24. Feb. 2021

Verzögerte 2. mRNA-Impfdosis: Wie würden Sie entscheiden?

Stellen Sie sich vor, Sie sind Vorsitzender der Task Force des Gouverneurs und die mRNA-Impfstoffe sind knapp. Es beginnt eine NEJM-Umfrage zur COVID-19-Schutzimpfung: Sollten jene Personen mit bereits einer Impfdosis die zweite Dosis „um einige Monate“ verzögert erhalten, damit in Summe mehr Personen wenigstens mit einer Impfdosis geschützt sind? Auch in Europa und hierzulande sind mRNA-Impfstoffe heiß begehrt. Die Redaktion fragte einige Stakeholder, ob Verzögern auch eine Option für Österreich wäre. Die Antworten überraschten – auch im Lichte der am 23.02.2021 aktualisierten Anwendungsempfehlungen.

Vorbereitung der Injektion mit dem Covid-19-Impfstoff
Ridofranz

Um zu einer Empfehlung zu kommen, müssen Sie die Vorteile und Risiken der beiden Ansätze sowohl auf individueller als auch auf Bevölkerungsebene berücksichtigen und erst dann entscheiden, schreiben Kadire et al.1 in einer Umfrage, die bis 14. April 2021 online ist. Natürlich seien neben den eigenen Erfahrungen auch die Literatur, die veröffentlichten Richtlinien und andere Informationsquellen zu beachten.

Mitautor und Mediziner Robert M. Wachter gibt Hilfestellung und erklärt beide Ansätze. Die klinischen Studien mit den Impfstoffen von Pfizer/BioNTech und Moderna zeigten eine Wirksamkeit von zirka 95 Prozent nach zwei Dosen im Abstand von 3 bis 4 Wochen.

„Umstände alles andere als normal“

Unter normalen Umständen sollte natürlich das Standardschema eingehalten werden – doch die Umstände seien eben alles andere als normal: langsame Einführung von Impfstoffen, begrenzte Impfstoffversorgung und das jüngste Auftreten von SARS-CoV-2-Varianten. Die eine Seite argumentiert, dass jede Abweichung von dem in den klinischen Studien verwendeten Protokoll „unwissenschaftlich“ sei. Zudem könnte es sein, dass die zweite Dosis bei späterer Gabe weniger wirksam sei.

Mehr (teil)geschützt oder weniger ungeschützt

Die andere Seite argumentiert, dass COVID-19 derzeit in den USA ungefähr 3.000 Menschen pro Tag tötet. Man stünde vor einem entscheidenden Kompromiss: Nutzen wir die begrenzte Impfkapazität, um den Schutz von Personen zu erhöhen, die eine erste Dosis erhalten haben, von 85 Prozent (nach Dosis 1) auf 95 Prozent (nach Dosis 2) durch Verabreichung einer zweiten Dosis?

Oder nutzen wir dieselbe Kapazität, um eine ähnliche Anzahl von Menschen aus einem ungeschützten Zustand in einen Zustand zu bringen, in dem sie zu 80 bis 85 Prozent geschützt sind? Modelle zeigen, dass die erwartete Anzahl von COVID-19-Fällen signifikant niedriger wäre. Zudem treten immer mehr Varianten auf, die ansteckender sind, allen voran B.1.1.7., weshalb die Bevölkerung, insbesondere Menschen mit hohem Risiko, schneller geimpft werden sollten.

Aber: Risiko von weiteren Mutationen

Zurück zur skeptischen Seite: Einige Experten haben gewarnt, dass eine Teilimpfung, die zu einer weniger robusten Immunantwort führt, das Risiko von Mutationen erst recht wieder erhöhen könne. Vor wenigen Tagen erschien auch im „Lancet“ eine Arbeit2, die ebenfalls davor warnt, das Standardschema zu verlassen – die Autoren plädieren für den „Goldstandard“ von drei bis vier Wochen.

Doch was denken unsere heimischen Experten? Verzögern oder nicht verzögern, das ist hier die Frage, die die Redaktion acht Stakeholdern gestellt hatte, darunter Mitglieder des Nationalen Impfgremiums (NIG), Virologen, Ärzte und Gesundheitspolitiker. Vier haben geantwortet. Tenor: Die Mehrheit wäre für eine verzögerte zweite Dosis im Rahmen der Zulassungsstudien3: nämlich 2. Impfdosis am Tag 42 (siehe unten) – also weder Fisch noch Fleisch, sondern beides.

Neue Tabelle lässt Ausnutzen von Intervallen zu

Das ist insofern bemerkenswert, da das NIG am 23.02.2021 seine Anwendungsempfehlungen3 für COVID-19-Impfungen in diese Richtung aktualisiert hat (Änderungen gelb markiert). Ganz hinten lässt ein neuer „Überblick über verfügbare Impfstoffe in Österreich“ zu, bei den bisher zugelassenen mRNA-Impfstoffen die ganze Bandbreite des Intervalls auszunutzen: 19–42 Tage bei BioNTech/Pfizer und 21–42 Tage bei Moderna. Auch beim vektorbasierten Impfstoff von AstraZeneca sind 28–84 Tage angegeben. Allerdings steht weiter vorne nach wie vor drinnen, in „Ausnahmefällen“ könne in einem Zeitintervall bis zu 42 Tagen geimpft werden.

Dass AstraZeneca auch über 65-Jährige zugelassen werden könnte, ließ zuletzt auch NIG-Leiterin Priv.-Doz. Mag. Dr. Maria Paulke-Korinek in einem ZIB2-Interview (23.02.2021) auf Nachfrage anklingen. Eine entsprechende Empfehlung könnte Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) noch diese Woche bekommen.

Wartelisten dokumentieren und kontrollieren

Der aktualisierte Impfplan betont nun auch explizit, dass es sich beim Impfplan – wer wann mit welchen Impfstoffen geimpft werden soll – um eine „verbindlich einzuhaltende Vorgabe seitens des Gesundheitsministeriums“ handle. Bestellungen dürften nur für Personen der jeweils zu impfenden Zielgruppe bestellt werden, das müsse auch in Listen „nachvollziehbar“ sein. Das gilt auch für „Wartelisten“, sollte es zu einem „Überschuss“ an Impfungen kommen. Die Kontaktaufnahme (älteste zuerst) solle dokumentiert werden, auch bei Nichterreichbarkeit. Die Wartelisten könnten stichprobenartig durch die regionalen Behörden überprüft werden.

Kinder: Schutz des Umfelds besonders wichtig

Weiters rät das NIG von der Impfung von Kindern als off-label-use derzeit noch ab. Bis COVID-Impfungen für Kinder mit erhöhtem Krankheitsrisiko zur Verfügung stünden, „muss daher dem Schutz des Umfelds besonders hohe Wichtigkeit und Vorrang hinsichtlich einer COVID-19-Impfung eingeräumt werden“, schreibt das Gremium.

Eine andere Aktualisierung betrifft die Impfung nach laborbestätigten SARS-CoV-2-Infektionen (PCR oder Neutralisationstest): Hier ist eine Impfung für mindestens 6–8 Monate nicht notwendig. Bei der Aufklärung soll zudem auf die eventuell stärkeren Impfreaktionen „deutlich“ hingewiesen werden, ebenso auf den Einsatz einer prophylaktischen Gabe von Paracetamol (kein NSAR) etwa sechs Stunden nach der Impfung. Tritt COVID-19 ab dem Tag 7 nach der 2. Impfdosis auf, soll dies „aus pragmatischen Gründen“ als vermuteter Impfdurchbruch gemeldet werden.

Umfrage zur Verzögerung der 2. Impfdosis in Österreich

Die Fragen

1. Wie würden Sie abstimmen und warum?

  • Option 1: Empfehlung, die zweite Dosis zu verzögern
  • Option 2: Empfehlung, dem Standardregime zu folgen

2. Und wäre eine Verzögerung (Option 1) eine Möglichkeit für Österreich?

So haben die Experten geantwortet

Univ.-Prof. Dr. Herwig Kollaritsch, FA für Spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin, FA für Hygiene und Mikrobiologie, Mitglied des NIG

„Ich habe auch schon abgestimmt. Drei Punkte, warum ich der Meinung bin, dass es wenig Sinn macht, sich ganz strikt an die vorgegebenen Intervalle zu halten:

  1. Die Zulassungsstudien von Pfizer haben ein Intervall von 21 bis 42 Tagen zugelassen, d.h. ich darf mich ohnedies in diesem Rahmen bewegen.
  2. Moderna empfiehlt einen Abstand von 28 Tagen und lässt einen längeren Abstand offen.
  3. Die Impfimmunologie hat seit Jahren die klare Erkenntnis, dass ein etwas längeres Impfintervall völlig unproblematisch ist. Eine Verkürzung hingegen ist sicher mit einem Wirkungsverlust verbunden.“

Dr. Marton Széll, FA für Infektiologie und Tropenmedizin, Mitglied des NIG:

„Ich bin nach den mir vorliegenden Daten für ein Ausnützen der von der EMA vorgegebenen (= zugelassenen) Impfintervalle: Daher bei AstraZeneca bis auf 12 Wochen (was ja auch so vom NIG empfohlen wird). Und bei mRNA bis auf Tag 42. Sollte es neue Daten (peer reviewed am besten) geben, die eine Empfehlung darüber hinaus (off label) sinnvoll erscheinen lassen, sollten die Intervalle weiter ausgedehnt werden, um möglichst vielen Personen eine rasche Erstimpung zu ermöglichen.“


Univ.-Prof. Dr. Dorothee von Laer, Virologin, Medizinische Universität Innsbruck:

„Eindeutig Option 1, die mRNA Impfstoffe sind auch nach der ersten Dosis schon sehr gut wirksam. Besser wäre es, rasch heterologe ‚prime boost regime‘ zu entwickeln.“ 


LR Ulrike Königsberger-Ludwig, SP-Gesundheitslandesrätin in Niederösterreich:

​„Auch bei Impfstoffknappheit soll aus momentaner Sicht sichergestellt werden, dass Personen der entsprechenden Zielgruppen beide Impfstoffdosen im vorgesehenen Intervall erhalten. Eine höhere Anzahl an Impflingen zu erreichen, indem nur eine Dosis verabreicht wird, ist aus derzeitiger Sicht keine Alternative und wird ausdrücklich nicht empfohlen.“

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Was halten Sie von einer späteren Verabreichung der 2. COVID-Impfdosis in Österreich, um die Durchimpfungsrate zu erhöhen?

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