11. Aug. 2025Grazer Fortbildungstage 2025

„Schmerzen sind immer ein komplexes funktionelles Geschehen“

Die diesjährigen Grazer Fortbildungstage stehen unter dem Motto "Integrated & Integrative Care". Als Leiter der Interdisziplinären Schmerz-Ambulanz und Tagesklinik am LMU Klinikum München handelt der Anästhesist Prof. Dr. Dominik Irnich tagtäglich nach diesen beiden Prinzipien. Im Interview gibt er Einblick in seine Arbeit und einen Ausblick darauf, was das Publikum in Graz erwartet.

Mittlere Aufnahme mit Fokus auf die Hand einer älteren Studentin, die im Fitnessstudio Qigong-Konzentrationsübungen macht
 Seventyfour – stock.adobe.com
Qigong hat einen beruhigenden Effekt und trainiert gleichzeitig die Muskeln und Sehnen auf sanfte Art.

Herr Prof. Irnich, einer Ihrer Schwerpunkte ist die Integrative Schmerzmedizin. Das Motto der Grazer Fortbildungstage lautet "Integrated & Integrative Care". Was verstehen Sie unter diesen Begriffen?

Prof. Irnich: Es gibt verschiedene Definitionen: In der Hufelandgesellschaft, dem Ärztlichen Dachverband für Integrative Medizin in Deutschland, haben wir die Integrative Medizin als rationelle Synthese konventioneller und komplementärer Methoden zu einem sinnvollen Gesamtkonzept definiert.

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 Privat

Prof. Dr. Dominik Irnich, Leiter der Interdisziplinären Schmerzambulanz – Campus Innenstadt am LMU Klinikum München.

Dieses soll auf wissenschaftlicher Basis beruhen. Das bedeutet, dass die entsprechenden Methoden auf der Grundlage von Studien auszuwählen sind. In den USA ist zum Beispiel die integrative Tumor-Schmerztherapie, eine Kombination von konventionellen mit komplementären Verfahren, die sich als sicher und effektiv erwiesen haben, nahezu etabliert.

Im Prinzip geht es um eine ganzheitliche, aber auch sehr individuelle Betrachtung von Körper, Geist und Seele und deren Zusammenhänge mit den beklagten Beschwerden. Deshalb behandeln wir zum Beispiel Menschen mit chronischen Schmerzen multimodal, d.h. mit einem abgestimmten Konzept in einem multiprofessionellen Team von Experten.

Hat der Begriff integrierte Versorgung nicht auch eine gesundheitspolitische Dimension?

Ja genau! Angesichts der vielfältigen chronischen Beschwerden, insbesondere funktioneller Art, benötigen wir erweiterte Therapieansätze, die institutionalisiert sind. Das heißt, es braucht klare Strukturen, die geschaffen werden müssen!

Eigentlich verbinden Sie integrative Versorgung im Sinne einer Kombination aus konventionellen und komplementären Behandlungen mit integrierter Versorgung im Sinne von multimodalen und multidisziplinären Ansätzen ...

Richtig. Beides ist wichtig, sowohl Struktur als auch Konzept. Es muss eine organisatorische Einheit geschaffen werden, sodass alle Berufsgruppen – Ärzteschaft, Physiotherapeuten, Psychotherapeuten, Pflege, Bewegungs- und Kreativ-Therapeuten – in einer Abteilung eng zusammenarbeiten und nach einem gemeinsamen Behandlungskonzept agieren.

Bei Schmerzen handelt es sich immer um ein komplexes funktionelles Geschehen. Das einfache Ursachen-Wirkungsprinzip gilt da nicht mehr. Die Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung wird beeinflusst von vielen psychosozialen Faktoren. Je nach Untersuchung lassen sich bis zu 70% der Beschwerden in der Allgemeinmedizin nicht ausreichend körperlich erklären.

Neueste Forschung zeigt, dass der Schmerz – bevor wir ihn wahrnehmen – schon von Gefühlen, Erfahrungen und Einstellungen vorbewusst moduliert wird. Besonders negativ wirken sich Arbeitsplatzunzufriedenheit, Ängste und mangelnde Anerkennung aus. Wir müssen also den Menschen in den Mittelpunkt stellen und nicht seine Symptome.

Sie sagen, alle im Team müssen an einem Strang ziehen. Halten Sie auch interdisziplinäre Fallbesprechungen ab?

Genau das machen wir regelmäßig. In diese interdisziplinären Fallgespräche sind alle schon genannten Berufsgruppen involviert. Dabei bringt jeder unterschiedliche Gesichtspunkte ein. Dies gilt sowohl für die Diagnostik als auch die Therapie.

Wir besprechen gemeinsam, was dem Schmerz zugrunde liegen könnte. Seien es medizinische Befunde oder andere Faktoren. Manchmal sind es Erfahrungen in der Kindheit, die sich noch immer massiv auswirken. Der therapeutische Ansatz ist dann immer lösungsorientiert.

Es geht also oft darum, negative Erfahrungen oder psychosoziale Belastungen aufzugreifen und gleichzeitig zu vermitteln, dass es im Hier und Jetzt einen Ausweg aus der Situation gibt.

Welche komplementären Methoden kommen bei Ihnen zum Einsatz?

Wir bieten ein breites Spektrum von Methoden als feste Bestandteile unseres Programms an. Wichtig sind zunächst Informationen: Was ist Schmerz? Was beeinflusst Schmerz? Wie kann ich mein Schmerzhemmsystem aktivieren?

Ein wichtiges Verfahren ist die Akupunktur als nachgewiesene schmerzlindernde Methode, die auch als Akupressur zur Selbstbehandlung bei akuten Schmerzkrisen angewendet werden kann. Auch mit der Transkutanen Elektrischen Nerven-Stimulation (TENS) kann sich ein Patient, nach guter Einweisung, selbst behandeln.

Wickel und Auflagen als Teil der Naturheilverfahren können ebenfalls akut Schmerzen lindern. All diese Verfahren geben die Eigenkontrolle über den Schmerz zurück.

Als wirksam in der Schmerzmedizin haben sich zudem die drei großen meditativen Bewegungstherapien, Qigong, Taiji und Yoga, erwiesen. So empfiehlt zum Beispiel die amerikanische Schmerzgesellschaft Taiji bei Kniegelenksarthrose.

Wir bieten insbesondere Qigong an, das einen beruhigenden, entspannenden Effekt hat und gleichzeitig die Muskeln und Sehnen auf sanfte Art trainiert. Auch Atemtherapie, Meditation und Kreativtherapien wie Musik- und Kunsttherapie zeigen in Studien schmerzlindernde Wirkungen und sind ein wesentlicher Bestandteil unseres "Münchner naturheilkundlichen Schmerzintensivprogramms".

Wichtig ist, dass der Patient für sich die richtigen Methoden identifiziert und dann auch wirklich weiter macht.

Der Titel Ihres Vortrages bei den Grazer Fortbildungstagen lautet «Ganzheitliche Medizin zwischen Evidenz und Erfahrung». Machen Sie auch selbst Forschung?

Ja, zum einen begleiten wir seit 2001 das, was wir tun, auch wissenschaftlich. Wir haben Nachbeobachtungszeiten von über zwei Jahren, zum Teil auch länger, weil wir wissen wollen, wie es unseren Patienten längerfristig geht. Da sehen wir echte Erfolge. Wir führen aber auch Studien zu Wirkmechanismen einzelner Therapien durch, zum Beispiel mithilfe neurophysiologischer Untersuchungen.

Welchen Rat geben Sie Allgemeinmedizinerinnen und Allgemeinmedizinern für die tägliche Praxis, um Patienten mit chronischen Schmerzen bestmöglich zu helfen? Was sollen sie tun, was unterlassen?

Wichtig ist zunächst die angemessene schulmedizinische Diagnostik. Bei funktionellen und chronischen Beschwerden ist dann aber Offenheit gegenüber dem biopsychosozialen Modell gefragt! Fragen Sie Ihre Patienten, auch wenn wenig Zeit ist, wie es Ihnen geht – über das Knie, über das Ohr, über den Kopf hinaus. Wie ist die berufliche, die familiäre und die soziale Situation? Spüre ich Ärger oder Angst beim Patienten? Wir brauchen wieder mehr ärztliche Kunst, auch in der Wahrnehmung. Reduktion auf einen Körperteil bei funktionellen Beschwerden ist eher kontraproduktiv.

Ein weiterer Ratschlag: Eine dicke Akte, immer wiederkehrende Diagnostik und eine Standardtherapie, die nicht hilft, sind gute Hinweise, dass vielleicht doch ein umfassenderes Problem im Sinne einer psychosomatischen Erkrankung vorhanden ist. Investieren Sie lieber einmal etwas mehr Zeit in die Befragung, denn das spart Ihnen möglicherweise viel Zeit im weiteren Verlauf.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die 35. Grazer Fortbildungstage finden von 6. bis 11. Oktober 2025 statt. Programm und nähere Informationen finden Sie unter www.med.or.at.