20. Dez. 2021Medikamentöse Therapie des neuropathischen Schmerzes

Aus einem breiten Spektrum an Möglichkeiten schöpfen

Auf dem 28. Kongress der Österreichischen Schmerzgesellschaft (ÖSG) sprach Dr. Gabriele Grögl-Aringer in ihrem Vortrag darüber, worauf bei der medikamentösen Therapie des neuropathischen Schmerzes zu achten ist, und wies besonders darauf hin, dass individuelle Therapieversuche sich lohnen.

Frau, die unter starken Kopfschmerzen oder Migräne leidet. Termin mit Arzt im Büroraum. Kranke und unwohle Dame mit Stress, Trauma oder Burnout. Junge Patientin mit Schmerzen, die den Kopf mit den Händen hält.
iStock/Tero Vesalainen

Neuropathischer Schmerz ist auf die Schädigung oder Erkrankung des somatosensorischen Systems zurückzuführen. Für die Therapie ist es wichtig, sich die Frage zu stellen, ob es sich allein um einen neuropathischen Schmerz handelt oder ob auch eine nozizeptive Komponente dabei ist („mixed pain“, der typisch für Rücken- und Tumorschmerzen ist).

„Aus pathophysiologischer Sicht haben wir es mit einer pathologischen Spontanaktivität in nozizeptiven Afferenzen aufgrund morphologischer, biochemischer und physiologischer Veränderungen zu tun. Wir haben dadurch bedingt eine Proliferation der Natriumkanäle (Nav1.3/Nav1.7/Nav1.8 sind betroffen, Anm.). Das erklärt, warum Antikonvulsiva mit Wirkung auf die Natriumkanäle eingesetzt werden“, erläutert OÄ Dr. Gabriele Grögl-Aringer, Abteilung für Anästhesie und operative Intensivmedizin, Klinik Landstraße (ehemals Rudolfstiftung). Es kommt auch zu einer gesteigerten Expression der α2δCa++-Kanäle, daher werden Antikonvulsiva mit Wirkung auf neuronale Kalziumkanäle eingesetzt. Außerdem nimmt die intraepidermale Nervenfaserdichte ab.

(c) B&K/Nicholas Bettschart, B&K Bettschart & Kofler Kommunikationsberatung, Pressekonferenz der Österreichischen Schmerzgesellschaft, Wien
B&K/Nicholas Bettschart

OÄ Dr. Gabriele Grögl-Aringer

Zu Beginn der Therapie sollte man sich Behandlungsziele setzen (z.B. Schmerzreduktion um 30–50 Prozent, funktionelle Verbesserung, Verbesserung der Schlafqualität und der Lebensqualität, Erhaltung der sozialen Aktivitäten und der sozialen Kontakte, Erhaltung der Arbeitsfähigkeit), empfiehlt die Expertin. Sie rät auch dazu, in der Therapie medikamentöse und nicht-medikamentöse Verfahren zu kombinieren. Bei vielen Patienten ist es unumgänglich, verschiedene Medikamente miteinander zu kombinieren – so erzielt man synergistische Effekte und kann die Dosierung der einzelnen Substanzen geringer ansetzen, womit auch weniger Nebenwirkungen auftreten. Wichtig ist es auch, die Medikation nach vernünftigen Kriterien zu evaluieren.

Vor Therapiebeginn sollten die Patienten über einige wesentliche Dinge aufgeklärt werden:

  • Schmerzfreiheit ist nicht bei allen Patienten zu erreichen.
  • Nebenwirkungen können teilweise stark sein und sogar zum Medikationsabbruch führen.
  • Es kommt zu einem zeitlich verzögerten Wirkeintritt der Medikamente.
  • Die Dosierung ist individuell je nach Symptomatik, Therapieerfolg und Nebenwirkungen.
  • Die verordneten Medikamente sind oft im Off-Label-Use.

Antikonvulsiva

First-Line-Therapie bei der Behandlung neuropathischer Schmerzen sind Antikonvulsiva, die auf die neuronalen Kalziumkanäle über eine Reduktion des aktivierenden Kalziumeinstroms wirken.

Bei Gabapentin sind die therapielimitierenden Nebenwirkungen vor allem periphere Ödeme, Myalgien und Gewichtszunahme. Im Falle einer Nierenfunktionsstörung muss die Dosierung gesenkt werden (TMD 150–600 mg, je nach GFR), bei Leberfunktionsstörung ist keine Dosisreduktion nötig.

Bei Pregabalin muss im Falle einer bei Nierenfunktionsstörung die Dosierung ebenfalls reduziert werden (TMD 25–150 mg, je nach GFR), bei Leberfunktionsstörung ist auch hier keine Dosisreduktion notwendig. Als therapielimitierende Nebenwirkungen können vor allem Sehstörungen, Gewichtszunahme und periphere Ödeme angesehen werden. Beide Substanzen haben nichts mit dem Cytochrom-P450-System zu tun, daher kommt es zu keinen Arzneimittel-Interaktionen, was gerade für polymorbide Patienten mit Polymedikation sehr wichtig ist. „Für beide Substanzen gilt: mit niedriger Dosierung abends beginnen und sehr individuell dosieren. Viele ältere Patienten kommen mit einer geringen Dosis aus und sind damit gut eingestellt“, erklärt Grögl-Aringer. Bei Antikonvulsiva mit Wirkung auf die Natriumkanäle kommt es durch die Membranstabilisierung zu einer Reduktion der Spontanaktivität.

Carbamazepin hat eine First-Line-Empfehlung für Trigeminusneuralgie und ist nur zugelassen für Trigeminusneuralgie, Glossopharyngeusneuralgie und diabetische Neuropathie, für alle anderen Anwendungen ist es im Off-Label-Use.

Weitere Medikamente in dieser Substanzgruppe sind Oxcarbazepin (cave: schwere allergische Hautreaktionen als Nebenwirkung), Lacosamid und Lamotrigin; sie sind im Off-Label-Use, und es gibt nur moderate Empfehlungen für individuelle Therapieversuche.

Eine therapielimitierende Nebenwirkung aller Substanzen ist die Hyponatriämie (Werte kontrollieren!), bei Carbamazepin auch Agranulozytose und Herzrhythmusstörungen.

Trizyklische Antidepressiva

First-Line-gelistet sind auch die Trizyklischen Antidepressiva. Sie entfalten ihre duale Wirkung über die Wiederaufnahme-Hemmung von Noradrenalin und Serotonin sowie über die Blockade der Natriumkanäle. Therapielimitierende Nebenwirkungen sind vor allem Mundtrockenheit, Hyponatriämie (Werte kontrollieren!) und Herzrhythmusstörungen, weiters Libidoverlust und Erektionsstörungen, worüber die Patienten auf jeden Fall aufgeklärt werden müssen, wie Grögl-Aringer betont. Auf Arzneimittel-Interaktionen ist bei Kombination mit MAO-Hemmern, anticholinergen und adrenergen Substanzen zu achten. Bei höheren Dosierungen sind mehr Nebenwirkungen zu erwarten, wobei geriatrische Patienten besonders von kardialen Nebenwirkungen betroffen sind.

Selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer

SSNRI (Selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Inhibitoren) sind ebenfalls First-Line-Therapie.

Duloxetin ist zugelassen für diabetische Neuropathie, sonst im Off-Label-Use. Therapielimitierende Nebenwirkungen sind vor allem Mundtrockenheit, Hyponatriämie (Werte kontrollieren!) und Schwitzen. Eine Kontraindikation ist Niereninsuffizienz, was insofern problematisch ist, als Diabetiker oft Nierenfunktionsstörungen aufweisen und die Substanz daher nicht eingesetzt werden kann. Bei Rauchern kommt es über die Induktion des CYP1A2 zu einer deutlichen Steigerung der Metabolisierung von Duloxetin, sodass die Dosis stark erhöht werden muss.

Für Venlafaxin gibt es keine direkten Empfehlungen, aber es liegen sehr gute Daten für diabetische Polyneuropathie vor. Ein individueller Therapieversuch lohnt sich jedenfalls.

Für Milnacipran gibt es überhaupt keine Therapieempfehlung.

Nicht-Opioide und Opioide Schmerzmittel

Für Nicht-Opioide ist laut Leitlinien keine Wirksamkeit beschrieben, aber aus der klinischen Praxis kann Grögl-Aringer bestätigen, dass manche Patienten eine Symptomlinderung durch die Verabreichung von Metamizol aufweisen. „Ein Therapieversuch mit Metamizol kann daher durchgeführt werden. NSAR, Coxibe und Paracetamol sind hingegen bei neuropathischen Schmerzen wirkungslos“, berichtet die Anästhesistin.

Opioide sind in der neuen Leitlinie als Third-Line-Therapeutika gelistet, wobei die besten Erfolge mit Tramadol, Oxycodon und Buphrenorphin erzielt werden können.

Cannabinoide

Die einzige Therapieempfehlung für Cannabinoide besteht derzeit für die Add-on-Therapie bei neuropathischem Schmerz, und zwar dann, „wenn wir ein Versagen oder eine Kontraindikation der First-, Second- und Third-Line-Therapie haben. Es gilt: start low, go slow, also mit einer geringen Initialdosis abends beginnen und dann die Dosis alle zwei bis drei Tage erhöhen“, erläutert Grögl-Aringer.

Bei Erfolg der Cannabinoid-Therapie kann versucht werden, die Komedikation zu reduzieren. Bei Auftreten von leichten Nebenwirkungen kann entweder bei unveränderter Dosierung das Sistieren der Nebenwirkung abgewartet oder eine Dosisreduktion auf das Niveau, unter welchem noch keine Nebenwirkung vorhanden war, durchgeführt werden. Nach Abklingen der Nebenwirkung kann vorsichtig versucht werden, die Dosierung neuerlich zu steigern. Gravierende Nebenwirkungen erfordern ein Absetzen des Cannabinoids, wobei bei hoher Dosierung zur Vermeidung von Entzugssymptomen ausgeschlichen werden sollte.

Botolinumtoxin A

Die Wirkung von Botulinumtoxin A ist nicht ganz geklärt. Man vermutet, dass es durch eine verminderte Freisetzung von proinflammatorischen Mediatorsubstanzen (Substanz P, Glutamat, CGRP) wirkt. Die Substanz ist als Third-Line-Therapie gelistet und im Off-Label-Use.

Topische Therapie

Zur topischen Therapiezählen das 5%ige Lidocain-Pflaster, das die Natriumkanäle blockiert, und das 8%ige Capsaicin-Pflaster, das zunächst zur Sensibilisierung der TRPV1-Rezeptoren und damit auf der Applikationsstelle zu schmerzhaften brennenden Sensationen führt (Coolpacks auflegen!). Darauf folgt die Desensibilisierung und schließlich die Defunktionalisierung dieser Rezeptoren, was zur Schmerzlinderung oder Schmerzfreiheit für meist drei bis fünf Monate bei Respondern führt. Treten danach wieder Schmerzen auf bzw. kommt es zu einer Verschlechterung der Schmerzen, kann das Capsaicin-Pflaster erneut appliziert werden.

Nicht in den Leitlinien befindet sich Ambroxol, das als 20%ige Ambroxol-Salbe angewendet wird (2–3-mal täglich auftragen) und als Sekrolytikum bekannt ist. Die Substanz hat jedoch ausgeprägte lokalanästhetische Eigenschaften (40-fach höhere Hemmung des Natriumeinstroms an den Natriumkanälen verglichen mit Lidocain), unter anderem auf Nav1.8, der beim neuropathischen Schmerz hochreguliert wird.

Therapieresistenz

Abschließend weist Grögl-Aringer darauf hin, dass bei Therapieresistenz im individuellen Therapieversuch folgende Medikamente probiert werden sollten, bevor man ein invasives Vorgehen in Betracht zieht: Esketamin, das ein kompetitiver NMDA(N-methyl-D-Aspertat)-Rezeptor-Antagonist ist, agonistische Effekte an den Opioidrezeptoren hat, die Wiederaufnahme der Neurotransmitter Noradrenalin, Serotonin und Dopamin hemmt sowie spannungsabhängige Natrium- und Kalziumkanäle blockiert, und Lidocain, das spannungsabhängige Natriumkanäle blockiert. Esketamin wird per os als Kapseln à 10 mg (TMD 60 mg) verabreicht oder als Kurzinfusion à 5 mg über 20 min (bei einer Dosierung von 10 mg kann zu es zu halluzinativen, unangenehmen psychotropen Nebenwirkungen kommen), Lidocain als Kurzinfusion à 50 mg über 20 min (z.B. bei Patienten mit Gesichtsneuralgie, die eine Exazerbation erfahren haben).