„Wir wollen Ärzte keineswegs ersetzen“
John Crawford ist Healthcare Industry Leader von IBM Europa. Mit der Medical Tribune sprach er über Big Data und die Chancen, die neue Technologien für das Gesundheitssystem bereit halten.
MT: Die Cognitive-Computing-Plattform Watson erregt viel Aufsehen. Müssen Ärzte um ihren Job fürchten?
John Crawford: Wir wollen Ärzte keineswegs ersetzen, sondern ihnen bessere Werkzeuge in die Hand geben und sie unterstützen, Entscheidungen zu treffen. Neue Technologien eröffnen immense Chancen, können Fachpersonal entlasten, sodass es wieder mehr Zeit für die menschliche Interaktion hat. In der Medizin gibt es jedes Monat 50.000 neue wissenschaftliche Publikationen – das kann kein Mensch lesen.
IBM konzentriert sich voll auf Watson: Wie ist der aktuelle Stand?
Wir haben Zukäufe getätigt, um Watson weiter zu entwickeln. Etwa Merge Healthcare, ein Unternehmen, das medizinische Bilddaten bereitstellt. Watson kann die Bilder überprüfen, mit der Krankenakte vergleichen und danach suchen, ob etwas übersehen wurde. Generell haben wir für Watson for Oncology derzeit in den USA zwölf Spitäler als Entwicklungspartner, weltweit sind es über 50.
Auch in Europa?
Hier gab es Pilotprojekte in Schottland und Dänemark. Und mit den Regierungen in Finnland und Italien haben wir Verträge abgeschlossen. In Europa ist es insofern etwas schwieriger, als es hier viele verschiedene nationale Guidelines gibt und sehr viele Experten. Folgerichtig gibt es auch unterschiedliche Meinungen über die jeweils beste Therapie. In Entwicklungsländern ist das anders. Ein Land wie Indien freut sich sehr, wenn es ein trainiertes amerikanisches System übernehmen kann.
Verstehen sie Ängste in Zusammenhang mit Big Data?
Ja natürlich, aber das Positive überwiegt! Wir brauchen strukturierte Daten für Verbesserungen, können die medizinische Versorgung besser, effizienter und gleichzeitig günstiger machen. Medizinische Daten sind ein nationales Asset – man muss es mobilisieren! Das kann ganze Volkswirtschaften verändern. Neue Technologien eröffnen uns historische Chancen. Die Öffentlichkeit muss aber Vertrauen in das System haben. Wer soll die Daten managen? Manche meinen, eine unabhängige Agentur.
Können Sie die Möglichkeiten anhand eines Beispiels aufzeigen?
In Schottland hat die Regierung die Daten von einem Jahr untersucht und festgestellt, dass zwei Millionen Menschen Healthcare fast gar nicht in Anspruch nahmen und nur 100.000, zwei Prozent der Bevölkerung, für die Hälfte aller abgebildeten Gesundheitsausgaben verantwortlich zeichneten. Zum Teil, weil sie alt und krank waren, ein Teil aber auch, weil er ständig ins Spital ging. Strukturierte Daten ermöglichen Einblicke, man kann gezielt ansetzen und die Effizienz verbessern.
Kritiker sagen, dass Watson zu gehypt ist und von IBM zu aggressiv vermarktet wird. So würden falsche Erwartungen geschürt – wenn etwa Krebspatienten glauben, sie können geheilt werden. Was sagen Sie dazu?
Wenn das passiert, ist es natürlich unerfreulich. Watson kann keine Wunder wirken, aber es ist eine Revolution: Watson empfiehlt bereits in bis zu 96 Prozent der Fälle dieselbe Therapie wie Experten in den Tumorboards und verkürzt die Recherchearbeit nach klinischen Studien um 78 Prozent. Das Programm unterstützt Experten bei der Erkennung von zwölf Krebsarten, die 80 Prozent aller Krebserkrankungen weltweit ausmachen. Ich bin seit 36 Jahren bei IBM, habe die PC-Revolution miterlebt und die Internet-Revolution, und es war selten so aufregend wie jetzt!
Manche meinen, dass es mehr Research über Watson selbst braucht, andere, dass auch Konkurrenten die Technologie anbieten werden. Wer sind die Konkurrenten der Zukunft?
Es kann nie genug Research geben und andere werden immer aufholen! Ich denke, die großen Konkurrenten der Zukunft sind Firmen, die noch nicht einmal gegründet wurden. Aber IBM hat einen Vorsprung und ist gut positioniert.