9. Apr. 2014

Entwicklungsdefizite der Kids

WIEN – In Österreich ist nur wenig über die Häufigkeit entwicklungsbedingter Auffälligkeiten bei Kindern sowie über deren Versorgung bekannt. Das Gesundheitsministerium beauftragte deshalb die Gesundheit Österreich GmbH (GÖG/ÖBIG), einen Grundlagenbericht über die aktuelle Situation bei 0- bis 14-jährigen Kindern zu erstellen, der diese beiden Aspekte tiefgehend beleuchtet. Auch Expertenempfehlungen wurden in das 90-seitige Werk aufgenommen. Ein Resümee.

Das Bewusstsein für die Bedeutung einer gesunden psychischen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen hat sich in den vergangenen Jahren deutlich erhöht. Man weiß heute, dass Entwicklungsverzögerungen bzw. -störungen selten auf einzelne „Ursachen“ zurückzuführen sind, sondern dass vielmehr die Anzahl und Konstellation mehrerer Risikofaktoren entscheidend sind. Unterschieden wird zwischen internen Risikofaktoren wie genetische Disposition, Komplikationen vor oder während der Geburt und einem schwierigen kindlichen Gemüt; sowie externen Risikofaktoren wie psychosozialen Stressfaktoren im familiären bzw. näheren sozialen Umfeld des Kindes. Doch nicht nur Risiko-, auch Schutzfaktoren spielen eine Rolle dabei, ob Entwicklungsstörungen auftreten oder nicht. Als angeborener Schutzfaktor gilt z.B. überdurchschnittliche Intelligenz.

Epidemiologische Situation

Ein vorrangiges Ziel des Projekts „Entwicklungsverzögerungen/-störungen bei Kindern und Jugendlichen in Österreich“ war, die epidemiologische Situation in Österreich zu beleuchten. Dabei habe sich aber gezeigt, dass die Datensituation weder österreichweite noch repräsentative Aussagen zur Häufigkeit entwicklungsbedingter Auffälligkeiten erlaubt – resümieren die Autoren des Grundlagenberichts.

  • Zur Abschätzung der Häufigkeit tiefgreifender Entwicklungsstörungen (ICD-10 F 84; Autismus, Rett-Syndrom usw.) fehlen vor allem Angaben aus dem ambulanten und dem niedergelassenen Bereich.
  • Verhaltens- und emotionale Auffälligkeiten mit Beginn in der Kindheit und Jugend (ICD-10 F90–F98) werden derzeit bei rund zehn Prozent der Vier- bis Siebenjährigen vermutet.
  • Umschriebene Entwicklungsstörungen (ICD-10 F80–F83) des Sprechens und der Sprache nimmt man bei rund sieben bis elf Prozent der vier- bis fünfjährigen Kinder mit deutscher Muttersprache an. Logopädische Auffälligkeiten werden bei rund 57 bis 69 Prozent der Drei- bis Sechsjähren festgestellt. Als therapiebedürftig gelten 20 bis 33 Prozent. Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten werden – je nach Schweregrad – bei sechs bzw. 15 Prozent der Sechs- bis Zwölfjährigen vermutet. Von umschriebenen Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen dürften rund 25 Prozent der Vier- bis Fünfjährigen bzw. je 16 Prozent der Sechs- und Achtjährigen betroffen sein. Sämtliche Schätzungen beruhen auf regionalen Ergebnissen – betonen die Autoren.

Einschätzungen über die Gesamtmenge betroffener Kinder seien nicht möglich, da unklar sei, wie sehr sich die einzelnen Teilmengen überschneiden. Daher empfehlen sie, individuelle Entwicklungsdefizite vermehrt über Routineuntersuchungen zu erfassen (Mutter- Kind-Pass, Kindergarten, Schule). „Risikobabys“ sollten in den ersten Jahren begleitet und in ihrer Entwicklung beobachtet werden.

Therapeutische Unterversorgung

Ein weiteres Projektziel war, die Versorgungssituation und den Versorgungsbedarf in Österreich qualitativ einzuschätzen und darzustellen. Dazu wurden auch Interviews mit Experten aus der ambulanten Versorgung geführt. In den letzten Jahren seien die unterschiedlichen Versorgungsangebote für psychisch kranke Kinder spürbar ausgebaut worden – resümieren die Studienautoren. Dennoch bestünden nach wie vor – zum Teil schwer quantifizierbare – Lücken in der Versorgung. Im Bereich der Diagnostik empfehlen sie die Orientierung am somato-psycho-sozialen Krankheitsmodell, unter Berücksichtigung von Risiko- und Schutzfaktoren. Verbesserungspotenziale werden in den Ausbildungen von Ärzten und Pädagogen gesehen: Das Wissen über die gesunde Entwicklung von Kindern und die Fähigkeit, entwicklungsbedingte Auffälligkeiten zu erkennen, sei darin unzureichend verankert. Ebenso müsse die Kommunikationskompetenz im Umgang mit betroffenen Kindern gefördert werden.

Im Bereich Behandlung und Therapie sei u.a. problematisch, dass die Angebote relativ unübersichtlich sind – führen die Studienautoren weiter aus. Insbesondere in ländlichen Regionen bestehe eine therapeutische Unterversorgung, speziell für Kinder mit tiefgreifenden Entwicklungsstörungen. Kostenlose Angebote – v.a. bei funktionellen Therapien – seien keinesfalls flächendeckend gewährleistet. Bei der Koordination von Hilfsleistungen könnten Verbesserungen schon dadurch erreicht werden, dass die Bezugspersonen der Kinder und die Versorgungsanbieter besser Bescheid über die unterschiedlichen Angebote und Finanzierungsmöglichkeiten wissen und sich gezielter an bestimmte Institutionen wenden können. Kooperationsmodelle müssten gefördert werden. Und: Kindergärten und Schulen sollten verstärkt für Therapiezwecke genutzt werden. Dabei sei auch die derzeit bestehende schulärztliche Versorgung neu zu konzipieren.

Griebler Robert, Anzenberger Judith, Hagleitner Joachim, Sagerschnig Sophie: „Entwicklungsverzögerungen/-störungen bei 0- bis 14-jährigen Kindern in Österreich“: Datenlage und Versorgungsaspekte. Gesundheit Österreich GmbH/Geschäftsbereich ÖBIG; Oktober 2013, Download auf www.goeg.at

Aktueller WHO-Report

„Autism Spectrum Disorders and other developmental disorders“
Bei einer WHO-Konferenz im Herbst 2013 erarbeiteten internationale Entscheidungsträger Handlungsprioritäten, um den Bedürfnissen und Rechten von Menschen mit Entwicklungsstörungen besser nachzukommen. Unterstützen will die WHO u.a. forschende Institutionen; die Vernetzung von Organisationen und Experten zum Informationsaustausch; die Ausbildung bzw. Schulung von Ärzten, Pflegern, Sozialarbeitern, Lehrern und Angehörigen; sowie die öffentliche Bewusstseinsbildung. Von Autismus-Spektrum-Störungen ist weltweit schätzungsweise eine von 160 Personen betroffen.
www.who.int/mental_health/maternal-child/autism_report/en/

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune