Experten warnen: Zu viel Arbeit macht krank
ARBEITSZEITEN: Nicht nur SPÖ und Gewerkschaften protestieren gegen den von der VP/FP- Regierung forcierten „freiwilligen“ 12-Stunden-Tag, auch Arbeitsmediziner, Psychiater und Apothekervertreter warnen vor den Risiken für die Gesundheit.
So viele Menschen waren in der Bundeshauptstadt schon lange nicht mehr auf der Straße: Mehr als 100.000 Teilnehmer, samt SP-Bürgermeister Michael Ludwig, protestierten laut Veranstalter in der Bundeshauptstadt gegen den 12-Stunden-Tag. Die Polizei sprach von 80.000. Doch wie viele es auch waren, die Groß-Demo des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB) am ersten Ferientag der Wiener beeindruckte VP-Bundeskanzler Sebastian Kurz nicht. Auch nicht die Forderung von ÖGB-Chef Wolfgang Katzian nach einer Volksabstimmung. Kurz bekräftigte vielmehr am Montag vergangener Woche gegenüber Ö1, dass das Gesetz am 5. Juli (nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe der Pharmaceutical Tribune) im Parlament ohne weitere Verhandlungen beschlossen werde. Es habe ja bereits „Präzisierungen“ gegeben.
So wie etwa die „Freiwilligkeit“, die auch FP-Sozial- und Gesundheitsministerin Beate Hartinger-Klein betont hatte – der Arbeitnehmer könne ja „Nein“ zur 11. und 12. Stunde sagen, meinte sie in einem Interview mit der „Kleinen Zeitung“. Und würde im Fall einer Kündigung beim Sozialgericht gewinnen. Ihre Vorgängerin, die frühere Gesundheitsministerin und jetzige Gesundheitssprecherin der SPÖ, Dr. Pamela Rendi-Wagner, kann dem Regierungsvorstoß bei den Arbeitszeiten nichts abgewinnen. „Das ist für mich ein gezielter Angriff auf die Gesundheit der Menschen – Menschen sind keine Maschinen und haben natürliche Leistungsgrenzen“, betonte die Ärztin vorigen Dienstag.
Unterstützt wurde sie von prominenten Kollegen: „Das Studienmaterial ist geradezu erdrückend“, sagt Prim. Dr. Erich Pospischil, Präsident der Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Facharzt für Arbeits- und Innere Medizin. Der eindeutige Tenor praktisch aller Untersuchungen: Zu viel Arbeit macht krank. „Bei zwölf Stunden Arbeit pro Tag bzw. 60 Stunden Wochenarbeitszeit gibt es eine Fülle von Problemen“, erklärt Pospischil und führt physische Probleme, etwa durch die muskuläre Belastung, ebenso ins Treffen wie psychische oder auch eine oftmals erhöhte Schadstoffbelastung. Bereits 2014 hatte ein finnisch-schwedisches Wissenschaftlerkollektiv mehr als 600.000 Arbeitnehmer untersucht und ein erhöhtes Risiko für Schlaganfälle bei einer Wochenarbeitszeit von mehr als 55 Stunden festgestellt. 2017 kam diese Forschergruppe zu dem Ergebnis, dass Menschen mit langen Arbeitszeiten ein erhöhtes Risiko für Vorhofflimmern haben. Viele Studien belegen auch, dass Leistungspotenziale ab der 7. bis 8. Arbeitsstunde linear abnehmen.
Nicht nur physische Probleme
Der Arbeitsmediziner und Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, Prof. Dr. Rudolf Karazman, berichtet von Projekten zur Verkürzung der Arbeitszeit, die er für verschiedene Unternehmen durchgeführt hat: „Die Produktivität ist stets gestiegen.“ Ab der 9. Stunde nimmt auch das Risiko für Arbeitsunfälle mit jeder Stunde zu. In der 12. Stunde liegt es bereits um 70 Prozent höher. Und wenn ein Arbeiter in der 13. Stunde nach Hause fährt, besteht auch ein fünffach erhöhtes Risiko für einen Verkehrsunfall.
Das Toxin der modernen Zeit: Stress
„Über diese Daten brauchen wir nicht zu diskutieren, das wäre so, als wenn man anzweifelt, dass die Erde eine Kugel ist“, sagt Prim. Dr. Georg Psota, Past-Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. Er führt die psychischen Erkrankungen ins Treffen, die schon jetzt im Steigen sind. „Das Toxin der heutigen Zeit ist Stress, und der ist assoziiert mit der Dauer der Arbeitszeit“, weiß Psota. Länger arbeiten erhöhe nachweislich das Risiko für psychische Erkrankungen wie Depressionen sowie ungünstiges Gesundheitsverhalten wie weniger Bewegung, Rauchen oder Alkoholkonsum.
Die Experten betonen unisono, dass eine Ausweitung der Arbeitszeiten neben persönlichem Leid auch volkswirtschaftliche Kosten durch erhöhte Belastungen im Gesundheits-, Sozial- und Pensionssystem mit sich brächten. Karazman stellt klar: „Wenn man mehr arbeitet, braucht man mehr Erholungszeit. Deshalb sage ich: Wenn schon ein 12-Stunden-Tag, dann in Kombination mit einer kürzeren Wochenarbeitszeit von 30 Stunden.“
„Für Apotheker schlichtweg abzulehnen“
Wie stehen Sie allgemein zum Vorhaben der Regierung in puncto 12-Stunden-Tag?
Nicht nur der Inhalt des „12-stunden-Tag-Pakets“, sondern auch das Vorgehen der Regierung hat starkes Befremden ausgelöst. Bei einer so weitreichenden Änderung arbeitsrechtlicher Regelungen vom Konsensprinzip der Sozialpartner abzugehen, halte ich für das falsche Signal, sind doch jene „näher dran“ und haben zudem bereits jetzt (!) die Möglichkeit – bei einem wirklichen Bedarf –, sogar auf betrieblicher Ebene eine sachgerechte Lösung für den Einzelfall zu finden. Einer für alle Betriebe geltende gesetzliche Normierung, sprich einer Institutionalisierung des 12-Stunden-Tages für alle Branchen, bedarf es meiner Ansicht nach nicht. Hier wurde eindeutig über das Ziel hinausgeschossen, indem die Ausnahme zur Regel gemacht werden soll, und daher darf man sich auch nicht wundern, wenn von „Wahlgeschenken an die Industriellenvereinigung“ gesprochen wird oder man das Gefühl bekommt, dass die Sozialpartnerschaft „KURZ und KLEIN“ geschlagen werden soll.
Reicht Ihnen der Abänderungsantrag auf freiwillige Zustimmung der Arbeitnehmer nicht?
Mit der Freiwilligkeit ist das immer so eine Sache, wenn sich zwei ungleich starke Partner gegenüberstehen. Und da der Schwächere vom Stärkeren zudem wirtschaftlich abhängig ist, ist die Freiwilligkeit des Dienst-nehmers im Arbeitsrecht ein untaugliches Mittel, sprich: das System wird in der Praxis den Angestellten zum Nachteil gereichen, d.h. noch weniger Überstunden werden ausbezahlt und der Wert der unfreiwillig Unfreiwilligen (z.B. AlleinerzieherInnen) am Arbeitsmarkt wird weiter sinken.
Welche Auswirkungen könnte ein 12-Stunden-Tag auf die Apothekerschaft haben?
Für den überwiegend im Stehen ausgeübten Beruf der angestellten Apotheker ist der institutionalisierte 12-Stunden-Tag schlichtweg abzulehnen, zumal ab der 8. Arbeitsstunde die Fehlerhäufigkeit und die Unfallgefahr deutlich ansteigen und ab der 10. massiv in die Höhe schnellen, wohingegen die Konzentration rasant abnimmt. Ebenso wird bei einem Beruf mit einem Frauenanteil jenseits der 80 Prozent die Vereinbarkeit von Beruf und Familie unnötig erschwert.