Behinderung: Schlechtes Zeugnis für Österreich und was zu tun ist
In 10 Jahren hat es Österreich nicht geschafft, fundamentale Rechte für Menschen mit Behinderungen laut UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen, so das Fazit der aktuellen Prüfung. Als Hürde gilt der Föderalismus – Barrierefreiheit oder persönliche Assistenz hängt vom Wohnort ab.
Neulich habe ihn eine „blinde Sängerin“ angerufen, erzählt Mag. Erich Schmid, Leitungsmitglied im Blinden- und Sehbehindertenverband Wien, NÖ und Burgenland (BSVWNB). „Sie würde so gerne in einem Chor mitsingen, aber die Proben finden 5 Kilometer von ihrem Wohnort entfernt statt.“ Eine persönliche Assistenz wäre die ideale Lösung. Seit heuer gibt es ein Pilotprojekt des Sozialministeriums dazu.
Aber derzeit sei es fast unmöglich, geeignete Personen zu finden und durch das Land zu finanzieren. „Denn bis jetzt machen leider nicht alle Bundesländer beim Plan des Bundes mit“, beklagt Schmid in einer Aussendung im Vorfeld der UN-Staatenprüfung. Konkret hätten in Wien und Niederösterreich Personen mit Sinnesbehinderungen, Lernschwierigkeiten oder psychischen Erkrankungen keinen Zugang zu persönlicher Assistenz.
Vor 15 Jahren Konvention unterzeichnet
Die angesprochene Staatenprüfung fand am 22. und 23. August 2023 in Genf statt (siehe dazu den Live-Bericht1 von Martin Ladstätter, MA, Obmann von BIZEPS und Präsidiumsmitglied im Österreichischen Behindertenrat). Der Hintergrund: Österreich hat vor 15 Jahren, am 26.9.2008, die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ratifiziert.
Die erste Kontrolle, ob Österreich die Konvention auch tatsächlich umsetzt, erfolgte 2013. „Eigentlich ist eine Staatenprüfung alle 4 Jahre vorgesehen“, informierte dazu der Österreichische Behindertenrat. Bei der aktuellen Prüfung handle es sich daher um eine kombinierte 2. und 3. Prüfung.
„Gravierende Mängel“, unter anderem im Bildungsbereich
Doch trotz der langen Umsetzungsfrist fiel das Ergebnis der Überprüfung nicht gut aus. Der UN-Fachausschuss orte weiterhin „gravierende Mängel“, die er schon 2013 hervorgehoben habe, berichtet Christine Steger, seit März neue Behindertenanwältin des Bundes. „Mitunter sind sogar Verschlechterungen zu verzeichnen“, betont die 43-Jährige, die seit einer Beinamputation in Folge eines Verkehrsunfalls mit 19 Jahren eine Oberschenkelprothese trägt.
Als wesentlicher Kritikpunkt gilt der Mangel an inklusiven Bildungsmöglichkeiten. Hier sei es nach der Abschaffung der inklusiven Modellregionen 2018/2019 zu einem Stillstand gekommen. Aktuell bleibe vielen Menschen mit Behinderungen der Besuch von Regelschulen nach wie vor verwehrt – trotz klarer Empfehlung bereits vor 10 Jahren.
Auch die damals schon beanstandete mangelnde Gleichstellung zwischen Männern und Frauen in Österreich war wieder Thema. Insbesondere Frauen mit Behinderung seien dabei mehrfachen Formen von Diskriminierungen sowie der Gefahr von Missbrauch und sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Hilfs- und Unterstützungsangebote würden weitgehend fehlen – und zwar in allen Lebensbereichen.
Barrierefreier Wohnraum fehlt
15 Jahre nach der Ratifizierung der UN-BRK mangle es zudem noch immer an gemeindenahen Dienstleistungen und barrierefreiem Wohnraum. In den Bauordnungen mancher Länder gebe es teilweise sogar „Rückschritte“. Die Bedingungen für den Zugang zu für die Selbstbestimmung essenzielle Unterstützungsangebote, wie persönlicher Assistenz in der Freizeit, sei vom Wohnort abhängig.
Viele Menschen mit Behinderungen sehen sich gezwungen, in Einrichtungen der Behindertenhilfe zu leben. Doch laut Konvention müssen der Wohnort und die Wohnform frei wählbar sein. In einigen Bundesländern sind zwar mithilfe von EU-Fördergeldern Wohn- und Beschäftigungseinrichtungen errichtet worden. Diese stünden jedoch nicht im Einklang mit der UN-BRK.
Klare Worte auch zur nach wie vor bestehenden Struktur von „Werkstätten“ in Österreich: Die konkreten Handlungsempfehlungen aus dem Jahr 2013 wurden „nicht einmal ansatzweise“ umgesetzt. Steger dazu: „Die Situation für die rund 25.000 Menschen mit Behinderung ohne sozialversicherungsrechtliche Absicherung oder Entlohnung widerspricht den Zielen der Konvention fundamental. Das hat der UN-Fachausschuss unmissverständlich klargestellt.“
Enge und medizinisch orientierte Definition als Hürde
Auch bei der Bundesverwaltung gebe es Verbesserungsbedarf: Die Grundlage zur Feststellung von Behinderung sei nach wie vor nicht an der Definition aus der UN-BRK orientiert. „Viele Menschen mit Behinderungen sind aufgrund der engen und medizinisch orientierten Definition von Behinderungen von Unterstützungsleistungen wie beispielsweise persönliche Assistenz ausgeschlossen“, schildert Steger. Für Schulkinder mit Behinderungen stelle dies eine „massive Hürde“ dar.
Zudem forderte Steger bereits anlässlich des jüngsten Berichts2 der Behindertenanwaltschaft auch beim Diskriminierungsschutz von Menschen mit Behinderungen Verbesserungen. Derzeit müssen Betroffene von Diskriminierungen ein Schlichtungsverfahren durchführen, bevor sie Klage bei Gericht erheben können. Bisher wurden etwas mehr als 4.000 Schlichtungsverfahren durchgeführt – in 17 Jahren.
Betroffene scheuen Kostenrisiko bei Klagen
Eine sehr geringe Zahl, so Steger. Denn schätzungsweise leben in Österreich mehr als 1,3 Millionen Menschen mit Behinderungen, weshalb man bei der Einführung des Gleichstellungsgesetzes mit 1.000 Schlichtungen jährlich gerechnet hat. Was dazukommt: Oft scheuen Betroffene nach einem erfolglosen Schlichtungsversuch den Gang zu Gericht wegen des vorhandenen Kostenrisikos. „Es braucht hier dringend eine Ergänzung“, betont Steger, „ohne Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch bleibt der Diskriminierungsschutz leider zahnlos.“
Positiv hervorzuheben sei die Einführung des 2. Erwachsenenschutzgesetzes und die Stärkung des Monitoringausschusses, ein nationales Kontrollorgan. Aber selbst hier hat Sonderberichterstatter Prof. Dr. Markus Schefer, für Österreich zuständiger Country Rapporteur im UN-Fachausschuss, kritische Worte auf Lager: Die Bundesländer würden ihrer Verpflichtung zur Umsetzung des Erwachsenenschutzgesetzes „nicht ausreichend“ nachkommen.
Schärfer formuliert es der Österreichische Behindertenrat: Das neue Erwachsenenschutz-Recht mit unterstützter Entscheidungsfindung scheitere aktuell an der „Weigerung der Länder“, notwendige Unterstützungsdienstleistungen zur Verfügung zu stellen. Und durch den Rückschritt bei der Bauordnung müssten sich die Länder nicht mehr an einschlägige Ö-Normen zur Barrierefreiheit halten. Daraus resultierten „zahlreiche wesentliche Verschlechterungen“.
UN-Fachausschuss „bestens informiert“
Der offizielle Endbericht der Staatenprüfung wird im September erwartet. Die Handlungsempfehlungen dürften sehr zielgerichtet ausfallen, da der UN-Ausschuss über die Strukturen in Österreich „bestens informiert“ gewesen sei, gibt sich Bundes-Behindertenanwältin Steger zuversichtlich. Eines ist für sie jedoch klar: „Ohne eine ganzheitliche Herangehensweise, bei der Bund, Länder und Gemeinden an einem Strang ziehen, werden wesentliche Strukturreformen wohl auch in den nächsten zehn Jahren Wunschdenken bleiben.“
Der Grund, warum der UN-Ausschuss so gut informiert war, liegt nicht nur an der Einbindung nationaler Kontrollorgane wie dem Monitorungausschuss, der Volksanwaltschaft und der Behindertenanwältin, sondern auch in einem „privaten Briefing“ am 21.8.2023. Bei diesem Treffen konnte eine „zivilgesellschaftliche Delegation“ unter Ausschluss der Öffentlichkeit von ihren Erfahrungen berichten.
Auch beim Bund: Motivierte Personen „eher Glückssache“
Die Delegation, vom Österreichischen Behindertenrat koordiniert, nahm sich demnach auch kein Blatt vor dem Mund: So sei es „eher Glückssache“ gewesen, ob die eine oder andere Empfehlung von 2013 „in den zuständigen Ressorts auf eine motivierte Person traf, welche die Aufarbeitung ernst nahm“. Und die Länder hätten sich gar nicht für die Aufarbeitung zuständig gefühlt.
Auch Mag. Dr. Tobias Buchner vom Vorsitzteam im Monitoringausschuss resümierte, dass der UN-Fachausschuss wie erwartet die „eklatanten Versäumnisse“ bei der Umsetzung inklusiver Bildung „gnadenlos“ aufgezeigt habe. „Österreich muss jetzt handeln, um diese Mängel schnellstens zu beheben“, ist er überzeugt.
Für Inklusion und explizit De-Institutionalisierung gebe es weder ein Konzept noch einen Zeitplan in Österreich, ergänzte Mag. Bernadette Feuerstein, Mitglied im Monitoringausschuss: „Das Problem der Bund- und Länderzuständigkeiten kann als Standard-Ausrede dafür einfach nicht mehr herhalten.“
NEOS: „Armutszeugnis für die Regierung“
Die NEOS sprechen in einer Aussendung von einem „Armutszeugnis für die Regierung“. Es fehle „einfach der politische Wille zur Veränderung hin zu einer inklusiven Gesellschaft, in der jeder Mensch die gleichen Chancen und das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben hat“, konstatiert NEOS-Behindertensprecherin Fiona Fiedler, BEd.
Konkret bemängelt Fiedler, dass es nach wie vor keinen Rechtsanspruch auf das 11. und 12. Schuljahr für Kinder mit sonderpädagogischen Förderbedarf gibt. Auch sei es in Österreich für Menschen mit Behinderungen im Ländervergleich immer noch ungleich schwieriger, am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Frauen mit Behinderungen würden stark benachteiligt. Zudem fehlen noch bundesweit einheitliche Richtlinien für die persönliche Assistenz.
ÖVP und Grüne würden sich auf Arbeitsgruppen und den Nationalen Aktionsplan Behinderung 2 „ausreden“. Dabei fehle für diesen nach wie vor eine Budgetierung. Die NEOS fordern „echte Taten statt Verzögerungstaktiken“. Denn „eine x-te Arbeitsgruppe“ werde die Lebensrealitäten von Menschen mit Behinderung auch nicht maßgeblich verbessern.
SP-Volksanwalt: Schwimmprothesen für Jugendliche
Volksanwalt Mag. Bernhard Achitz (SPÖ) fordert anlässlich der Staatenprüfung „Rechtsanspruch statt Almosen“. Betroffene würden mit ihren Unterstützungsanträgen oft zwischen Landes- und Bundesbehörden, aber auch SV-Trägern hin- und hergeschickt. „Viele Menschen mit Behinderungen beschweren sich bei uns, entweder über schlechte Gesetze oder aber über die Verwaltungspraxen der Behörden“, schildert Achitz.
Das beginne bei nicht barrierefreien Bahnhöfen, persönliche Assistenz werde nicht oder nicht im benötigten Ausmaß bewilligt. Es gebe keinen Rechtsanspruch auf Rehabilitation oder auf Zahlung des behindertenbedingten Mehrbedarfs. „So wird jeder Rollstuhl, jedes Pflegebett, jeder barrierefreie Umbau zu einem bürokratischen Hürdenlauf“, kritisiert der Volksanwalt.
Selbstbestimmung bedeute auch, in einer eigenen Wohnung leben zu können, wenn jemand das möchte. „Und wenn ein beinamputierter 15-Jähriger schwimmen möchte, dann muss ihm das auch ermöglicht werden, in dem Fall mit einer Schwimmprothese“, bringt Achatz ein Beispiel. Auch wenn das viel Geld koste. Alles andere wäre nicht Inklusion, sondern Diskriminierung.
Rauch: Bis zu 100 Millionen für persönliche Assistenz
Sozialminister Johannes Rauch (Grüne) versicherte, dass „volle Inklusion“ von Menschen mit Behinderungen in sämtlichen Lebensbereichen gemeinsames Ziel bleibe. Seit der letzten Prüfung 2013 seien wichtige Fortschritte erfolgt, „wir müssen dennoch aktiv und zielstrebig weiterarbeiten“. Bund, Länder und Gemeinden müssten für eine gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen eng kooperieren.
Eine wesentliche Verbesserung der Situation erwarte er sich von der Umsetzung des eingangs erwähnten Pilotprojekts „Persönliche Assistenz“. In den Jahren 2023 und 2024 stünden dafür jeweils bis zu 50 Millionen Euro zusätzlich bereit. Rauch bezeichnet das Pilotprojekt als „Meilenstein“, mit dem Ziel der Harmonisierung der unterschiedlichen Systeme der Bundesländer und der persönlichen Assistenz am Arbeitsplatz sowie einem bedarfsgerechten Ausbau des Angebots.
Auch das Ziel „Lohn statt Taschengeld“ werde rasch mit den Bundesländern diskutiert. Denn obwohl die berufliche Teilhabe in der Kompetenz des Bundes liege, seien für tagesstrukturelle Einrichtungen und die Vergütung der Leistungen die Länder zuständig. Vom Budget des Sozialministeriums stünden heuer rund 340 Millionen Euro zur Verfügung – um 30 Millionen mehr als im Vorjahr und rund 100 Millionen Euro mehr als noch 2019.
In den NAP auch Länder eingebunden
Rauch verteidigt auch den 2. Nationalen Aktionsplan Behinderung (NAP) 2022–2030. Er sei unter Einbindung der Länder, aller Bundesministerien sowie Vertreterinnen und Vertretern von Menschen mit Behinderungen erarbeitet worden. Die Umsetzung und Finanzierung der Maßnahmen hätten durch die jeweils zuständigen Ressorts zu erfolgen. Der NAP sei kein abgeschlossenes Dokument. „Die Erkenntnisse der Staatenprüfung werden wir jedenfalls in die kommenden Planungen mit einbeziehen“, verspricht der Sozialminister.
Allerdings unterstreicht er auch – ähnlich wie bei der Gesundheitsreform –, dass es nur miteinander gehe: „Wie in vielen Bereichen ist auch die Zuständigkeit für die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden aufgeteilt. Nur wenn wir alle gemeinsam unsere Anstrengungen weiter erhöhen, kommen wir dem Ziel einer vollen Inklusion näher.“