizidalität zu fragen: In den meisten Fällen bedeutet es eine Erleichterung, darüber zu sprechen, denn Menschen in suizidalen Krisen fechten sprichwörtlich einen inneren Kampf aus. Manche sagen etwa, sie möchten ja gar nicht sterben, aber die Situation, „so wie sie jetzt ist“, sei einfach zu belastend, sodass sie schon die Möglichkeit des Suizids in Betracht gezogen hätten.
Denken Sie auch stets daran, dass eine Depression die häufigste Grunderkrankung ist, die mit Suizidalität einhergeht. Klagen Patientinnen und Patienten etwa über Schlafstörungen, dann fragen Sie nach weiteren Symptomen der „Losigkeit“ und auch danach, warum jemand so schlecht schläft: Vielleicht weil ihn oder sie bestimmte Gedanken quälen?
Psychosoziale und fachärztliche Hilfe
Mit dem An- und Aussprechen haben Sie dann gewissermaßen den Schlüssel zur weiteren Beratung in der Hand: Unterstützen Sie, wenn nötig, Patientinnen und Patienten darin, sich an das Kriseninterventionszentrum oder andere psychosoziale Einrichtungen zu wenden. Rufen Sie womöglich gemeinsam dort an oder fragen Sie, ob Sie Angehörige miteinbeziehen können, die den suizidalen Menschen begleiten.
Das Angebot des Kriseninterventionszentrums steht Ihnen als Ärztin oder Arzt übrigens auch zur Verfügung, etwa bei Fragen zum Umgang mit suizidalen Patientinnen und Patienten oder bei Schuldgefühlen, falls es doch zu einem Suizid unter Ihren Patientinnen und Patienten gekommen ist.
Personen, die sich an die „Krise“ wenden, bekommen gegebenenfalls nach dem telefonischen Erstkontakt innerhalb von 48 Stunden einen Beratungstermin (Werktage). Da geht es dann darum, die Situation zu klären, eine Beziehung aufbauen und nach einem individuellen Behandlungsplan psychotherapeutisch und bei Bedarf auch medikamentös zu behandeln.
Als Ärztin oder Arzt brauchen Sie jedenfalls ein gutes Grundwissen über die Entwicklung in suizidalen Krisen genauso wie die kommunikative Kompetenz, die es Ihnen auch ermöglicht, es auszuhalten, dass jemand über persönliches Leid spricht! Denken Sie stets an die Behandlungsmöglichkeiten der Depression und vernetzen Sie sich mit psychosozialen Einrichtungen in Ihrem Umfeld. Als besonders wirksam erweist sich der „Papageno-Effekt“ in der Suizidprävention: Wenn Menschen über eigene bewältigte suizidale Krisen sprechen, kann dies Suizidgedanken bei anderen verringern.*
Unsere Gastautorin Mag. Birgit Kittel ist Klinische und Gesundheitspsychologin sowie Psychotherapeutin (Existenzanalyse). Im multiprofessionellen Team des Kriseninterventionszentrum Wien berät und begleitet sie Menschen in akuten Lebenskrisen. Neben der persönlichen Beratung bietet das Team des Kriseninterventionszentrums auch telefonische oder E-Mail-Beratung und vermittelt gegebenenfalls an weiterbetreuende Einrichtungen. Ebenso werden gezielt Fortbildungen für Ärztinnen und Ärzte zum Thema Suizidalität in der Praxis durchgeführt.
Das Angebot der Krisenintervention richtet sich an Personen ab 18 Jahren, für Hilfesuchende gibt es auf der Website www.kriseninterventionszentrum.at zudem eine Auflistung von Anlaufstellen in ganz Österreich. Die Telefonseelsorge unter Tel. 142 sowie psychiatrische Krankenhäuser sind rund um die Uhr bei Suizidalität erreichbar; bei akuter Selbstgefährdung unbedingt Rettung bzw. Polizei unter der Notrufnummer 144 oder 133 verständigen!
Die häufigsten Suizide passieren jahreszeitlich gesehen nicht in der „dunklen“ Jahreszeit oder rund um den Jahreswechsel, sondern im Frühjahr. Eine Erklärung der Expertinnen und Experten: Gerade dann, wenn alle mit dem Frühling „aufleben“, wird die eigene Situation mitunter als besonders drückend empfunden. Trauriger Spitzenreiter bei der Suizidzahl pro Einwohner sind übrigens die Bundesländer Steiermark und Kärnten, die niedrigsten Suizidraten haben Wien und das Burgenland.
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* Till et al. doi:10.4088/JCP.17m11975