Primärversorgung: „Österreicher kleckern, Deutsche klotzen“
Versorgungsforscherin Univ.-Prof. Dr. Andrea Siebenhofer-Kroitzsch erklärt, wo man in Sachen Hausarztmangel den Hebel ansetzen müsste, wie es um die Gleichberechtigung steht und was die Deutschen besser machen. (Medical Tribune 10/19)
Was versteht man unter evidenzbasierter Versorgungsforschung?
Siebenhofer: Oft habe ich gehört: „Ach, Versorgungsforschung, das ist doch nur die Auswertung von Daten.“ Das ist sie nicht! Sie ist ein fachübergreifendes Forschungsgebiet, das sich vor allem mit der Kranken- und Gesundheitsversorgung beschäftigt und versucht, diese zu optimieren. Zeigen zum Beispiel Daten oder Befragungsergebnisse, dass eine Über-, Unter- oder Fehlversorgung existiert, dann ist es von Bedeutung, ein optimiertes Versorgungskonzept zu entwickeln. Wichtig ist: Versorgungsforschung betrifft nichts Seltenes, also keine „orphan diseases“, sondern Häufiges. Ein klassisches Beispiel aus Frankfurt: Wir haben in Studien gelesen, dass Patienten mit oraler Antikoagulation zum Teil über-, unter-, aber auch fehlversorgt sind, und uns überlegt: Wie könnte man das im hausärztlichen Setting optimieren? Wir haben uns eine Vergleichsstudie überlegt, mit der Fragestellung, ob Case Management die Versorgung verbessern kann.
Wie ist der Status quo der Primärversorgung in Österreich im Vergleich zu Deutschland?
Siebenhofer: Österreich und Deutschland haben die gleichen Probleme: Landflucht, Abzug aus den wohlhabenden Ballungszentren, Hausarztmangel, bedingt durch unattraktive Arbeitsbedingungen, fehlendes Job-Sharing, schlechte Finanzierung, unkoordinierte Ausbildung usw. In Österreich – und das möchte ich betonen – gibt es vieles, was jetzt getan wird, von Politik, Ministerien, Ärztekammer, Kassen, Universitäten. Aber ist es für mich immer noch ein „Stückerlwerk“. Es braucht endlich einmal das große gemeinsame Vorhaben mit einem einzigen Ziel: die Primärversorgung zu stärken.
Man muss sich abstimmen, nicht nur Geld verteilen, sondern auch an der Qualität etwas ändern. Mögliche Maßnahmen sind ja bekannt. Es gibt von unserem Institut zwei Berichte, „Berufsmotivation Befragung von Studierenden“ und „Prävention gegen Hausärztemangel“. Drittens gibt es von der Österreichischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin den Masterplan. Man weiß also längst, was relevante und wirksame Maßnahmen wären, um dem Hausärztemangel entgegenzuwirken. Der nächste Schritt wäre endlich eine koordinierte Absprache zwischen den Playern, damit alle das gemeinsame Ziel verfolgen.
Und in Deutschland?
Siebenhofer: Erstens – und das finde ich ziemlich prickelnd – gibt es Gesetzesvorlagen wie den „Masterplan Medizinstudium 2020“ mit einer Neuorientierung an den Universitäten, wo im Gesetz steht: Allgemeinmedizin ist ein neuer Schwerpunkt im Studium und wir brauchen vermehrten Praxisbezug und allgemeinmedizinische Forschung. Das Zweite ist, dass es nach dem Sozialgesetzbuch deutschlandweit Kompetenzzentren zur Weiterbildung in Allgemeinmedizin geben muss, mit überregionalen Angeboten, Begleitseminaren, Mentoring-Programmen, Train-the-Trainer-Fortbildungen etc., damit angehende Fachärzte für Allgemeinmedizin, die übrigens für zwei Jahre bei einem Hausarzt arbeiten müssen, strukturiert ihre Weiterbildung absolvieren können. Alle arbeiten an der Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben gegen den Hausarztmangel, die Kassenärztliche Bundesvereinigung, die Krankenhäuser, der Spitzenverband der Krankenkasse usw. Dafür wird richtig Geld investiert. Das ist eine gezielte Maßnahme – kein Tröpfchen.
Deutschland ist da also weiter?
Siebenhofer: Na ja, irgendwie schon, denn alle ziehen an einem Strang und es gibt mehr Förderungen. So gibt es auch in der Forschung viel mehr Geld. Der Unterschied ist: Wir in Österreich kleckern und in Deutschland hauen sie richtige Klötze rein: Gesetzesvorlagen auf universitärer Ebene plus Weiterbildung. Wir haben in Österreich keine strukturierte Weiterbildung, es gibt keinen Facharzt für Allgemeinmedizin und nur ein halbes Jahr in der Lehrpraxis. Aber was wir ihnen voraushaben, ist das Primärversorgungsgesetz – das hat Deutschland noch nicht.
Wie entstand der Primärversorgungskongress bzw. die OEFOP-Jahrestagung (siehe Kasten)?
Siebenhofer: Das Institut für Allgemeinmedizin und evidenzbasierte Versorgungsforschung der Universität Graz gibt es seit 2015. Damals haben wir gesagt, wir wollen eine Plattform, ein Symposium, wo sich alle Player aus allen Richtungen auf neutralem Boden treffen können. Das Institut ist fachlich unabhängig und hat die Schirmherrschaft über den Kongress, den wir heuer zum vierten Mal machen. Für dieses Jahr haben wir uns die Frage gestellt: Machen wir das Richtige und wie machen wir das Richtige richtig? Dafür benötigt es strukturierte Handlungsanweisungen, Qualitätsvorgaben, Informationen, wie man zusammenarbeiten kann, usw. Und natürlich muss man Evaluationen anschließen. Der gesamte Themenkomplex dreht sich um die Qualität und richtet sich an alle Player, denn unabhängig davon, ob man in Einzelpraxen oder in Primärversorgungseinheiten arbeitet, sollte die Qualität höchstrangig gewährt werden. Aber das Wichtigste ist: Der Kongress ist sehr informativ, es gibt eine tolle Aufbruchsstimmung, einen positiven Drive, von Jung bis Alt sind sämtliche Berufsgruppen vertreten, ebenso wie Akteure der Kammern, Kassen und Politik. Und alle diskutieren auf hohem Niveau.
Die Medizin wird immer weiblicher, was ändert sich für die Zukunft der Frauen?
Siebenhofer: Ja, die Medizin wird weiblicher, im Studium und bei den Klinikärztinnen. Das Problem tut sich dann auf, wenn die Familie größer wird und die Frauen in Teilzeit gehen. Das machen Frauen viel häufiger als Männer und daher denke ich, dass diese gläserne Decke nach wie vor existiert. Jetzt haben wir 100 Jahre Frauenwahlrecht und das Verhältnis in Führungspositionen ist noch immer 1:10! Also, ich stehe zehn Männern gegenüber, auch in der Professorenkurie. In der mittleren Ebene gibt es 30 Prozent Frauen, aber im Studium sind weit über 50 Prozent weiblich – da stimmt ja was nicht! Die Frauen gehen eher in Teilzeit und die Männer bleiben in Vollzeit, sie klettern weiter die Karriereleiter nach oben.
Männer werden Institutsvorstände, Männer habilitieren, Frauen bleiben picken. Wir müssen die neuen Familien und ihre Bedürfnisse besser berücksichtigen, mit Job-Sharing, Familienfreundlichkeit und der Möglichkeit, dass Vater und Mutter zu gleichen Teilen für die Versorgung ihrer Kinder aufkommen können. Solange Frauen und Männer nicht die gleichen Bedingungen und Voraussetzungen haben – intrafamiliär, extrafamiliär und vom Arbeitgeber her –, werden wir dieses Problem haben. In den skandinavischen Ländern ist es gang und gäbe, dass Frauen wenige Wochen nach der Geburt wieder zur Arbeit gehen, die Partner arbeiten gleichberechtigt und unterstützen sich ebenbürtig. Ganz wichtig ist auch ein multiprofessionelles Team im Sinne der Primärversorgung. Viele Arbeiten, die bislang vom Arzt ausgeführt wurden, können delegiert werden.
Zum Beispiel?
Siebenhofer: Blutdruckmessen, Diabetesversorgung, Diabetesschulung, Wundmanagement, Gesundheitskompetenzfragen, Aufbau von Gesundheitsförderung und Prävention. In der Primärversorgung sind von der Definition her viele Player an Bord. In Österreich haben wir im OECD-Vergleich die höchste Ärztedichte, aber eine minimale Pflegedichte.
Zur Person
Univ.-Prof. Dr. Andrea Siebenhofer-Kroitzsch leitet das Institut für Allgemeinmedizin und evidenzbasierte Versorgungsforschung (IAMEV), Med Uni Graz, und ist Professorin für chronische Krankheit und Versorgungsforschung und stellvertretende Direktorin des Instituts für Allgemeinmedizin an der Goethe-Universität, Frankfurt, Deutschland.
Primärversorgungskongress
Der 4. Österreichische Primärversorgungskongress mit der OEFOP-Jahrestagung (Österr. Forum für Primärversorgung) findet von 4.–6. April in Graz statt.
Die Schirmherrschaft hat das IAMEV, Med Uni Graz. Inhaltlicher Leiter ist Priv.-Doz. Dr. Stefan Korsatko, Mitarbeiter des Instituts, 1. Bundessprecher und Gründungsmitglied des OEFOP.