25. Nov. 2017

Dr. Stelzl: Ein Plädoyer für Bewegung

Kinderärzte schlagen Alarm: Unsere Kids werden immer dicker. Ein guter Teil ist übergewichtig, ein nicht unbedeutender Teil sogar adipös. Was mach ma, damit das nicht so weitergeht? Damit wir nicht schon die Fünfzehnjährigen mit Metformin behandeln müssen und bei Fünfundzwanzigjährigen die ersten Koronar- und Carotisstenosen finden? Es ist nicht einfach. Und Patentlösungen gibt es schon gar keine. Die Kompetenzen der Kinderärzte und Hausärzte steigen, ihnen Zeit und Geld zu geben für Lifestyle-Beratungen wäre ein Ansatz. Da das aber wahrscheinlich nicht passieren wird, müssen andere Lösungen her.

Diätassistentinnen und Ernährungsberaterinnen auf Krankenkasse wären für mich ein Muss. Denn speziell fürs Essen ausgebildete Menschen finde ich noch besser, als wenn wir Ärzte Ernährungsberatung machen. Abgesehen von der Zeit, die wir nicht haben. Aber beim Essen geht es sehr persönlich zu. Es gibt Vorlieben, Abneigungen, Tagesabläufe und familiäre Situationen, die berücksichtigt werden müssen. Und Kochrezepte gehören immer auf die einzelne Familie maßgeschneidert, sonst sind sie wertlos. Und obwohl ich schon lange und gelegentlich auch sehr gut kochen kann, halte ich mich da nicht für wirklich kompetent. Und wage einmal zu behaupten, dass es die meisten vor allem der männlichen Kollegen auch nicht sind.

K wie Komfortzone

Für den Großteil der Leute sind Fette, Proteine und Carbs abstrakte Begriffe, die man in konkrete Speisen verwandeln muss, um sie alltagstauglich zu machen. Also bitte, ihr da oben, die ihr unser Leben und unsere Gesundheitsvorsorge plant: Macht ordentlich Geld locker für Spezialisten und Spezialistinnen, was das Essen anbelangt. Auf Dauer kommt das billiger, als massenweise Dreißigjährige mit Bypass zu versorgen oder bei Zwanzigjährigen eine neue Hüfte reinzuklopfen, weil sie sich vor lauter patschert die eigene zerbröselt haben. Und da sind wir schon beim zweiten Problem: Bewegung. Unser Leben heutzutage ist ja wirklich nicht bewegungsfreundlich. Mit einem Mausklick oder mit einem Wischer über den Touchscreen kommt die ganze Welt zu uns nach Hause. Früher musste man sich wenigstens noch in die Videothek bewegen, wenn man danach einen faulen Nachmittag mit ein paar Filmen verbringen wollte.

Heute ist nicht mal mehr das nötig. Einfach sitzenbleiben und streamen. Mit Freunden kann man chatten, dann muss man sich nicht aufs Fahrrad schwingen, um sie daheim zu besuchen, und Computerspiele sind wesentlich aufregender, als nur mit Freunden und Geschwistern im Wald Indianer zu spielen. Die einzigen heutzutage noch nötigen Muskeln sind die Gluteii, denn darauf muss man sitzen, und der Extensor indicis, denn irgendwas muss das Smartphone ja bedienen. Und natürlich die Kaumuskeln. Wir brauchen mehr Bewegung für unsere Kinder! Und als Antwort darauf werden Turnstunden gekürzt. Und vor lauter Angst, dass irgendetwas passieren könnte, wird auch in der Pause nicht mehr herumgetollt und am Schulhof ist das Laufen verboten. Alle werden supersicher in eine Glasglocke verpackt. Denn wir haben fürchterliche Angst, dass etwas passieren könnte. Wir haben schreckliche Angst, das sich unser Liebling das Knie aufschlägt oder den Radius bricht. Natürlich möchten wir alles tun, um ihn oder sie davor zu bewahren. Und nehmen dafür das in Kauf, was eigentlich zu fürchten wäre: einen unbeweglichen, verletzungsanfälligen Menschen mit möglichen psychischen Problemen und einer ganzen Reihe Stoffwechselerkrankungen mit grauslichen Endpunkten.

Sind die Knie und der Radius das wirklich wert? Als ich neun war, spielten wir in der Jungschargruppe „Der Kaiser schickt Soldaten aus“, ein Spiel, wo man einen Kreis von Menschen durchbrechen muss. Unglücklicherweise wollte ich dies genau über einem Schlammloch tun und platsch. Irgendwie tat mir der Oberarm danach sehr weh und die Jungscharführerin schickte mich heim. Ich nahm das Fahrrad und fuhr nach Hause. Stunden später fiel meinem Großvater meine grüne Gesichtsfarbe auf und dass ich den rechten Arm nicht heben konnte. Also wieder mal ab auf die Kinderchirurgie und Ruhigstellung für den Bruch. Mein Vater wäre nicht auf die Idee gekommen, die Jungscharführerin zu klagen. Ein paar Jahre später balgten sich mein Bruder und sein bester Kumpel in der Pause der Handarbeitsklasse. B. zog meinem Bruder mit dem Sackerl eine drüber. Leider war da nicht nur Wolle, sondern auch die Schere drin. Die Rettung transportierte den blutüberströmten Bruder ab. Die Narbe an der Stirn macht sich gut neben der, die er durchs Rodelfahren an einen Heustadel erworben hat. Und neben dem Einschussloch vom Indianerpfeil. (Aber da waren wir noch kleiner.)

Zwei Wochen später beim Baseballspielen stand mein Bruder leider ungünstig in der Schwungbahn des Schlägers, als B. zum Schlag ausholte. Und wieder führte ihn die Rettung weg. Meine Mutter wäre nicht im Traum darauf gekommen, die Schule zu klagen. Zu uns kam auch nicht die Fürsorge, weil wir ständig irgendwelche Verletzungen hatten. Wir waren halt wilde Kinder und haben uns viel bewegt und unsere Grenzen ausgetestet. Jetzt bin ich „Fünfter Dan“ im Karate und mit Ende vierzig beweglicher als die meisten Zwanzigjährigen. Und mein Bruder macht neben seinem seriösen Beruf auf Bergführer und Waldschrat. Und wir sind heilfroh, dass wir nicht ständig überbehütet und bedüddelt worden sind. Nur die Jodtinktur auf die aufgeschlagenen Knie, die verzeihen wir unserer Mama nicht so leicht.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune