29. Juni 201850 Jahre Medical Tribune

Dachs: „Man darf nicht nur aufs Negative schauen“

Der Schwenk von der Ärzteschwemme zum Ärztemangel. Die alte, noch immer aktuelle Forderung nach einem Facharzt für Allgemeinmedizin. Die Notwendigkeit der Attraktivierung der Kassenmedizin. ÖGAM-Präsident Dr. Christoph Dachs erinnert sich und bezieht Stellung. (Medical Tribune 26/18) 

Was sind so Ihre ersten Erinnerungen an den Beruf des Allgemeinmediziners?

„Der Hausarzt kann nicht einfach verschwinden, das wäre eine Katastrophe fürs Gesundheitssystem!“
Dr. Christoph Dachs

Dachs: Wenig Patienten, gemütliches Ambiente und viel Zeit für die Zuwendung zum Patienten. Das war meine Einstiegszeit 1990 in die Allgemeinmedizin, zunächst als Wahlarzt. Da hat man natürlich eine andere Patientenfrequenz als als Kassenarzt. An einem Tag hatte ich damals 24 Patienten, und das hat mich fast überfordert (lacht).

Und wie Sie dann die Kassen bekommen haben?

Dachs: Das war 1994. Ich begann mit einer kleinen Praxis. In dem Siedlungsgebiet, wo ich heute noch bin, hat es bis dahin keinen praktischen Arzt gegeben, allerdings auch noch nicht so viele Einwohner wie heute. Der Bedarf war trotzdem gegeben, und so ist die Praxis in wenigen Jahren relativ groß geworden. Ich hatte aber immer ein gutes Team, das mir viel Arbeit abnimmt.

Wie haben Sie den Schwenk von der Ärzteschwemme in den 1980ern zum Ärztemangel heute erlebt?

Dachs: Natürlich bekommt man das mit. Es ist rapide gegangen, war sehr überraschend. Wenn man der Ärztekammer und den Statistiken glaubt, haben wir 2007 noch mehr als 25 Bewerber pro Kassenstelle gehabt, und jetzt 0,8. Das ist schon ein dramatischer Unterschied.

Waren die Zulassungsbeschränkungen zum Studium ein richtiger Schritt aus Ihrer Sicht?

Dachs: Das ist eine schwierige Frage. Ich bin ja in der Zeit der ersten Ärzteschwemme groß geworden. Es war kurz nach meiner Niederlassung, dass man als Jungarzt sehr lange auf eine Turnusstelle warten musste. In Wien war es dramatisch, mit bis zu sechs Jahren. Es gab nicht wenige Kollegen, die eine Zeit lang Taxi gefahren sind, um sich selbst und vielleicht gar eine Familie zu erhalten. Das ist natürlich nicht gut so. Wenn jemand ausgebildet wird, dann sollte er auch eine Ausbildungsstelle bekommen. Erst kürzlich haben wir mit der Ministerin über den Ärztemangel gesprochen: Eigentlich haben wir in Österreich ja nach wie vor genug Ärzte. Nur nicht dort, wo wir sie haben wollen, sprich: in der Grundversorgung. Auch an den Kliniken haben wir mancherorts schon einen Mangel.

Wo sind die Ärzte?

Dachs: Wir haben zu den Kassenärzten Wahlärzte, Wohnsitzärzte, Ärzte, die in verschiedenen Institutionen arbeiten, die werden alle mitgezählt. Das war auch schon so in der Zeit, in der ich in die Praxis gegangen bin. Die Ärzte haben traditionell die Ordination eröffnet, die Ärztinnen die Familie geschupft, sind daneben vielleicht Schulärztin geworden oder haben in einem Altersheim einen Job angenommen. Das sind genau die Kolleginnen und Kollegen, die uns jetzt fehlen. Wir brauchen Programme, um sie wieder in die Grundversorgung zu holen. Auch Wahlärzte sind ja oft versorgungswirksam. Viele haben das Wahlarztangebot angenommen, weil sie im Kassensystem so manches irritiert. Wahlärzte müssen beispielsweise Nachtdienste nicht in der Form leisten wie wir. Wenn wir einen Teil der Kollegen außerhalb des Systems durch eine Umstrukturierung fürs Kassensystem gewinnen könnten, hätten wir gleich wesentlich weniger Mangel. Wir müssen natürlich auch die Jungen motivieren, in die Allgemeinmedizin zu gehen, weil es aus meiner Sicht ein toller Job ist, mit großer Bandbreite. Man darf den Blickpunkt nicht immer nur aufs Negative setzen, kein Wunder, dass dann die Frustration groß wird.

In Artikeln aus den 80ern ist bereits ein Lehrstuhl für Allgemeinmedizin und der Facharzt mit Lehrpraxis gefordert worden …

Dachs: Ja, diese Forderungen sind schon alt. Seit ich mich politisch engagiere, befinden sich diese Themen am Tapet. In Systemen, von denen man weiß, dass sie gut funktionieren, so wie in Dänemark oder Holland, ist die Allgemeinmedizin eine der führenden Institutionen an Universitäten und führt nicht ein Schattendasein wie an manchen Universitäten in Österreich. Damit gibt es ein ganz anderes Selbstbewusstsein. Wenn wir den Studenten als Zukunftsaussicht bieten können, Fachärzte für Allgemeinmedizin zu werden, mit einer Spezialisierung auf den Menschen als Ganzes, wird das Fach automatisch attraktiver. Wir brauchen eine bessere, etwas längere Ausbildung, dann spricht nichts mehr dagegen. Ich bin optimistisch, dass das kommt.

Kann man nicht gerade auch mit der Lehrpraxis die Jungen für die Allgemeinmedizin begeistern?

Dachs: Ja, da erleben sie vor Ort, wie spannend Allgemeinmedizin sein kann. Ich habe erst kürzlich eine Mail bekommen von einem ehemaligen Studenten, der in meiner Praxis gearbeitet hat. Er wollte eigentlich ein anderes Fach machen, ist dann letzte Woche aber in einen Turnus spezifisch für Allgemeinmedizin eingestiegen, weil ihm die Praxis bei mir so gefallen hat. Das ist für mich ein Beispiel dafür, dass mit einer guten Lehrpraxis viele Anregungen gegeben werden, warum es sich auszahlt, Allgemeinmedizin zu machen. Die ÖGAM arbeitet stark in diese Richtung und macht sich für Systemänderungen stark.

Anfang der 90er hat man befürchtet, dass die Kassenarztstellen für EWR-Ausländer geöffnet werden. Haben Sie Erinnerungen daran?

Dachs: Ich kann mich nicht erinnern, dass das ein großes Thema gewesen wäre. Es ist ja dann auch eher anders passiert, dass viele österreichische Ärzte auswandern, weil sie in Deutschland, Dänemark, England, Schweden bessere Bedingungen vorfinden. Das ist auch ein Grund, warum viele ihre Ausbildung nicht bei uns machen. In Deutschland zum Beispiel ist diese viel besser strukturiert. Wir müssen bei der Ausbildungsqualität nachziehen, wenn wir die Jungärzte in Österreich halten wollen.

Wie hat sich das Bild des Allgemeinmediziners allgemein verändert?

Dachs: Die Allgemeinmedizin war vor 30, 40, 50 Jahren ein Grundversorger und auch ein Rundumversorger am Land. Dort hat der Hausarzt lange Zeit sogar Zähne gezogen. Nur wenn es dringend notwendig war, sind Patienten ins Krankenhaus geschickt worden. Ein Facharzt war meist weit weg. Für die Bevölkerung war klar, dass man zuerst zum Hausarzt geht. Das hat sich gewandelt. In Österreich haben wir ein freies System, der Patient kann sich an jede Fachrichtung wenden. Oft weiß er aber nicht, wo er die beste Versorgung bekommt, es fehlt an Orientierung. Durch die zunehmende Fraktionierung der Medizin geht oft der gesamtheitliche Blick auf den Patienten verloren. Es kommt zu vielen Verschreibungen und überflüssigen Operationen. Eine der wichtigsten Aufgaben des Allgemeinmediziners heute ist es, den Patienten vor Über- aber auch Unterversorgung zu schützen. Als System hat sich bewährt, wenn der Patient vorwiegend zum Hausarzt geht, und nur für Notfälle und spezielle Anliegen zu einem Spezialisten. Es gibt Länder, wo der Patient primär zum Hausarzt gehen muss. In anderen wird er dazu motiviert.

Im Laufe der zurückliegenden 50 Jahre ist natürlich auch die EDV gekommen …

Dachs: Ja, ein Fluch und ein Segen. Wenn es funktioniert, ist es gut, wenn nicht, ist das ein absolutes Ärgernis.

Dass der Hausarzt verschwindet, war schon in den 90ern eine Schlagzeile. Wird er das?

Dachs: Viele unzufriedene Kollegen glauben, dass Politiker die Allgemeinmedizin sowieso abschaffen wollen, was de facto nicht richtig ist. Ich denke, dass wir in Zukunft eine deutliche Aufwertung erfahren werden. Der Hausarzt kann nicht einfach verschwinden, das wäre eine Katastrophe fürs Gesundheitssystem!

Zur Person
MR Dr. Christoph Dachs führt seit Jänner 2010 eine Praxisgemeinschaft für Allgemeinmedizin mit Dr. Doris Dieß in Rif bei Hallein. Davor war er „Einzelkämpfer“ in denselben Räumlichkeiten. Er ist Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (www.oegam.at) und Lehrbeauftragter der Paracelsus Medizinischen Universität Salzburg (www.pmu.ac.at).
Kontakt: Rifer Hauptstraße 34, 5400 Hallein, Tel. +43 (0)6245-762 20 Internet: www.diessunddachs.at

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune