Gesundheitspolitik 2017 am Scheideweg
Das neue Jahr hat turbulent begonnen. Und es wird mit Sicherheit in dieser Tonart weitergehen. Zahlreiche Reformen und Pilotprojekte stehen an, sodass manch ein Akteur von einem gesundheitspolitischen Schlüsseljahr spricht. MT bat Entscheidungsträger aus verschiedenen Bereichen um einen Ausblick. (Medical Tribune 1-3/2017)
E-Medikation, TEWEB, Primärversorgungseinheiten – an Projekten mangelt es nicht. Allerdings auch nicht an Sorgen und Ängsten vor der Umsetzung von gesundheitspolitischen Reformvorhaben. Die Ärztekammer fordert mehr Gehör, die Gesundheitsministerin wünscht sich ein sachliches Gesprächsklima. Die Pharmaindustrie fiebert indes der Umsetzung der EU-Arzneimittel-Fälschungsrichtlinie entgegen.
Dr. Artur Wechselberger,
Ärztekammer-Präsident
Die Österreichische Ärztekammer blickt auf ein turbulentes Jahr 2016 zurück – und hat ein richtungsweisendes Jahr vor sich. Die Querelen rund um die geplante Gesundheitsreform gipfelten im Dezember in einem aufsehenerregenden Streik, im Zuge dessen Ordinationen von Hausärzten in drei Bundesländern, Wien, Kärnten und Burgenland, geschlossen blieben. Die Ärztekammer fühlte sich vom Entscheidungsprozess ausgeschlossen und fürchtet, dass geplante Primärversorgungseinheiten das System der wohnortnahen Versorgung durch Hausärzte aushebeln könnten. „Man will den Hausarzt weghaben“, sagte am Aktionstag Dr. Gert Wiegele, der stellvertretende Obmann der Bundeskurie Niedergelassene Ärzte. Inzwischen ist wieder Hoffnung aufgekeimt, dass 2017 das Schlimmste doch noch abgewendet werden kann.
„Die Frau Gesundheitsministerin hat uns Gespräche zugesichert“, zeigt sich der Präsident der Österreichischen Ärztekammer, Dr. Artur Wechselberger, durchaus zufrieden und hoffnungsvoll, dass eine sinnvolle Reform doch noch auf den Weg gebracht werden kann. Zuvor sei die Kammer aus Reformverhandlungen von Bund, Ländern und Sozialversicherung ausgegrenzt worden. Gleichwohl will Wechselberger weitere Protestmaßnahmen für den Fall der Fälle auch nicht ausschließen. Er spricht sich klar gegen ein zentralistisch gesteuertes Einheitsmodell für Primärversorgungseinheiten aus.
Insgesamt müssen die Rahmenbedingungen verbessert werden – das gelte im Übrigen auch für Spitalsärzte, wo immer mehr Uniabsolventen ins Ausland abwandern. Dabei gehe es nicht nur ums Geld. „Der Beruf, der Arbeitsplatz muss wieder attraktiver werden, bürokratische Schikanen gehören eliminiert. Und wir müssen 2017 auch die Ausbildungsreform weiter vorantreiben“, so der oberste Vertreter der Ärzteschaft. Im niedergelassenen Bereich wiederum müssen Anreize geschaffen werden, um Ärzte zu motivieren, Kassenstellen anzunehmen und nicht Wahlarzt zu werden. Eines sei klar: Österreich stehe vor wichtigen gesundheitspolitischen Weichenstellungen.
Dr. Sabine Oberhauser,
Gesundheitsministerin
Im Gesundheitsministerium hat man ein arbeitsreiches Jahr vor sich: „2017 wollen wir die rechtlichen Rahmenbedingungen schaffen, um die wohnortnahe Primärversorgung durch Vernetzung und Zusammenarbeit zu stärken“, sagt Gesundheitsministerin Dr. Sabine Oberhauser auf Anfrage der MT. Dabei gehe es um attraktive Rahmenbedingungen im Kassensystem und die nachhaltige Absicherung der wohnortnahen Gesundheitsversorgung.
„Wir haben ja mit dem Finanzausgleich die Finanzierung des Gesundheitswesens langfristig gesichert, damit auch in Zukunft die umfassende medizinische Versorgung gewährleistet ist.“ Auch wenn mancherorts Kritik laut wird – im Ministerium betont man, dass bei den Leistungen nicht gespart wird: Die Gesundheitsausgaben werden weiterhin jährlich steigen. Ministerin Oberhauser: „Wir wollen im laufenden Jahr auch eine telefonische Gesundheitsberatung in den Pilotbetrieb bringen. Denn oft weiß man nicht, an wen man sich mit einem akuten gesundheitlichen Problem wenden soll: zum Hausarzt oder zur Fachärztin, in die Ambulanz oder gleich die Rettung rufen?“
Das telefon- und webbasierte Erstkontakt- und Beratungsservice – kurz TEWEB – soll in Zukunft helfen, rasch Antworten zu bekommen. Anrufer erhalten Auskünfte darüber, wie dringend eine Behandlung ist, welche Einrichtungen zur Verfügung stehen und wann sie geöffnet haben. Das Pilotprojekt dazu startet im Frühjahr 2017 in Wien, Niederösterreich und Vorarlberg. Im Bereich eHealth wird insbesondere ELGA weiter ausgebaut. Getreu dem Motto: In einem modernen Gesundheitssystem läuft der Befund und nicht der Patient oder die Patientin. „Und wir sorgen für Datensicherheit, denn Ihre Daten gehören nur Ihnen“, verspricht die Ministerin.
Die Behandlungsqualität würde steigen – die Ärzte auf einen Blick Befunde sehen und welche Medikamente die Patienten nehmen. Des Weiteren würde die Wahrscheinlichkeit von Fehldiagnosen oder Wechselwirkungen sinken, während mehr Zeit für das ärztliche Gespräch bleibt. „Das sind die großen Bausteine aus einer Vielzahl von Vorhaben, die wir 2017 umsetzen wollen“, so Oberhauser: „Wenn wir das alles in einem konstruktiven und sachlichen Klima umsetzen können, dann haben wir am Ende des Jahres 2017 auch eine mehr als positive Bilanz für das österreichische Gesundheitswesen.“
Dr. Gerald Bachinger,
Patienten- und Pflegeanwaltschaft NÖ
Patientenvertreter sehen die geplanten gesundheitspolitischen Reformen insgesamt durchaus positiv. „Ich verstehe natürlich die wirtschaftlichen Ängste der Ärzte vor einer neuen Konkurrenzsituation. Die Argumente der Ärztekammer, dass Patienten darunter leiden werden und die Primärversorgungszentren von Großkonzernen oder gar internationalen Hedgefonds betrieben werden, kann ich jedoch nicht nachvollziehen“, meint Dr. Gerald Bachinger von der NÖ Patienten- und Pflegeanwaltschaft. Nachsatz: „Das ist doch absurd.“ Für Hedgefonds sei das System nicht attraktiv, sonst wären sie hier längst aktiv.
Stattdessen gebe es bereits zahlreiche Beispiele von größeren Gesundheitseinrichtungen wie Radiologie-Instituten oder Laboren, die von heimischen Ärzten betrieben werden. Bachinger mahnt in der gesamten Diskussion mehr Sachlichkeit ein. Es gehe letztendlich nur darum, was das Beste für die Patienten sei: „In manchen Regionen kann das eine Einzelordination sein, in anderen aber eben eine Primärversorgungseinheit. Endlich wird die bestmögliche Versorgung der Patienten in den Mittelpunkt gestellt und nicht die Bedürfnisse von Institutionen oder Gesundheitsdienstanbietern, die veraltete Strukturen am Leben erhalten wollen.“
Jetzt gelte es, die konkrete Umsetzung des beschlossenen Primärversorgungsmodelles auf Vertragspartnerebene zu gestalten. „Das gesamte Honorarsystem muss komplett neu gemacht werden.“ Die größte Gefahr sieht Bachinger darin, dass „wie auch in der Vergangenheit, die Blockierer und Bewahrer veralteter Strukturen die Reformen verwässern und totlaufen lassen“. Generell wird 2017 nach Meinung des Patientenanwalts ein „besonders spannendes Jahr“. Auf der Agenda stehen weitere Umsetzungsschritte von ELGA (E-Medikation, Patientenverfügung, elektronischer Impfpass etc.) – auch in diesem Zusammenhang ortete der Jurist im Vorfeld „irreale Ängste“ – sowie der Beginn von Pilotprojekten zur Gesundheitshotline TEWEB. Oberste Priorität habe die „Verhinderung des weiteren Einsickerns von Zwei-Klassen-Medizin im öffentlich solidarischen Gesundheitswesen“.
Bachinger denkt dabei etwa an die Wartezeitenproblematik und die Umgehung dieser durch private Zuzahlungen. Besonders am Herzen liegt ihm der Beginn einer offenen Diskussion zur Ressourcenallokation. „Neue hochpreisige Medikamente zur Behandlung von Krebserkrankungen oder auch Hepatitis C kommen auf den Markt – umso mehr brauchen wir klar definierte Kriterien für eine gerechte Verteilung bzw. Zuteilung. Das darf nicht wie bisher verdeckt und letztendlich unfair erfolgen.“ In Niederösterreich werde zu diesem Zweck im Februar eine Arbeitsgruppe starten.
Mag. Ulrike Rabmer-Koller,
Präsidentin des Hauptverbandes
Die Sozialversicherung stehe vor sehr wichtigen Weichenstellungen, berichtet Mag. Ulrike Rabmer-Koller, Vorstandsvorsitzende im Hauptverband (HV). 2016 war für sie die strukturell wichtigste Herausforderung die weitere Umsetzung der Gesundheitsreform, „deren Leuchtturmprojekte wir nach und nach mit Leben füllen“. Als Beispiele nennt sie die Realisierung der neuen Primärversorgung, die telefon- und webbasierte Erstinformation (s.a. BM Oberhauser), die E-Medikation und ELGA. Rabmer-Koller ist überzeugt, dass die Versicherten diese neuen Leistungen „direkt und positiv“ spüren und sich die Betreuungsqualität massiv verbessert: „Ich stehe deshalb hundertprozentig dazu und hoffe, dass wir 2017 auch die Ärztekammer überzeugen können.“ Vor allem von der E-Medikation, die für mehr Therapiesicherheit und Komfort sorgen werde.
Als sehr erfolgreich bezeichnet sie die Fortschritte in der Kinder- und Jugendgesundheit, einer ihrer Schwerpunkte, den sie auch 2017 weiterverfolgt. In einem „Mammut-Arbeitsprogramm“, auf das sie sehr stolz sei, konnte der HV bisher die lang erwartete Kinder-Rehabilition einführen, die Gratis-Zahnspange bei schweren Fehlstellungen umsetzen sowie bei der Hebammenberatung und bei den Frühen Hilfen wichtige Akzente setzen.
Was heuer neben der bereits ansprochenen E-Medikation noch zu erledigen ist: Es brauche endlich Klarheit über die künftige Struktur der Sozialversicherungslandschaft. „Diese Frage müssen wir ideologiefrei und ohne Eigeninteressen der einzelnen Player diskutieren“, bekräftigt Rabmer-Koller ihr bekanntes Motto, immer „zuerst Fakten auf den Tisch, dann entscheiden“, welches das effizienteste System sei. „Wir haben leider bisher schon viel zu viel Zeit verloren“, meint sie in Richtung Sozialminister Alois Stöger (SP). Zur Erinnerung: Dieser hatte die von SP-Bundeskanzler Christian Kern im Mai 2016 angekündigte Effizienzstudie mit dem Ziel, die derzeit 22 SV-Träger zu reduzieren, erst gegen Jahreswechsel beauftragt. Rabmer-Koller bedauert auch, dass der HV bei der Konzeption des Studienauftrags nicht eingebunden wurde.
Anzugehen sei auch die langfristige finanzielle Absicherung der Gesundheitsversorgung, „eine zentrale Verantwortung“ aller Finanziers. Die Primärversorgung könne durch die notwendige Leistungsverlagerung den Spitalsbereich entlasten, „hier braucht es ein breites Commitment und Taten“. Und: Der HV habe ungeachtet der Kassenstruktur-Diskussion einen „breiten“ Effizienzprozess gestartet. Ziel sei es, die Sozialversicherungen so aufzustellen, damit diese aus eigener Kraft positiv wirtschaften können.
Dr. Jan Oliver Huber,
Generalsekretär der Pharmig
Ein großes Thema für die Industrie ist die Umsetzung der EU-Arzneimittel-Fälschungsrichtlinie. „Jedes Medikament muss Anfang 2019 eine eigene Serialisierungsummer haben, die bei der Abgabe, also beim Apotheker oder im Krankenhaus, aus einer Datenbank ausgebucht werden muss“, erklärt Dr. Jan Oliver Huber, Generalsekretär des Verbands der pharmazeutischen Industrie Österreichs (Pharmig). Den Datenspeicher müsse die Industrie errichten und den laufenden Betrieb finanzieren. Schon letztes Jahr habe man erste Schritte gesetzt, „und auch dieses Jahr und darüber hinaus wird uns die Richtlinie noch sehr, sehr viel beschäftigen“.
Eine andere Herausforderung reicht ebenfalls ins Vorjahr zurück: Der hart ausverhandelte Rahmen-Pharmavertrag mit dem Hauptverband, der für die Jahre 2016 bis 2018 verlängert wurde. „Dieses Jahr zahlen wir 125 Mio. Euro an Solidarbeiträgen an die Krankenkassen.“ Das Wachstum der Arzneimittelausgaben in Österreich werde für die Kassen aber unter drei Prozent zu liegen kommen. „Wenn man annimmt, dass zirka 25 Mio. Euro einen Prozentpunkt darstellen, dann werden wir mit diesen 125 Mio. Euro so gut wie allein für den Gebarungsüberschuss der Kassen aufkommen“, rechnet Huber vor.
Bei der Gelegenheit weist der Pharmig-Chef gleich darauf hin, dass die Medikamente „kein wirklicher Kostentreiber“ seien, auch die Ärzte würden „sehr verantwortlich“ verschreiben: „Im Gesundheitssystem machen die Medikamente gerade einmal 12,2 Prozent der gesamten Gesundheitskosten aus.“ Er bedauere, dass in puncto Gesundheitsreform die Politik und damit verbunden auch die Kassen sich „in keiner besonders erfolgreichen Kommunikation“ befinden. „Die Ärzte laufen Sturm und streiken, die Gesprächsbasis wird hier vergiftet, man macht Mystery Shopping im niedergelassenen Bereich“, zählt Huber auf, „auf der anderen Seite ufern die Baukosten jetzt beim Krankenhaus Nord in Wien aus.“ Echte Reformen erforderten den Verlust von politischem Einfluss, ist er überzeugt, „dazu ist man bis dato nicht bereit. Es werden viele Institutionen beschäftigt, Daten und Papiere gewälzt und geschrieben, aber die Gesundheitsreform kommt bei den Patienten nicht an.“
Die Pharmig möchte 2017 auch verstärkt den Wert der medikamentösen Behandlungen in die Öffentlichkeit tragen. Zum Thema hochpreisige Medikamente, wie z.B. bei Hepatitis C, stellt Huber klar, dass die Kosten insgesamt nicht höher seien als bei der alten Therapie, das neue Medikament aber quasi zu 100 Prozent heilt. „Hier werden Ausgabenburgen aus Sand gebaut, die dann zerbröseln.“
Mag. Max Wellan,
Apothekerkammer-Präsident
Für den obersten Standesvertreter der Apotheker, Mag. Max Wellan, ist die „schwierigste Herausforderung“ des vergangenen Jahres noch nicht ganz abgeschlossen: Die große Challenge war, „nach den erneuten Angriffen“ durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH), das „stabile und leistungsfähige österreichische Apothekensystem zu erhalten“. Damit meint der Apotheker-Chef ein zweites EuGH-Urteil zum „Gebietsschutz“ in Österreich. Demnach ist nicht nur, wie bereits im ersten Urteil festgehalten, die starre 5500er-Grenze – also keine neue Apotheke bei Unterschreiten von 5500 zu versorgenden Personen einer Konkurrenz-Apotheke – EU-rechtswidrig.
Auch die danach erfolgte Unterscheidung zwischen ländlichen und städtischen Apotheken beim Zugang zu Konzessionen ist nicht erlaubt. Das bereits novellierte Apothekengesetz musste neuerlich nachjustiert werden. Wellan versichert dennoch: „Durch die Novelle zum Apothekengesetz und das umfangreiche Maßnahmenbündel der Apothekerkammer wurde rasch wieder Rechtssicherheit hergestellt.“ Er räumt aber ein, dass die Etablierung des genauen Prozedere des Konzessionsverfahrens die Apothekerkammer noch 2017 „begleiten“ werde.
Gesundheitspolitisch tun sich für den Apothekerkammer-Präsidenten vor allem zwei Baustellen auf. Die eine die zunehmende Multimorbidität und Betreuung der immer älter werdenden Gesellschaft. Die Apotheke als „Gesundheitsdrehschreibe“ müsse gestärkt werden, „weil die Patienten einen direkten Ansprechpartner und Begleiter brauchen“. Zudem gelte es, das Medikationsmanagement zur besseren Therapietreue flächendeckend zu etablieren. Bei dieser Dienstleistung, die derzeit noch nicht von der öffentlichen Hand bezahlt wird, analysieren speziell geschulte Apotheker alle Medikamente eines Patienten und machen dem behandelnden Arzt Vorschläge, sie zu optimieren.
Die zweite Baustelle: „Die oftmals versprochene Stärkung des niedergelassenen Bereichs und die entsprechende Verlagerung aus dem teuren Spital in die Betreuung vor Ort muss 2017 endlich Schwung aufnehmen“, spricht auch Wellan die schleppend vorangehende Gesundheitsreform an. Konkret seien das die Umsetzung der Primärversorgung „mit entsprechender Einbindung der Leistungen der Apotheker“ und der Start der E-Medikation – „die Apotheken sind bereit“.