EHC: Wie behandelt man Medikamentenübergebrauchskopfschmerz?
Chronischer Übergebrauch von Schmerzmedikation kann zu Medikamentenübergebrauchskopfschmerz und im Falle des Absetzens der Medikation zu schweren Entzugssymptomen führen. Die ideale Therapie dieses Zustandsbildes ist in Diskussion, verbesserte Optionen in der Prävention akuter Migräneattacken haben sich jedenfalls als hilfreich erwiesen.
Medikamentenübergebrauchskopfschmerz (medication-overuse headache, MOH) inklusive chronischer Migräne mit Medikamentenübergebrauch tritt weltweit mit einer mittleren 1-Jahres-Prävalenz von rund 2% auf. Regionale Zahlen sowie Zahlen in unterschiedlichen Studien schwanken jedoch stark, wobei die höchsten Werte in Afrika berichtet werden, wie Prof. Dr. Sait Ashina von der Universität Harvard ausführt. In Zentren mit Spezialisierung für die Behandlung von Kopfschmerz liegt die Prävalenz teilweise bei bis zu 70%, wie beispielsweise Daten aus Lateinamerika zeigen.
Eine amerikanische Studie aus dem Jahr 2008 zeigt, dass Migränepatienten und -patientinnen häufig einen starken Gebrauch von Schmerzmedikamenten aufweisen, wobei besonders OTC-Mischpräparate, Paracetamol und NSAR häufig eingenommen wurden. Hinzu kommt speziell in den USA das Problem des Konsums von Opioiden sowie Barbituraten. Im Gegensatz dazu nahmen die Befragten migränespezifische Akutmedikamente wie zum Beispiel Triptane nur an durchschnittlich 2 Tagen pro Monat ein.1 Allerdings zeigten Vergleiche von Patientinnen und Patienten, die vor bzw. nach 1995 in Behandlung kamen, dass der Gebrauch von Triptanen und ASS ansteigt, während NSAR weniger eingenommen werden. Der Opioidgebrauch war mit rund 30% konstant hoch.2 Mittlerweile verlangt in den USA die FDA Warnhinweise auf OTC-Medikamentenpackungen, die auf das Risiko von Medikamentenübergebrauch aufmerksam machen.
Entgiftung und anhaltende Reduktion von Kopfschmerz
Bei Medikamentenübergebrauchskopfschmerz sind grundsätzlich 2 Behandlungsziele anzustreben, so Ashina. Zum einen die Entgiftung (Detox) und zum anderen die Kontrolle des zugrundeliegenden Kopfschmerzes. Mit dem Entzug soll letztlich auch das Ansprechen auf akute und präventive Therapien verbessert werden. Die verfügbare Evidenz zur Behandlung von MOH ist limitiert und zahlreiche Fragen sind aktuell offen. Dies betrifft etwa die Vor- und Nachteile von abruptem Absetzen und langsamem Ausschleichen sowie die Diskussion um stationäre oder ambulante Behandlung. Nicht-pharmakologische Maßnahmen wie zum Beispiel Verhaltenstherapie spielen in der Behandlung von Medikamentenübergebrauch eine wichtige Rolle. Personen mit MOH erleben beim Absetzen ihrer Medikamente zum Teil schwere und bis zu 2 Wochen andauernde Entzugssymptome, namentlich Verschlechterung der Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen, Bluthochdruck, Tachykardie, Schlafstörungen, Rastlosigkeit, Angst und Nervosität. Ashina: „Die Patientinnen und Patienten beschreiben diese Zustände als grauenvoll.“
Entzug zuerst? Der europäische und der amerikanische Weg
Ashina ist Erstautor eines rezenten internationalen Konsensusdokuments3, das zwischen Medikamentenübergebrauch (weniger als 15 Kopfschmerztage im Monat), MOH (mindestens 15 Kopfschmerztage im Monat) und komplexem MOH unterscheidet. Bei Letzterem werden auch problematische Substanzen wie Opioide und Barbiturate an mindestens 10 Tagen im Monat eingenommen. Während der Erstellung des Dokuments gab es zum Teil sehr kontroverse Diskussionen, so Ashina, die auch nicht zwingend zu Ergebnissen bzw. Einigungen führten.
Bei den unkomplizierten Formen von Medikamentenübergebrauch bzw. Medikamentenübergebrauchskopfschmerz gibt es 2 Pfade, nach denen die Behandlung erfolgen kann. Sind die Betroffenen motiviert, den Medikamentenübergebrauch zu beenden, so kann bereits initial ein ambulanter oder stationärer Entzug versucht werden. Auf diesen soll im Anschluss eine wirksame Migräneprävention, beispielsweise mit Antikörpern gegen CGRP, begonnen werden. Alternativ kann auch zuerst die Attackenprävention begonnen und erst in weiterer Folge versucht werden, die Akutmedikation zu reduzieren. In beiden Fällen wird eine langfristige präventive Behandlung in einem Kopfschmerzzentrum angeraten. Bei kompliziertem MOH sind eine Suchtbehandlung sowie multimodale Schmerztherapie zu empfehlen. Werden Opioide oder Barbiturate eingenommen, können die Patientinnen und Patienten nicht einfach einem „kalten Entzug“ ausgesetzt werden, sondern benötigen von Spezialistinnen oder Spezialisten geplante Strategien der Medikamentenreduktion und des langsamen Ausschleifens in Kombination mit fachgerechter Suchttherapie. Ashina weist in diesem Zusammenhang auch auf die besonderen Probleme eines Barbituratentzugs hin, der stationär und unter Medikation erfolgen muss.
Ashina betont auch, dass die beiden Pfade des Therapiealgorithmus in Europa und den USA unterschiedliche Bedeutung haben. Während man in Europa vorzugsweise zuerst einen Entzug durchführt, steigt man in den USA eher mit einer präventiven Behandlung der Migräne in die Therapie ein. Dies habe primär soziökonomische Gründe, so Ashina, da in den USA lange Krankenstände, wie man sie für eine stationäre Entzugsbehandlung benötigt, von den Arbeitgebern schlecht akzeptiert werden und auch Urlaubsansprüche sehr begrenzt sind.
Anti-CGRP-Antikörper reduzieren Medikamentenübergebrauch
Daten zur Wirksamkeit der präventiven Therapien bei MOH sowie chronischer Migräne mit Medikamentenübergebrauch liegen vor allem für die Anti-CGRP-Antikörper sowie für Atogepant vor. Unter den konventionellen Therapien wurden lediglich Topiramat (23 Patientinnen und Patienten) sowie Onabotulinum-Toxin A in dieser Indikation untersucht. Klasse-I-Evidenz liegt, so Ashina, damit lediglich für Onabotulinum-Toxin A und die Anti-CGRP-Antikörper vor. Allerdings handelte es sich dabei ausschließlich um Übergebrauch von konventionellen Analgetika oder Triptanen. Patientinnen und Patienten mit Opioid- oder Barbiturat-Übergebrauch waren aus den Studien ausgeschlossen. Für die Anti-CGRP-Antikörper zeigen Subgruppenanalysen der Phase-III-Studien sehr deutliche Auswirkungen sowohl auf die Zahl der monatlichen Kopfschmerztage als auch auf den Medikamentenübergebrauch, der unter präventiver Therapie innerhalb von 3–6 Monaten bei rund der Hälfte der Patientinnen und Patienten (je nach Studie und Dosierung 35–60%) verschwindet. Durch alle Studien mit Anti-CGRP-Antikörpern wurden signifikante Reduktionen der monatlichen Kopfschmerztage quer durch die untersuchten Populationen, also auch bei Medikamentenübergebrauch, erreicht.3
Studien zu unterschiedlichen Strategien für die Behandlung von MOH
Mittlerweile wurden auch mehrere Studien durchgeführt, die die Behandlung von Medikamentenübergebrauchskopfschmerz als primären Endpunkt untersuchten. Vor fast 10 Jahren entwickelte eine internationale Gruppe von Klinikerinnen und Klinikern ein Protokoll für die Behandlung von MOH und untersuchte dieses in einer Studie mit mehr als 300 Patientinnen und Patienten, von denen 78% ambulant und 22% stationär behandelt wurden. Insgesamt schlossen 321 Teilnehmende die Studie ab, 266 erhielten eine präventive Therapie. Nach 6 Monaten zeigten zwei Drittel der Probandinnen und Probanden keinen Medikamentenübergebrauch mehr und bei 46,5% besserte sich die Grunderkrankung von der chronischen zu einer episodischen Migräne. Die Autorinnen und Autoren betonen, dass der Entzug sowohl ambulant als auch stationär möglich war, es bei ambulanter Durchführung allerdings zu einer höheren Zahl von Abbrüchen kam.4
Eine etwas rezentere dänische Studie zeigt, dass sich die Frage nach Vor- und Nachteilen der europäischen und amerikanischen Strategien nicht evidenzbasiert beantworten lässt, bzw. dass beide Strategien gleich wirksam sind. Verglichen wurden in einem randomisierten Design 3 Strategien zur Behandlung von MOH, nämlich Entzug plus präventive Behandlung, präventive Behandlung ohne Entzug und Entzug mit optionaler präventiver Behandlung 3 Monate nach dem Entzug. Primärer Endpunkt war die Zahl der monatlichen Kopfschmerztage über 6 Monate. Die Studie ergab keine signifikanten Unterschiede zwischen den Behandlungsarmen. Unter Entzug plus präventiver Therapie nahm die Zahl der Kopfschmerztage um 12,3 ab. Mit präventiver Therapie allein wurden die Kopfschmerztage um 9,9 reduziert und mit Entzug allein kam es zu einer Reduktion um 8,5 Kopfschmerztage. Die Differenz zwischen den Armen war nicht signifikant.5 Die Studie wurde nach der Auswertung fortgesetzt, wobei ein Follow-up nach einem Jahr ebenfalls keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen ergab. Als erfreulichen Befund erwähnen die Forschenden, dass insgesamt die Rückfallraten über den gesamten Beobachtungszeitraum gering waren.6
Die aktuellste Studie zum MOH ist die MOTS-Studie, die mit 720 Patientinnen und Patienten an 34 Zentren in den USA durchgeführt wurde. In dieser pragmatischen Studie wurde die amerikanische Behandlungsstrategie untersucht, nämlich eine präventive Migräneprophylaxe ohne Entzug zu beginnen. In einer der beiden Studiengruppen konnten die Patientinnen und Patienten ihre gewohnte Akutmedikation weiter einnehmen, in der 2. Gruppe wurden sie angewiesen, auf ein alternatives Akutmedikament umzusteigen und dieses nach Möglichkeit an maximal 2 Tagen in der Woche einzunehmen (Switch). Auch in dieser Studie ergaben sich keine Unterschiede zwischen den Studienarmen. Mit beiden Strategien ging die Zahl der Kopfschmerztage deutlich zurück, wobei in beiden Armen auffiel, dass die Wirkung der Therapie erst ab der 3. Woche einsetzte. Allerdings zeigte sich hinsichtlich des sekundären Endpunkts Prävalenz von Medikamentenübergebrauch ein Vorteil für die Switch-Strategie. Subgruppenanalysen legen unter anderem nahe, dass Patientinnen und Patienten mit hohem Angst-Score bei Einschluss bessere Ergebnisse erzielen, wenn sie nicht switchen, während jene mit sehr hohem Medikamentengebrauch mit der Switch-Strategie besser behandelbar sind.7
„Medication overuse: A new story?“, Plenary Session am 17. European Headache Congress (EHC), Barcelona, 6.12.2023
- Bigal ME et al. Cephalalgia. 2009 Aug; 29(8):891–7
- Bigal ME et al. Cephalalgia. 2004 Jun; 24(6):483–90
- Ashina S et al. Nat Rev Dis Primers. 2023 Feb 2; 9(1):5
- Tassorelli C et al. Cephalalgia. 2014 Aug; 34(9):645–655
- Carlsen NL et al. JAMA Neurol. 2020 Sep 1; 77(9):1069–1078
- Carlsen NL et al. Headache. 2021 Jul; 61(7):1112–1122
- Schwedt TJ et al. Neurology. 2022 Apr 5; 98(14):e1409–e1421