19. Juni 2024Niedergelassenen Bereich stärken

Gesundheitsreform: ÖÄK sieht viele Baustellen

Ein österreichweit vereinheitlichter Leistungskatalog, der nicht umgesetzt wird, Ideen zur Attraktivierung des Kassensystems, die ignoriert werden, Forderungen zum Ausbau der kostenlosen Impfprogramme, die verhallen – die Österreichische Ärztekammer (ÖÄK) legt in einer Pressekonferenz dar, was der niedergelassene Bereich aus ihrer Sicht dringend braucht und wo die Probleme derzeit liegen.

Stethoskop und die Arme einer Ärzin
lenets tan/AdobeStock

Als „Kardinalfehler“ der österreichischen Gesundheitspolitik bezeichnete OMR Dr. Johannes Steinhart, Präsident der Österreichischen Ärztekammer (ÖÄK), die Einführung der Kostendämpfungspfade. „In Wirklichkeit ist das eine Einsparung. Der Bedarf für eine Kostensteigerung ist mit 6% nämlich weit höher als die 3,2%, die festgelegt wurden. Eine Zeit lang hat das funktioniert, weil wir Raubbau an den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Gesundheitssystem betrieben haben. Aber jetzt stehen wir da, wovor wir seit Jahren warnten: Wir sind unterfinanziert und die Leute sind ausgebrannt!“, beklagt der ÖÄK-Präsident.

Müßige Diskussion um Wahlarztordinationen

Da helfe es auch nicht, jetzt Wahlärztinnen und Wahlärzten die Schuld für die eigenen Versäumnisse zuzuschieben, sind sich die Anwesenden einig. „Wahlärztinnen und Wahlärzte kompensieren die Lücken, für die die Kasse verantwortlich ist“, so Steinhart. „Ich glaube, Stadtrat Hacker ist bemüht, an einem konstruktiven Gesundheitssystem zu arbeiten. Aber da ist er hier falsch unterwegs, denn nur 1% der Ärztinnen und Ärzte im WIGEV haben 10-Stunden-Verträge!“, betont der ÖÄK-Präsident (Anm. d. Red.: Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ) forderte Mitte Juni, dass eine Anstellung für 10 Stunden im öffentlichen Spital und das gleichzeitige Führen einer Privatordination verboten werden sollen.) In absoluten Zahlen seien das 44 Ärztinnen und Ärzte in Wien.

„Mich nervt das, dass wir über eine so kleine Ärztinnen- und Ärztegruppe diskutieren, es gleichzeitig aber Menschen gibt, die keine Kinderärzte für ihre Kinder finden oder sich nicht einmal die Rezeptgebühr leisten können“, zeigt sich Dr. Naghme Kamaleyan-Schmied, Stv. Obfrau der Bundeskurie niedergelassene Ärzte der ÖÄK, empört. Noch dazu komme, so Kamaleyan-Schmied, dass viele dieser nur mit 10 Stunden in Spitälern angestellten Ärztinnen und Ärzte in Spezialambulanzen arbeiten würden und dort auch dringend für die Patientinnen und Patienten in dieser Form gebraucht würden.

Prof. Dr. Dietmar Bayer, Stv. Obmann der Bundeskurie niedergelassene Ärzte der ÖÄK, befürchtet, dass Ärztinnen und Ärzte, die sich zwischen einer Anstellung in einem Krankenhaus und einer Wahlarztordination entscheiden müssen, zweitere Option vorziehen werden. „Ich glaube, man sollte eher daran arbeiten, dass Kassensystem zu attraktiveren. Aber solange es Degressionen und Limitationen gibt, wird es nicht genug Ärztinnen und Ärzte geben, die in das System einsteigen wollen“, mahnt Bayer.

