„Primärversorgung ist keine Revolution“

DISKUSSION – 75 Primärversorgungseinheiten plant die Regierung bis 2021. Die einen sehen darin die Lösung vieler Probleme, die anderen eine Mogelpackung und Bedrohung des Hausarztes. Die Wahrheit liegt wohl in der Mitte. (Medical Tribune 40/17)

„Wir kriegen das hin!“ Dr. Alexander Biach strahlt hinsichtlich der Zielvorgabe, bis 2021 österreichweit 75 Primärversorgungseinheiten installiert zu haben, Zuversicht aus. Der Vorstandsvorsitzende des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger war einer der Teilnehmer einer Podiumsdiskussion zum Thema „Primärversorgt – aber wie?“ am 89. Gesundheitspolitischen Forum. Bis Ende 2020 sollen in die Primärversorgung 200 Millionen Euro investiert werden – zum Teil durch Umschichtungen, zum Teil aber auch frisches Geld aus den Bundesländern. Biach verspricht eine „Anschubs-Initiative“ für Gründer von Zentren. Dr. Thomas Szekeres, Präsident der Österreichischen Ärztekammer (ÖÄK), ist weniger euphorisch: „Kollegen reißen sich nicht darum. Das PHC in Donaustadt musste dreimal ausgeschrieben werden, ehe sich jemand gefunden hat.“ Es sei ein großer Schritt für Ärzte, sich zu einer Ordinationsgemeinschaft zusammenzuschließen, und gegebenenfalls schwierig, sich wieder zu verabschieden. „Da geht es dann um die berufliche Existenz, das kann schwieriger sein als eine private Scheidung.“

Skeptische Ärztekammer

Im Übrigen zeige das erfolgreich laufende PHC in der Mariahilfer Straße, dass es auch ohne Gesetz gehe. Auch andere Formen der ärztlichen Zusammenarbeit wie Gruppenpraxen gebe es längst. „Da sind die Kassen bis jetzt aber auf der Bremse gestanden“, kann sich Szekeres eine Spitze Richtung Hauptverband nicht verkneifen. Das PHC-Gesetz mache vieles komplizierter und müsse sich in der Praxis erst bewähren, „sonst haben wir noch mehr totes Recht“.

Zwei Phänomene

„Wenn das das größte Risiko ist, dann war es das wert“, kontert Biach. Es gehe um die Versorgung der Bevölkerung, darum, „unser an sich geschätztes, wenn auch nicht gerade billiges“ Gesundheitssystem weiterzuentwickeln. Und dafür brauche man PHCs. Dem stimmt Dr. Herwig Ostermann, der Geschäftsführer der Gesundheit Österreich GmbH, zu. „Wir beobachten heute zwei Phänomene: Zum einen eine Veränderung der Leistungserbringer, wo eine Pensionswelle bevorsteht und junge Ärzte einen neuen Zugang zur Beschäftigung haben. Andererseits verändern sich auch die Patienten, sie haben weniger Bindung zu einer Institution und flexiblere Ansprüche, was etwa Öffnungszeiten betrifft.“ „Patienten wollen bestmöglich versorgt werden, rund um die Uhr und ohne Wartezeiten“, sagte Biach. Die jungen Ärztinnen und Ärzte wiederum wollen häufig im Team arbeiten, gerne interdisziplinär.

„Sie wollen eine neue Form der Flexibilität, achten auf die Work-Life-Balance.“ All das könnten PHCs bieten. „Primärversorgung ist aber nicht nur PHC“, sagt Biach und betont, dass es noch andere Maßnahmen und Formen der ärztlichen Zusammenarbeit, etwa Facharztzentren, geben wird. Viel könne auch durch telefonische Beratung „abgefangen“ werden. Bedürfnisse seien vielfältig: „Manche wollen es nur digital, andere brauchen eine umfassende Betreuung.“ Natürlich wäre vieles auch ohne das Gesetz gegangen, aber dieses sei ein wichtiges symbolisches Zeichen des Aufbruchs. „Das Gesetz hilft Rahmenbedingungen zu präzisieren und schafft ein Stück mehr Rechtssicherheit“, ergänzt Ostermann. Der Ökonom warnt aber vor überzogener Erwartungshaltung: „Primärversorgung ist keine Revolution. Wenn wir von zehn Kontakten in Spitalsambulanzen auch nur einen reduzieren, haben wir schon guten Erfolg.“ Mit den geplanten 75 Einheiten könnte man zehn Prozent der Bevölkerung versorgen.

Rosinenpicken?

Ansonsten sei alles noch ein Lernprozess, wie auch Biach betont: „Wir müssen Erfahrungswerte sammeln und dann die besten Modelle forcieren.“ Das Verhalten der Ärztekammer rund um das PHC-Gesetz kann der Hauptverbandschef nicht nachvollziehen: „Zuerst hieß es, ,wir brauchen mehr Geld‘, dann, als Unternehmen investieren wollten, wurde die Gemeinnützigkeit reinreklamiert, und es hieß, der freie Arztberuf müsse erhalten bleiben. Das bedeutet dann aber auch kein neues Geld und dass Ärzte nicht angestellt werden können. Prompt wurde schließlich auch das kritisiert. Das hab ich nicht verstanden“, so Biach. „Anscheinend wollen Ärzte nur nicht bei internationalen Konzernen angestellt werden – aber man kann sich nicht nur die Rosinen herauspicken, wir brauchen faire Regeln.“ Szekeres erklärt: „Wir wollen eine Anstellung eins zu eins, dass ein Kassenarzt einen anderen Arzt anstellen kann, nicht hundert.“ Allein schon zur Urlaubsvertretung.

Die Wertschöpfung müsse in ärztlicher Hand bleiben. Sorgen bereitet ihm der drohende Ärztemangel in der Allgemeinmedizin. „Kaum jemand will mehr Allgemeinmediziner werden. Die Rahmenbedingungen sind schlecht und die Kollegen hören immer, dass sie unnötig sind.“ Hausärzte seien weiterhin wichtig, versichert Biach. Zu deren Stärkung bräuchte es ein Maßnahmenbündel, darunter flexiblere Arbeitsformen, aber auch monetäre Anreize – allen voran, um junge Ärzte in entlegenere Gegenden zu bringen. Vorstellbar seien zudem neue Abrechnungspositionen, die man von Fachärzten übernehmen könnte. „Das bringt dem Patienten nichts“, wendet Szekeres ein. Besser wäre es, Spitalsambulanzen zu entlasten, anstatt den einen etwas zu geben, was man anderen wegnimmt.

„Kampfansage an Hausärzte“

ÖÄK-Vizepräsident Dr. Herwig Lindner sieht das PHC-Gesetz als „Anschlag“ auf das hausärztliche System: „Das PHC in Mariazell funktioniert gut, aber umliegende Praktiker sind nicht mehr überlebensfähig.“ Das Gesundheitszentrum werde immer mächtiger, das Angebot größer. Zwei niedergelassene Kollegen hätten ihre Kassenverträge bereits zurückgelegt, woraus sich Probleme in der Nachtversorgung ergeben. Das geplante Gesundheitszentrum in Graz-Liebenau sei die nächste „Kampfansage“ an die niedergelassenen Ärzte vor Ort. Das Thema, so viel steht fest, wird die Branche also noch lange bewegen.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune