Schere zwischen Wahlärzten und Kassenärzten weit gespreizt
Die Schere bleibt auch heuer offen: Mehr als 10.000 Wahlärzten stehen rund 7.000 Kassenärzte (ÖGK) gegenüber. Die Patienten wiederum stehen immer öfter vor verwaisten Kassenpraxen – deren Zahl kletterte auf 157, davon 95 allgemeinmedizinische Stellen – ein Anstieg um fast 40 Prozent. Die Ärztekammer spricht von Versäumnissen der Politik.
Mit Ende Dezember 2019 waren 10.175 Wahlärzte registriert, um 76 mehr als ein Jahr zuvor. Auch die Anzahl der Vertragsärzte der Gebietskrankenkassen, nunmehr Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK), stieg ähnlich leicht: um 75 auf 7.174. Dazu kamen laut APA mit Verweis auf Ärztekammer-Zahlen 1.025 Ärzte mit Vertrag kleinerer Kassen oder Krankenfürsorgeanstalten (KFA). Deren Zahl ist in der letzten Dekade um mehr als 400 gesunken.
Vor 13 Jahren war der Wendepunkt: Während es davor mehr Kassen- als Wahlärzte gab, war 2008 das Verhältnis Wahlärzte/Kassenärzte mit jeweils rund 7.000 ausgeglichen. Seither geht die Schere auseinander, die Zahl der Wahlärzte stieg stetig, jene der Kassenärzte stagnierte.
Verschärft wird das Problem für die Patienten laut APA durch die steigende Zahl an unbesetzten Kassenstellen. Zu Jahresbeginn waren 157 von den Kassen ausgeschriebene Stellen nicht besetzt, um 28 Stellen mehr (plus 21,7 Prozent) als im Jänner 2019 mit 129 Stellen. Dieser Zuwachs bei den unbesetzten Stellen geht vor allem auf das Konto der Allgemeinmediziner: Vor einem Jahr waren hier 68 Stellen unbesetzt, heuer 95 – was einem Anstieg um 39,7 Prozent entspricht. Bei den Fachärzten ist nur eine unbesetzte Stelle hinzugekommen, von 61 auf 62.
„Schere hätte sich nie öffnen dürfen“
Dr. Johannes Steinhart, Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer (ÖÄK) und Bundeskurienobmann der Niedergelassenen, stellt gegenüber der APA einen demografischen Vergleich an: Während die Bevölkerungszahl Österreichs seit 2010 um mehr als eine halbe Million Menschen zugenommen hat (plus rund sechs Prozent, Anm.), stieg die Zahl der GKK-Kassenärzte gerade einmal um 2,3 Prozent.
„Dass gleichzeitig die Zahl der Wahlärzte stark zugenommen hat, zeigt uns, dass der Bedarf da ist“, argumentiert Steinhart. Er finde es zwar gut, dass Wahlärzte einen Teil der Versorgung abdecken. Aber die Statistik zeige „deutlich die Versäumnisse der Gesundheitspolitik“. Diese habe nicht rechtzeitig der Stagnation der Kassenärztezahlen entgegengewirkt, „die Schere hätte sich nie öffnen dürfen“.
Angesichts des prognostizierten Defizits in der ÖGK befürchtet Steinhart noch gröbere Probleme: „Man kann sich leicht vorstellen, was passiert, wenn nun die Ärzte die ÖGK-Finanzpannen ausbaden sollen und viele Kollegen ihre Kassenverträge zurücklegen beziehungsweise junge Kollegen sich gegen einen Eintritt ins Kassensystem entscheiden.“
Spitäler kollabieren durch „Aushungern“ der Kassenärzte
Die gleiche Sorge drückte auch schon der Bundeskurienobmann der Spitalsärzte, ÖÄK-Vizepräsident Dr. Harald Mayer, in einer Aussendung vom 20.02.2020 aus. Den von ÖGK-Generalsekretär Mag. Bernhard Wurzer geforderten „Konsolidierungspfad“ bei kassenärztlichen Honoraren bezeichnet Mayer als „katastrophal“ für das Gesundheitssystem, ein „Aushungern“ der Kassenärzte führe zum Spitalskollaps. Denn Patienten, die sich keine Wahlärzte leisten könnten, würden als Reaktion auf das mangelnde Angebot im kassenärztlichen Bereich noch stärker auf die ohnehin bereits überfüllten Spitäler und deren Ambulanzen ausweichen. Das sei eine „komplett fehlgeleitete Gesundheitspolitik“, kritisiert Mayer, „Spitäler sind kein Lückenbüßer für politische Fehlentscheidungen“.
Mayer appelliert einmal mehr an eine „intelligente Patientenversorgung“ durch eine Basisversorgung im niedergelassenen Bereich. Das entlaste die Spitäler, während eine weitere Verschärfung der Situation untragbar sei. Komme die versprochene Patientenmilliarde nicht bald und verliere das kassenärztliche System weiterhin an Attraktivität, „wird das zu einem Kollaps in den Spitälern führen“.
„Den Kassen laufen Patienten und Ärzte davon“
Dem Spitalsarzt zur Seite sprang der Präsident der Ärztekammer für Tirol, Dr. Artur Wechselberger, selbst niedergelassener Arzt: „Der ambulanten, sozialen Krankenversorgung, für die die Krankenkassen verantwortlich sind, laufen die Patienten und die Ärzte davon.“ Zu den von der ÖGK erwarteten, über fünf Jahre kumulierten Abgängen von 1,7 Milliarden Euro ergänzt Wechselberger in einer Aussendung ein „Detail“: Diese entstünden nicht in der Patientenversorgung, sondern seien hauptsächlich der Konsolidierung nach der Kassenzusammenlegung und der Sanierung von sozialversicherungsinternen Altlasten geschuldet.
Bei jährlichen Gesamtbudgets um die 15 Milliarden müsse es kreativere Ansätze für diese durchaus lösbare Managementaufgabe geben, merkte Wechselberger an. Die Sozialversicherten hätten ein Anrecht darauf, die bestmögliche medizinische Versorgung zu erhalten, die die niedergelassenen Vertragspartner anzubieten in der Lage sind – flächendeckend im ganzen Land.
Ähnlich hatten wie berichtet auch schon seine Ärztekammer-Kollegen in Oberösterreich (Dr. Peter Niedermoser), Niederösterreich (Dr. Christoph Reisner) und der Steiermark (Dr. Norbert Meindl) argumentiert, die Verluste der ÖGK dürften keinesfalls auf die Ärzte abgewälzt werden.