Attraktivierung der Kassenstellen durch einheitlichen Leistungskatalog

Wie eine Attraktivierung des Kassensystems gelingen könnte, können die Anwesenden auch darlegen. OMR Dr. Edgar Wutscher, Vizepräsident der ÖÄK, Obmann der Bundeskurie niedergelassene Ärzte, betont einmal mehr die Notwendigkeit eines österreichweit einheitlichen Leistungskataloges. Ein Entwurf der ÖÄK wurde bisher von der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) nicht umgesetzt. Aber die Sozialversicherung der Selbstständigen (SVS) könne als Vorbild genannt werden: „Die SVS hat nicht nur die Honorare und Leistungen bundesweit angepasst, sondern mit dem Junior Check und dem Vorsorge-Hunderter wurde auch in der Vorsorgemedizin ein Quantenschritt gemacht!“

Wutscher fordert auch einen Starbonus für alle offenen Kassenstellen für alle medizinischen Fächer statt der „Nehammer-Stellen“, die am Papier gut geklungen hätten, in der Praxis aber für viele Fragezeichen sorgen würden. „Das ist aber auch kein Garant dafür, dass offene Stellen besetzt werden. Es braucht ein Bündel von Maßnahmen, ganz vorne mit dabei: der Ausbau der ärztlichen Hausapotheken, der 400 neue Kassenärztinnen und -ärzte bringen könnte, wie eine Studie zeigte“, so Wutscher.

„Armutszeugnis für Österreich“

Kamaleyan-Schmied sieht auch in der Entbürokratisierung der täglichen Arbeit in der Ordination, der unlimitierten Honorierung der Zuwendungsmedizin und der Anpassung des Praxisalltags an die Lebensrealitäten der Menschen notwendige Schritte. Die im Zuge der Gesundheitsreform angekündigten Ausbaumaßnahmen im Impfprogramm begrüßt sie. Die kostenlose Influenza-Impfung und die Verlängerung der kostenlosen HPV-Impfung bis zum 30. Lebensjahr – wenn auch nur bis Ende 2025 – seien erste wichtige Schritte. Oberste Priorität misst sie aber den Impfungen gegen RSV und Pertussis zu: „Die kostenlose Immunisierung gegen das RS-Virus von Säuglingen ist in anderen Ländern bereits umgesetzt, nur Österreich schläft in der Pendeluhr. Die RSV-Impfung ist zu teuer, das können sich viele Menschen nicht leisten. Dass Österreich hier auf Kosten der Schwächsten, nämlich der Babys, spart, ist ein Armutszeugnis!“, ärgert sich die Allgemeinmedizinerin. Auch die Impfungen gegen Herpes zoster und Pneumokokken für ältere Risikopatientinnen und -patienten müssten dringend in die Gratis-Impfprogramm aufgenommen werden – ebenso wie sämtliche Testungen in Ordinationen als Kassenleistungen verfügbar sein müssten, so Kamaleyan-Schmied.

„Selbstverständlich wäre es auch eine große Hilfe, wenn das Dispensierrecht für alle Ärztinnen und Ärzte endlich kommen würde“, betont sie. Dass sie Eltern, die abends noch mit kranken Kindern in ihre Ordination kommen, nicht sofort mit notwendigen Medikamenten versorgen könne, sondern teilweise auf einen „Marathon“ quer durch die Nachtapotheken schicken müsse, die aufgrund der Lieferengpässe teils die notwenigen Präparate nicht lagernd hätten, sei für sie unverständlich.

Zusammenfassend fordert die ÖÄK folgende Maßnahmen zur Förderung der Kassenmedizin: 

  • Umsetzung des einheitlichen Leistungskatalogs durch ausreichende finanzielle Dotierung der Sozialversicherung 
  • Moderne kassenärztliche Leistungen, an die aktuellen Möglichkeiten in der Niederlassung angepasst, keine Limitierungen und Degressionen 
  • Startbonus von 100.000 Euro für alle offenen Kassenstellen und alle medizinischen Fächer 
  • Investitionen in die nationale Gesundheitstelematik-Infrastruktur (GTI) in Form einer „e-Health-Milliarde“. 
  • Verbesserungen bei ELGA: Patient Summary mit allen haftungs- und handlungsrelevanten Gesundheitsdaten in übersichtlicher Form auf Knopfdruck.  
  • Weiterentwicklung des Impfprogrammes: Grundsätzlich muss jede Impfung, die im österreichischen Impfplan empfohlen wird, kostenfrei zugänglich sein. 
  • Recht auf Medikamentenabgabe für alle Ärztinnen und Ärzte im Sinne des besten Patientenservice sowie Schutz der ärztlichen Hausapotheken