22. März 2023Sehenden Auges in die Katastrophe

Notstände bei der Medikamentenverfügbarkeit

Bereits im Herbst warnten Expertinnen und Experten davor, dass es bald keine Kinder-Antibiotika mehr geben werde. Mittlerweile können Ärzte ihre Patientinnen und Patienten nicht mehr adäquat behandeln, sagt Kinderarzt Dr. George Zabaneh. Ergebnis seien fehlende Antibiotika in anderen Bereichen und Resistenzbildungen. Dafür, dass das Gesundheitsministerium mehr Ausreden hat als konstruktive Lösungsvorschläge, hat er kein Verständnis.

Nahaufnahme der Hand des Arztes, die Medikamente hält und sie ihrer Patientin gibt.
VioletaStoimenova/GettyImages

Über 600 Medikamente sind derzeit in Österreich nicht lieferbar. Besonders betroffen sind Medikamente für Kinder – so ist derzeit das Schmalbandantibiotikum Ospen® (Phenoxymethylpenicillin) nicht verfügbar, das unter anderem für die aktuell in Österreich unter Kindern stark grassierenden Streptokokken-bedingten Erkrankungen wie Angina und Scharlach eingesetzt wird.

Alles vorhersehbar

„Wir haben derzeit abnorm viele Streptokokken-Infektionen in Österreich bei den Kindern“, bestätigt Dr. George Zabaneh, Leiter einer pädiatrischen Gemeinschaftspraxis in der Wiener Seestadt, und ist gleichzeitig überzeugt: „Der Arzneimittelmangel war vorhersehbar.“ Spätestens seit dem vorigen Herbst warnen Expert:innen, dass es zu Engpässen kommen könnte.

Grund für die Mängellage sieht er wie auch andere einerseits im Infektionswinter 2022/2023, in dem seit November bakterielle genauso wie virale Infektionen bei Kindern boomen. Auch Lieferketten mit China oder Indien als Handelspartner, die während der Pandemie Schaden genommen haben, seien sicher mitverantwortlich. Andererseits trägt aber auch dazu bei, wie in Österreich Medikamente vom Großhandel eingekauft und weiterverkauft werden, so Zabaneh: „In Österreich beziehen Apotheken Medikamente über den Großhandel – allerdings zu einem zuvor durch Krankenkassen verhandelten Maximalpreis“, erklärt er.

Mutter lässt sich Medikamente für Kind aus Polen schicken

Durch den strengen Preisdeckel in Österreich werden Arzneimittel vom österreichischen Großhandel dann aber teils in andere Länder weiterverkauft, die mehr für das jeweilige Medikament zu bezahlen bereit sind. „Konkret bekommen wir in Österreich oft Arzneimittel als Letzte, da wir ein Billigzahlland sind.“ Diese Beobachtung macht er jedes Jahr bei den Grippeimpfstoffen für Kinder. Bei dieser zeitkritischen Impfung sieht er Jahr für Jahr, dass Deutschland immer ein Monat oder länger vor Österreich beliefert wird.

Und die derzeitige Arzneimittelknappheit wirke sich natürlich auch auf den Großhandel aus, so Zabaneh. „Jetzt werden in Österreich derzeit auch Waren, die eigentlich für den heimischen Markt bestimmt sind, weiter verknappt, weil sie beispielsweise nach Deutschland verkauft werden.“

Er berichtet von einer polnischstämmigen Familie aus seiner Praxis, deren Kind ein Antibiotikum gebraucht hätte. „Nachdem die Mutter das Präparat in mehreren Apotheken nicht bekommen hat, beschloss sie, Verwandte in Polen zu bitten, ihr das Medikament zu besorgen und zu schicken“, erzählt der Kinderarzt. Das verdeutlicht für ihn, dass das Problem nicht, wie immer kolportiert, ein gesamteuropäisches ist, sondern ein österreichisches. „Polen zahlt eben mehr für Medikamente als Österreich.“

„Behandle ich ein Kind, nehme ich vier Säuglingen die Medikamente weg“

Ein unglaublicher Missstand für den Kinderarzt, der nach eigenen Aussagen antibiosepflichtige Erkrankungen schon jetzt nicht mehr so behandeln kann, wie es einer medizinischen Versorgung in einem Erste-Welt-Land gebühren würde. „Brauche ich jetzt ein Antibiotikum für ein Kind mit einer Streptokokken-Infektion, kann es sein, dass ich entweder ein Breitbandantibiotikum oder vier Packungen eines Amoxicillins für Säuglinge aufschreiben muss.“ Bei Ersterem drohen mittelfristig Resistenzbildungen bei heimisch zirkulierenden Keimen, bei Letzterem „nehme ich eben vier Säuglingen die Medikamente weg.“

Dabei kamen bereits im November die ersten Warnungen aus Großbritannien, wo sogar einige Kinder an unkomplizierten Streptokokken-Infektionen verstarben, weil sie nicht rechtzeitig ein Antibiotikum erhielten. Nichts also, was das österreichische Gesundheitsministerium nicht wissen hätte können, ist der Kinderarzt überzeugt.

„Und eben dieses Gesundheitsministerium beruft sich jetzt darauf, dass der Grund für die Arzneimittelknappheit sei, dass Länder wie China und Indien aufgrund der Pandemie Lieferverzüge haben. Aber warum betrifft das dann nicht alle Länder auf der Welt, sondern nur bestimmte, wie Österreich?“

Notfallmaßnahme ergreifen

Eine aktuell viel diskutierte Notfallmaßnahme, die Zabaneh begrüßen würde, besteht darin, dass Apotheken die fehlenden Wirkstoffe selbst herstellen könnten. Das könnte die Engpässe kurzfristig verbessern, obwohl es das Problem langfristig nicht lösen würden, so der Kinderarzt. „In dieser Notsituation, wo für die Kinder keine Antibiotika mehr da sind, wäre das aber eine angemessene Gegenreaktion.“  Das Gesundheitsministerium reagiert auf den Vorstoß, der unter anderem von der österreichischen Apothekerkammer kommt, verhalten. Die Gesetzmäßigkeiten ließen das derzeit nicht zu, ließ man unter anderem uns kürzlich wissen. Wie auch andere Betroffene will Zabaneh davon nichts wissen: „Wenn die Gesetze das nicht hergeben, muss man sie eben kurzfristig ändern. Denn wenn Ausnahmeregelungen vorübergehend Ausgangssperren während einer Pandemie rechtfertigen können, können sie in einer medizinischen Notfalllage auch helfen, um die Situation zu entschärfen.“

Gibt es jetzt mehr kranke Kinder als früher?

Nicht nur Dr. Zabaneh vermutet im Moment eine Häufung von Streptokokken-Infektionen bei Kindern. Anfang Jänner veröffentlichte das British Medical Journal eine Studie, die zeigt, dass das Risiko für Streptokokken-Infektionen sechs bis acht Monate auch nach einer mild verlaufenen Covid-Infektion erhöht ist. Bei Kindern zwischen fünf und elf Jahren sahen die Autoren beispielsweise eine Risikoerhöhung für die Streptokokken-bedingte Tonsillitis, die bis ein Jahr nach der akuten Corona-Infektion andauerte.

Mizrahi B et al. Long covid outcomes at one year after mild SARS-CoV-2 infection: nationwide cohort study.v BMJ. 2023 Jan 11;380:e072529. doi: 10.1136/bmj-2022-072529. PMID: 36631153; PMCID: PMC9832503.