12. Juni 2024Herausforderung in der Therapie

ÖSG: Süchtige Personen in der Schmerzbehandlung

Wie oft Abhängigkeiten nach Opioidtherapien auftreten und wie mit Sucht in der Schmerzbehandlung umgegangen werden kann, erklärt Univ.-Prof. Dr. Sabine Sator.

Der Konsum von Opioiden und anderen Drogen nimmt zu. Menschen sind verzweifelt süchtig nach Schmerzmitteln.
Antonio Rodriguez/AdobeStock

Patientinnen und Patienten mit einer Suchterkrankung können und sollen eine adäquate Schmerztherapie erhalten. „Während das Wort Sucht negativ belegt ist“, so Univ. Prof. Dr. Sabine Sator, Klinische Abteilung für spezielle Anästhesie und Schmerztherapie, MedUni Wien, „könnte man diese nicht nur als Sucht nach Substanzen definieren, sondern auch als Suche nach einem Ausstieg.“ Wie häufig Suchterkrankungen vorliegen, illustrieren rezente Daten (2023) aus Österreich, wonach laut WHO-Definition rund 1,4 Millionen Menschen hierzulande alkoholabhängig sind, davon 8,2% Jugendliche im Alter von 12–17 Jahren.

Opioidabhängigkeit nach Schmerztherapie?

Unter den Patientinnen und Patienten, die eine Substitutionstherapie erhalten, steht die Opioidabhängigkeit mit über 80% im Vordergrund. In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage nach der Inzidenz des Auftretens einer Abhängigkeit nach einer Opioidtherapie auf. Die Antwort darauf liefert eine 12 Studien umfassende Metaanalyse. Sie beziffert die Zahl der Opioidabhängigkeit bzw. des Missbrauchs nach derartigen Behandlungen mit 4,7%. Sator: „Interessanterweise zeigten dabei Patientinnen und Patienten, die einer längeren und stärkeren Analgetika-Exposition ausgesetzt waren, eine geringere Inzidenz der Opioidabhängigkeit als diejenigen unter einer schwächeren Behandlung.“

Eine weitere Studie untersuchte, ob sich aufgrund der Verschreibungshistorie vorhersagen lässt, welches Patientenkollektiv ein höheres Missbrauchs- bzw. Mortalitätsrisiko aufweist. Die Auswertung ergab, dass Insulin möglicherweise auf ungünstige Weise mit Opioiden interagiert, Menschen mit Diabetes erhöhte Komplikationsraten aufweisen und daher besonders gefährdet sein könnten.

Drogenersatztherapien zu selten?

Opioidkonsumstörungen (OUD) werden durch den Gebrauch von Heroin und synthetischen Opioiden (Fentanyl und seine Analoga) weiter verstärkt. Wirksamen Medikamenten zur Behandlung der OUD kommt daher eine große Bedeutung zu, werden aber nicht häufig genug eingesetzt, so Sator: „Oft hakt es auch an der Nachverfolgung dieser Patientinnen und Patienten und der Berücksichtigung von Komorbiditäten wie Angsterkrankung, Depression und Suizidalität, die wenig beachtet werden, sodass Betroffene immer wieder rückfällig werden.“ Eine Verbesserung der Behandlungserhaltung und stärkere Einbeziehung weiterer Gesundheitsberufe könnte diesem Trend entgegenwirken und die Mortalitätsraten senken.

Für die Drogenersatztherapie stehen als Mittel der ersten Wahl Methadon und Buprenorphin, jeweils in einer für die peroralen Einnahme geeigneten Zubereitung zur Verfügung. „Nur bei Unverträglichkeit dürfen andere Substitutionsmittel wie die retardierten Morphine, Morphinhydrochlorid und Morphonpentasulfat verschrieben werden“, erklärt Sator.

Analgesie bei Sucht

Neben der Stabilisierung der Abhängigkeit durch eine geeignete Substitutionsbehandlung sollte vor medizinischen Interventionen darauf geachtet werden, Stress für diese besonders vulnerable Gruppe zu vermeiden. „Das heißt, medikamentöse Therapien sollten auf jeden Fall weiterlaufen und keinesfalls abgesetzt werden, weder vor noch nach Operationen“, warnt Sator. Problematisch sind auch insuffizient durchgeführte Schmerztherapie, die den Umgang der Patientinnen und Patienten mit ihrer Suchtproblematik erschweren können, da sie das Verlangen nach Drogen bzw. den Rückfall in die Sucht begünstigt. Sator: „Während Opioid-Retardpräparate die Basis der Schmerztherapie sind, sollte man darauf achten, dass Patientinnen und Patienten auch Nichtopioid-Analgetika wie NSAR, Paracetamol und Metamizol erhalten. Um postoperative Probleme zu hintanzuhalten, ist es angebracht, Remifentanil intraoperativ zu vermeiden.“ Koanalgetika wie trizyklische Antidepressiva können zur Behandlung von Schlafstörungen und Angstzuständen eingesetzt werden und auch, um den „Drogenhunger“ zu stillen. Clonidin in niedriger Dosierung kann die Wirkung von Opioiden verstärken und die von Lokalanästhetika verlängern. Analgetisch wirksam und opioidsparend ist auch S-Ketamin in niedriger Dosierung.  Moderne Antikonvulsiva können sowohl prä- als auch postoperativ eingesetzt werden. Detailliertere Empfehlungen zum perioperativen Management bei Opioidabhängigkeit finden sich auf der Homepage der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI).

Neuentwicklungen in der Schmerzbehandlung

Um den Bedarf an sicheren Schmerztherapien mit geringer Missbrauchsanfälligkeit zu decken, werden derzeit Substanzen geprüft, die sowohl an den Mu-Opioid(MOR)- als auch an Dopamin-D3-Rezeptoren binden. Im Nagetierversuch konnte damit eine Aufrechterhaltung der Analgesie mit reduziertem Suchtpotenzial nachgewiesen werden. Daten an weiteren Tiermodellen belegen, dass auch die Verabreichung von Sekreten aus humanen mesenchymalen Stammzellen (hMSC) die Entwicklung von Opioid-Entzugserscheinungen reduzieren könnten.
Neuigkeiten kommen auch aus dem phytomedizinischen Bereich: Präklinische Daten bescheinigen der Substanz Levo-Tetrahydropalmatin sowie deren Metaboliten ebenfalls eine hohe analgetische Wirksamkeit ohne Suchtpotenzial. Die verfügbaren pharmakokinetischen Informationen weisen darauf hin, dass sie sich auch für den klinischen Einsatz ohne schwere Nebenwirkungen eignen könnten.