
Multiple Sklerose: KI-gestützte Neubewertung des Krankheitsverlaufs
Der Krankheitsverlauf der Multiplen Sklerose (MS) wird aktuell nach ihrem klinischen Erscheinungsbild durch drei Subtypen beschrieben. Eine Analyse großer Kohorten mithilfe Künstlicher Intelligenz (KI) stützt allerdings die Sichtweise, dass die Multiple Sklerose als Krankheitskontinuum verläuft. Die Ergebnisse wurden in Nature Medicine publiziert.

Die etablierte Einteilung der Multiplen Sklerose (MS) in Subtypen – schubförmig-remittierende MS (RRMS), sekundär progrediente MS (SPMS) und primär progrediente MS (PPMS) – erfolgt in der Praxis nach dem klinischen Verlauf.
Allerdings hat diese traditionelle Einteilung Schwächen: So schließen sich diese Subtypen gegenseitig aus, während sich in der Realität schubhafte und progrediente Krankheitsmerkmale oftmals überschneiden. Die starre Einteilung hat u.a. Nachteile für Betroffene, da sie beispielsweise den Zugang zu Medikamenten einschränkt.
Krankheitsgeschehen wird unzureichend abgebildet
Das Fortschreiten der Erkrankung, unabhängig von der Schubaktivität (PIRA), kommt dazu bei RRMS häufig vor. Das erschwert die eindeutige Zuordnung zu einem bestimmten Verlaufstyp. Laut den Autorinnen und Autoren sind pathophysiologische Unterschiede zwischen schubförmiger und progredienter MS eher quantitativer als qualitativer Natur. Da das Krankheitsgeschehen unzureichend abgebildet wird, hat das aktuelle Klassifikationssystem der Multiplen Sklerose einen begrenzten Wert für die Prognose des Krankheitsverlaufs und auf das Ansprechen auf Behandlungen.
Vor diesem Hintergrund hat ein internationales Team mithilfe von KI den Krankheitsverlauf von Multipler Sklerose neu bewertet. Dazu analysierten sie eine große klinische Kohorte mit mehr als 8.000 MS-Patientinnen und -Patienten und einer Nachbeobachtungszeit von bis zu 15 Jahren (ca. 118.000 Patientenkontakte) sowie über 35.000 MRT-Aufnahmen. Dabei kam eine Faktorenanalyse eines Hidden Markov Models (FAHMM) zum Einsatz. Die Ergebnisse wurden anschließend in einer unabhängigen Kohorte von über 4.000 MS-Patientinnen und -Patienten validiert.
Vier latente Dimensionen zur Charakterisierung der Multiplen Sklerose
Das KI-Modell identifizierte vier zentrale Dimensionen, die den Krankheitszustand bei Multipler Sklerose bestimmen:
- körperliche Behinderung,
- radiologische Krankheitslast (fokale und diffuse Hirnschädigung),
- klinischer Schub und
- subklinische Krankheitsaktivität.
Diese Dimensionen bilden die Grundlage für ein umfassendes Verständnis des Krankheitsverlaufs und ermöglichen es, ein Kontinuum der Erkrankung von einem frühen, milden und sich entwickelnden Zustand (early/mild/evolving, EME) bis hin zu einem fortgeschrittenen Stadium abzubilden.
MS-Patientinnen und -Patienten mit EME-MS zeigen typischerweise nur geringe klinische Beeinträchtigungen, minimale Einschränkungen im Alltag und eine vergleichsweise geringe strukturelle Hirnschädigung, die oft nur durch bildgebende Verfahren nachweisbar ist.
Die Übergänge zu fortgeschritteneren Krankheitszuständen erfolgen dabei schrittweise und sind durch die Ansammlung von Gehirnschäden gekennzeichnet, die im Rahmen entzündlicher Prozesse entstehen – mit oder ohne das Auftreten begleitender klinischer Symptome. Diese Prozesse können über längere Zeiträume hinweg unbemerkt verlaufen und tragen dennoch wesentlich zur Krankheitsprogression bei.
Fortgeschrittene Krankheitszustände sind schließlich durch mittlere bis hohe Behinderungsgrade, eine ausgeprägte radiologische Krankheitslast sowie ein Fortschreiten der Erkrankung unabhängig von akuten Schüben charakterisiert. In diesen Stadien zeigt sich die zunehmende Diskrepanz zwischen klinischen Symptomen und der zugrundeliegenden pathologischen Aktivität. Eine Rückkehr zu früheren MS-Zuständen ist nur noch mit geringer Wahrscheinlichkeit möglich.
Mithilfe einer Übergangsmatrix liefert das Modell eine Einschätzung darüber, wie Betroffene zwischen den Krankheitszuständen wechseln. Es zeigte sich u. a., dass kein direkter Übergang von EME-MS zu fortgeschrittenen Zuständen erfolgt. Betroffene müssen zunächst einen aktiven Zustand durchlaufen.
Den MS-Verlauf als Kontinuum darstellen
Die Ergebnisse stützen laut dem Autorenteam die Sichtweise der MS als Krankheitskontinuum. Dabei werden die verschiedenen Verlaufsformen nicht als voneinander getrennte Entitäten, sondern als unterschiedliche Ausprägungen desselben pathologischen Prozesses verstanden werden sollten. Das komplexere und dynamischere Modell ist laut dem Expertenteam dem statischen Modell überlegen und weist eine gute Leistung bei der Vorhersage des individuellen Krankheitsverlaufs auf.
Die neue Klassifikation ermöglicht aus ihrer Sicht auch ein einheitlicheres und klareres Verständnis der Erkrankung. Sie bildet die Übergänge zwischen den Krankheitsstadien besser ab und erleichtert die Kommunikation zwischen Forschenden, Ärztinnen und Ärzten sowie Patientinnen und Patienten. Darüber hinaus könnte sie das Patientenmanagement verbessern.
Schließlich sieht das internationale Team auch Vorteile für die Forschung und die pharmazeutische Entwicklung. Eine vereinheitlichte Klassifikation könnte die Effizienz und Präzision bei der Entwicklung neuer Medikamente erhöhen und die Vergleichbarkeit klinischer Studien verbessern.
Einschränkend halten die Forschenden u.a. fest, dass umfassendere klinische Informationen, wie z.B. Anomalien des Rückenmarks oder biologische Daten, nicht ausreichend berücksichtigt werden konnten.
Ganjgahi H et al., AI-driven reclassification of multiple sclerosis progression. Nat Med 2025; 31: 1802–1812; doi: 10.1038/s41591-025-03901-6