6. März 2018

Ärztekammer öffnete Büchse der Pandora

Drei Nobelpreisträger diskutierten auf Einladung der Wiener Ärztekammer über Moral in der Wissenschaft – und erklärten sich für weitgehend unzuständig. (Medical Tribune 08/18)

„Wie weit darf Wissenschaft gehen?“ Um eine Antwort auf diese Frage zu erhalten, versammelte die Wiener Ärztekammer nicht weniger als drei Nobelpreisträger im Haus der Industrie: den Biochemiker und Molekularbiologen Tim Hunt (Nobelpreisträger für Physiologie oder Medizin, 2001, für die Entdeckungen betreffend die Kontrolle des Zellzyklus), den Physiker Jerome Isaac Friedman (Nobelpreis für Physik, 1990, für die experimentelle Bestätigung des Quarkmodells) und den Physiker Dan Shechtman (Nobelpreis für Chemie, 2011, für die Entdeckung der Quasikristalle). Die ernüchternd pragmatische Antwort: „Eine Grenze für die Wissenschaft lässt sich nicht festlegen, weil es keine Weltbehörde gibt, die sie vollstrecken könnte“, argumentierte Shechtman (Israel).

„Alles, was gemacht werden kann, wird gemacht werden. Wenn wir es nicht tun, dann China.“ Die Verantwortung für die Art der Nutzung von Erkenntnissen trage nicht die Wissenschaft, sondern die Gesellschaft, gab auch Friedman (USA) den Ethik-Schwarzen-Peter weiter, befürwortete aber Maßnahmen wie etwa den Atomwaffensperrvertrag, um destruktive Entwicklungen wenigstens zu „verlangsamen“. Bei der von FM4-Moderator Steve Chaid moderierten Diskussion wurde nicht nur eine auf dem Podium befindliche „Büchse der Pandora“ geöffnet (aus ihr wurden die erörterten „Übel“ hervorgeholt), sondern auch die Gretchenfrage gestellt. „In der Natur gibt es keinen Hinweis auf eine spontane Schöpfung“, verneinte Hunt (GB) die Idee eines Schöpfers. Ob es eine Moral ohne Gott geben könne? Friedman empfahl die „Goldene Regel“ („Behandle andere so, wie du behandelt werden willst“).

Als die Gentechnik aus „Pandoras Büchse“ hervorgeholt wurde, verriet Hunt, dass er kein moralisches Problem hätte, verstorbene Angehörige zu klonen: „Ich habe in der Schule Klone gekannt“, verwies er auf eineiige Zwillinge. Friedman befürwortete die Korrektur genetischer Defekte, äußerte aber Sorge vor den gesellschaftlichen Konsequenzen einer Erschaffung von „Superbabys“. Weniger Bedenken hat er gegenüber Gentechnik in der Landwirtschaft: „Wenn man Hybride herstellt, vermischt man viel mehr Gene.“ Was, wenn aus kommerziellen Gründen wichtige Arzneimittel nicht entwickelt werden, wie im Bereich der Antibiotika oder in der Pädiatrie?

Friedman sieht hier den Staat in der Pflicht, Shechtman stellte eine Gegenfrage: Wenn man mit dem gleichen Betrag zehn Kinder mit einer seltenen Krankheit durch Forschung heilen oder viele Tausend Kinder in Armut durch existierende Medikamente retten könnte – was sei dann zu tun? Eine klare Moral bekam das Publikum dann doch mit auf den Weg: „Angesichts der Zahl der Spermien beim Zeugungsakt und der Zahl der Vorfahren, die für Ihre Entstehung nötig waren, war Ihre Chance, geboren zu werden, nahezu null“, gab Shechtman zu bedenken. „Und doch sind Sie hier!“ Das Leben sei ein unglaubliches Geschenk: „Gehen Sie weise damit um! Denn das Geschenk hat ein Ablaufdatum.“

Von: Petra Vock

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune