10. Jän. 2024Seltene Erkrankungen

Friedreich-Ataxie: „Die Patientengruppe verdient es, wahrgenommen zu werden“

PD Dr. Sylvia Boesch, MSc, leitet Österreichs einziges Zentrum für Seltene Bewegungsstörungen an der Medizinischen Universität Innsbruck. Sie erklärt, warum bei Friedreich-Ataxie der Blick auf Forschung und Genetik genauso bedeutsam ist wie die Kommunikation mit den erkrankten Menschen.

Inhaltsverzeichnis

Etwa 200–300 Menschen dürften in Österreich an Friedreich-Ataxie erkrankt sein, etwas weniger als die Hälfte davon kennen PD Dr. Sylvia Boesch, MSc, und das Team des Zentrums für Seltene Bewegungsstörungen an der Innsbrucker Universitätsklinik für Neurologie. In der Regel werden die Patientinnen und Patienten einmal jährlich zu Kontrolluntersuchungen eingeladen, ansonsten jedoch wohnortnahe und auch durch ihre Hausärztinnen und Hausärzte betreut.

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Privat

PD Dr. Sylvia Boesch, MSc

Das Team orientiert sich dabei an internationalen Standards und steht in engem Austausch mit anderen Zentren in ganz Europa.

Sie selbst habe sich durch ihr Interesse an der Neurogenetik und an Bewegungsstörungen – ebenso durch ihre Dissertation zu Morbus Parkinson – auf diesen Bereich spezialisiert. „Wir verstehen heute auf molekularer Ebene immer besser, was bei der Friedreich-Ataxie genau passiert – nicht zuletzt dank neuer Technologien wie dem Whole Genome Sequencing. Wir sitzen jedoch Patienten und Patientinnen gegenüber, die ihre Symptome verstehen und vor allem optimal betreut werden wollen“, sagt Boesch.

Dass es einige Wochen oder gar bis zu 3 Monate dauern kann, bis ein genetischer Befund vorliegt, erklärt Boesch so: „Die Zeit bis zum Vorliegen des Befundes wird durch Sequenziermaschinen zwar verkürzt, die Befunde müssen aber fachkundig evaluiert und interpretiert werden – das braucht Know-how und Zeit.“

Individuelle Verlaufsformen

Das Alter bei Erkrankungsbeginn und das Ausmaß der genetischen Veränderung – gemessen an der Zahl der „GAA Repeats“ – geben zwar Hinweise auf den zu erwartenden Verlauf der Bewegungsstörung und ermöglichen es, das Risiko für Herzveränderungen oder Diabetes einzuschätzen. Aber es gibt dennoch individuelle Unterschiede, betont Boesch. Mit Fortschreiten der Erkrankung benötigen die meisten der Patientinnen und Patienten einen Rollstuhl, um ihre Mobilität zu erhalten.

Boesch appelliert vor allem an alle im Gesundheitswesen Beschäftigten sowie an die Gesellschaft, die oft wegen ihrer auffälligen Bewegungen beachtete Patientengruppe mit ihren Stärken und Fähigkeiten wahrzunehmen: „Die Gruppe hat es sich verdient, wahrgenommen zu werden: Es sind junge und engagierte Menschen: Sie können die Schule besuchen und eine Ausbildung machen, viele sind auch im Behindertensport sehr aktiv.“ Voraussetzungen dafür sind jedoch Barrierefreiheit und Rücksichtnahme darauf, dass sie etwas mehr Zeit für die Erledigung ihrer Aufgaben benötigen. Die Innsbrucker Neurologin begrüßt daher auch „jede Form des Patient Empowerment“ wie die Gründung der Selbsthilfegruppe in Österreich. „Wir haben hier noch nicht so lange eine Tradition dafür, daher ist es auch besonders schön, dass sich Pro Rare als Dachverband auch darum kümmert.“

Fakten-Check Friedreich-Ataxie (FA)

Als fortschreitende neurologische Erkrankung wurde sie erstmals 1863 von dem deutschen Neurologen Nikolaus Friedreich beschrieben. Die Erkrankung manifestiert sich in der Regel vor dem 25. Lebensjahr; im Mittel zwischen dem 10. und 15. Lebensjahr, wobei Mädchen und Burschen bzw. Frauen und Männer gleich häufig erkranken. Am Anfang steht eine ataktische Gangstörung, die sich bei Ausschaltung der visuellen Kontrolle (Dunkelheit) verschlechtert. Die klinische Symptomatik ist Ausdruck einer progredienten Degeneration der Spinalganglien, der spinozerebellären, kortikospinalen und Hinterstang-Bahnen sowie des Kleinhirns. Eine Beteiligung des peripheren Nervensystems zeigt sich in einer gemischt sensibel-motorischen axonalen Neuropathie. Eine Herzmuskelschwäche (Kardiomyopathie) kann auftreten, ebenso Diabetes mellitus, Optikusatrophie, auch Schwerhörigkeit oder Blasenfunktionsstörungen.

Dass die Patientinnen und Patienten im Alltag oft für „betrunken“ oder „unter Drogeneinfluss“ gehalten werden, liegt daran, dass die FA besonders Nervenstrukturen im Rückenmark und Kleinhirn betrifft, die für die Bewegungssteuerung verantwortlich sind. Übermäßiger Alkoholkonsum führt in ähnlicher Weise zu einer vorübergehenden Einschränkung der Funktion dieser neuronalen Strukturen.

Friedreich-Ataxie wird autosomal rezessiv vererbt, im Detail findet sich die genetische Ursache auf dem FXN-Gen (Frataxin), wobei die Anzahl der GAA Repeats (insbesondere das kürzere der beiden GAA-Repeat-Verlängerungen) ein Maß für die Restproduktion des Proteins Frataxin vorgibt und damit Schwere der Erkrankung maßgeblich beeinflusst. In Mitteleuropa tritt Friedreich-Ataxie mit einer Häufigkeit von 1:30.000–1:50.000 auf (vgl. Medizinisch-Genetisches Zentrum München; www.mgz-muenchen.de).

Neben nicht-medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten zur Behandlung der Ataxie steht seit Kurzem in den USA mit dem Nrf2-Aktivator Omaveloxolon eine medikamentöse Behandlungsmöglichkeit zur Verfügung. Die Substanz verbessert die mitochondriale Funktion, da bei FA Eisen in den Mitochondrien nicht verwertet werden kann. „Als Kraftwerke der Zelle sind Mitochondrien für Zellerhaltung und Zellerneuerung verantwortlich, wobei von einem Energie-Mangel vor allem neuronale Zellen betroffen sind”, erklärt PD Dr. Sylvia Boesch, MSc. Die Studiendaten werden derzeit von der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA im Hinblick auf eine mögliche Zulassung in Europa geprüft, die Entscheidung dazu wird für Anfang 2024 erwartet. „Wir haben allerdings gute medikamentöse Therapien für die bei FA möglichen Herz- oder Stoffwechselprobleme”, sagt Boesch.

Eine gute Übersicht über aktuelle Forschungsprojekte gibt die Website der Friedreich Ataxia Research Alliance (FARA) https://www.curefa.org/.