13. Sep. 2017

Kriegstraumatisierungen: „Menschen erleben eine Tortur“

Trauriger, ptsd und männlicher Soldat in Therapie wegen psychischer Gesundheit, Depression oder Trauer nach einem
Malik/peopleimages.com/AdobeStock

Bei der Jahrestagung der Organisation der Ärztinnen Österreichs spricht Psychologin Selma Loznica über psychopathologische Auffälligkeiten und protektive Faktoren. (Medical Tribune 36/2017)

MEDICAL TRIBUNE: Derzeit sind wir in Europa vor allem mit Kriegsflüchtlingen aus dem Nahen Osten und Afrika konfrontiert. Sie haben Ihre Untersuchung zu Kriegstraumatisierungen in Bosnien, an der Universität Sarajevo und in der Vereinigung der Frauen aus Srebrenica, durchgeführt. Dieser Krieg erscheint uns schon so lange her. Warum haben Betroffene trotzdem noch mit Problemen zu kämpfen?

Loznica: In jedem Krieg sind Menschen monate- bis jahrelang unglaublichen traumatischen Erfahrungen ausgesetzt. Sie erleben sowohl physische als auch psychische Tortur. In Bosnien-Herzegowina haben sich bei Betroffenen dann im Laufe der Zeit vielfältige Reaktionsformen gezeigt. Je mehr traumatische Erfahrungen sie gemacht haben und je höher der Traumatisierungsgrad war, desto größer die Wahrscheinlichkeit einer Psychopathologie – ich denke dabei an die Posttraumatische Belastungsstörung, Depressionen, Angstzustände/Panikattacken, soziale Dysfunktion, Zwangs- und Suchtverhalten, Suizidalität u.Ä.m. Die Bevölkerung kämpft auch zwei Jahrzehnte nach dem Krieg noch mit Problemen, weil die Trauerarbeit nach wie vor nicht abgeschlossen ist. Die Exhuminierung der Massengräber in Srebrenica ist etwa immer noch im Gange, Betroffene werden als Zeugen eingeladen, um Kriegsverbrechen aufzuklären usw. Somit werden sie immer wieder mit den traumatischen Ereignissen konfrontiert, die Gefahr einer Retraumatisierung ist sehr groß.

Sie erwähnten, dass es auf den Traumatisierungsgrad ankommt. Können Sie dazu Beispiele nennen?

Psychologin Selma Loznica untersucht Kriegstraumatisierungen.
Psychologin Selma Loznica untersucht Kriegstraumatisierungen.

Loznica: Menschen in Bosnien waren täglich Bomben- und Granatenangriffen ausgeliefert. Das Leben fand im Visier von Todesschützen statt. Ein Leben ohne Wasser, Heizung, Strom, Nahrungsmittel, Medikamente. Mehrere Jahre lang. Noch schlimmer als die Not der „normalen“ Population im Krieg erlebten Betroffene Gefangenschaft, Folter, Vergewaltigungen und Hinrichtungen. Ärzte, die mit Folteropfern konfrontiert werden, sollten verstehen, dass es sich dabei um Typ-II-Traumatisierungen handelt: wiederholte, länger andauernde und schwere Bedrohung und/oder Gewalt durch andere Menschen. Folter gilt als übelste Form absichtsvoller und planmäßiger Grenzverletzungen. Die Widerstandskraft der Opfer soll gebrochen werden, sei es durch Verletzungen, Erniedrigungen, Isolation oder die Verabreichung von Psychopharmaka und psychotropen Mitteln. Folter ist immer mit Unerwünschtheit, Unvorhersehbarkeit und Todesangst verbunden. Fast alle Menschen, die Folter oder das Massaker von Srebrenica überlebt haben, zeigten in unserer Untersuchung Symptome der Posttraumatischen Belastungsstörung.

Inwieweit sind auch Menschen, die im Bosnien-Krieg noch Kinder waren, betroffen?

Loznica: Ob die Kinder eine Psychopathologie entwickeln, hängt ebenfalls von der Nähe der traumatischen Erfahrungen ab, von ihrem kognitiven Entwicklungsstand und sehr wichtig auch: von der Reaktion der Eltern. Bei Kindern besteht zudem die Gefahr der sekundären Traumatisierung, dass also das Trauma von einer Generation in die nächste übertragen wird. Die Kinder zeigen dann die gleichen Symptome wie ihre Eltern. Bei der Therapie muss immer die Familie miteinbezogen werden.

Die Multidisziplinarität in der Therapie von Kriegstraumatisierungen ist besonders wichtig. Warum?

Loznica: Abgesehen von der Psychotherapie ist immer eine medizinische Abklärung Betroffener erforderlich. Viele leiden unter Somatisierungsstörungen. Oftmals ist die Verschreibung von Psychopharmaka notwendig. Ärzte von Patienten mit Kriegserfahrungen sollten bedenken, dass die Posttraumatische Belastungsstörung manchmal erst nach vielen Jahren erstmals auftritt und die Gefahr der Sekundärtraumatisierung groß ist. Sie sollten den Patienten dann eine Psychotherapie nahelegen. Diese erfolgt immer in mehreren Schritten. Erst wenn der Patient psychisch stabilisiert wurde, kann mit der Trauma-Behandlung begonnen werden.

Inwiefern sind kulturelle Aspekte zu berücksichtigen?

Loznica: Es können nicht Instrumente/Methoden der Psychologie so einfach auf diese Population der Kriegstraumatisierten übertragen werden. In Bosnien zeigte sich, dass die traumatischen Erlebnisse dieser Population die Kapazität ausländischer Programme sprengen. Die Menschen sind enttäuscht von ständigen Misserfolgen! Es braucht kulturadaptierte Methoden. An erster Stelle geht es darum, das Verhältnis zwischen Kultur und Trauma zu verstehen. Ein Beispiel: Ob sich eine Psychopathologie entwickelt oder nicht, könnte auch von protektiven und vulerabilisierenden Faktoren abhängen. Die Bindung zum Partner kann ein protektiver Faktor sein. Ich habe bei meinen Interviews jedoch erfahren müssen, dass – wenn die Männer umgebracht wurden – die Frauen nur positiv über sie reden. Das heißt, ich konnte nicht feststellen, ob die Bindung wirklich so gut war oder ob man kulturell bedingt nur nicht schlecht über tote Menschen redet.

Ist ein Vergleich mit den aktuellen Kriegsflüchtlingen möglich?

Loznica: Schon, aber sicher nur begrenzt, weil sie auch mit anderen traumatischen Ereignissen konfrontiert waren und sind, wie der Flucht. Sie müssen in einem fremden Land zurechtkommen, wissen nicht, was mit anderen Familienmitgliedern ist, und sind Diskriminierung und traumatischen Situationen oft noch in Österreich ausgesetzt.

Können auch Aggression und Vergewaltigungen in Zusammenhang mit den Traumatisierungen stehen?

Loznica: Aus Traumatisierungen kann auch Aggression entstehen, ja. Vor allem bei Jugendlichen. Mehrere Studien haben Mädchen und Burschen verglichen und festgestellt, dass die Jungen eher zu aggressivem Verhalten neigen als die Mädchen. Die Mädchen zeigen eher Somatisierungsstörungen, Angststörungen, Panikattacken.

Was kann man präventiv tun, wenn man glaubt, einen solchen Burschen in der Ordination zu haben?

Loznica: Die jungen Menschen brauchen psychosoziale und psychotherapeutische Unterstützung. Auch Medikamente helfen oftmals. Wichtig ist, dass Ärzte und Therapeuten individuell vorgehen und flexibel sind.

„Die Frau in der Medizin“ ist das Motto der diesjährigen Jahrestagung der Organisation der Ärztinnen Österreichs (siehe „Zur Person“ unten). Wird die Frau als Expertin im Gesundheitswesen Ihrer Erfahrung nach von Kriegstraumatisierten akzeptiert?

Loznica: In Bosnien wurden die Patienten auch von Ärztinnen und Psychotherapeutinnen, also von Frauen, behandelt, und es gab diesbezüglich keine Probleme. Vielleicht gibt es solche mit anderen Flüchtlingen, auch das ist kulturabhängig. In Srebrenica erlebte ich eher, dass Frauen generell die Hilfe ausländischer Therapeuten nicht annehmen wollten, weil Srebrenica UN-geschützte Zone war und es trotzdem zum Massaker kam. Sie nehmen Psychopharmaka ein, helfen sich ansonsten jedoch nur gegenseitig. Das muss man akzeptieren, auch wenn man Betroffene in Österreich als Patienten hat – man kann niemanden zur Therapie zwingen. Oftmals sagten die Frauen, sie wollen die traumatischen Ereignisse nicht verarbeiten und nicht vergessen. Vergessen wollen sie erst, wenn sie tot sind.

Zur Person
Mag. Selma Loznica ist Psychologin und Klinische Gesundheitspsychologin in Ausbildung. Sie lebt mit ihrer Familie in Wien und ist Vortragende bei der Jahrestagung der Organisation der Ärztinnen Österreichs am 14. Oktober 2017 im Parkhotel Schönbrunn: fremd und vertraut. Die Frau in der Medizin.
Infos: www.aerztinnenbund.at

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune