Palliativmedizin als integraler Bestandteil der onkologischen Versorgung
Lange wurde Palliativmedizin ausschließlich mit den letzten Lebenstagen assoziiert. Heute ist sie ein unverzichtbarer Teil des onkologischen Behandlungspfades. Drei Experten berichten in einer Session auf der Frühjahrstagung der ÖGHO von ihren Visionen – zwischen menschlicher Begleitung von terminal Erkrankten und den Herausforderungen eines zunehmend überlasteten Systems.

Dass die Palliativmedizin kein Randthema mehr ist, zeigt sich auch an der Teilnehmerzahl der Session „Zeitnahe Integration von Palliative Care für onkologische Patient*innen“. 77 Stühle hat der Raum „Tennengau“ im Messezentrum Salzburg – sie alle sind besetzt, und am Rand stehen weitere Teilnehmer, viele sitzen am Boden.
Palliativmedizin sichtbar und vernetzt
Auch der Schulterschluss zwischen der Österreichischen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (ÖGHO) und der Österreichischen Palliativgesellschaft, etwa im Rahmen des aktuellen Kongresses, ist Ausdruck dieses Wandels. „Das wäre früher undenkbar gewesen“, sagt Univ.-Prof. PD DDr. Eva Katharina Masel, Leiterin der Klinischen Abteilung für Palliativmedizin an der Wiener Universitätsklinik für Innere Medizin I.
Mittlerweile haben bereits mehr als 250 Institutionen weltweit die Auszeichnung „ESMO Designated Centre of Integrated Oncology and Palliative Care“ erhalten, berichtet die Expertin. Seit 2003 wird sie von der European Society for Medical Oncology (ESMO) vergeben. Die Auszeichnung basiert auf 13 Kriterien, die sich an den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) orientieren. „Um als ESMO Designated Centre akkreditiert zu werden, muss ein onkologisches Zentrum die Palliativversorgung klar integriert haben – und sich dabei zu einer Haltung kontinuierlicher Betreuung und des Nicht-Verlassens (non-abandonment) verpflichten.“
Das Konzept des Non-Abandonment, das auf den kanadischen Psychiater Harvey Max Chochinov zurückgeht, zielt auf eine umfassende Linderung von Leid auf mehreren Ebenen ab. Dazu zählen neben der Schmerztherapie auch die Minderung existenzieller Belastungen – etwa durch die Berücksichtigung spiritueller Bedürfnisse und die aktive Einbindung von An- und Zugehörigen.
Strukturelle Lücken und regionale Antworten
In Österreich tragen derzeit fünf Einrichtungen den Status eines ESMO Designated Centre (siehe Kasten). Hierzulande ist man damit vergleichsweise gut aufgestellt – anders als viele unserer Nachbarländer, wie Univ.-Prof. Dr. Philipp Jost, Leiter der Universitären Palliativmedizinischen Einrichtung an der Medizinischen Universität Graz, ausführt: „In Europa haben 65 Prozent der Population aktuell keinen adäquaten Zugang zur Palliativmedizin.“
Das zeigt sich etwa in einem deutlichen Gefälle bei der Versorgung mit Opioiden am Lebensende: Während die DACH-Region gemeinsam mit den Benelux-Staaten und den nordischen Ländern eine adäquate Nutzung aufweist, ist diese bereits in unmittelbaren Nachbarländern – etwa in Slowenien – deutlich inadäquat.
ESMO Designated Centres of Integrated Oncology and Palliative Care in Österreich
- Universitätsklinikum Graz (seit 2008)
- Comprehensive Cancer Center Wien der Medizinischen Universität und des AKH Wien (seit 2011)
- Universitätsklinikum Krems (seit 2013)
- Kepler Universitätsklinikum Linz (seit 2013)
- Klinikum Klagenfurt am Wörthersee (seit 2019)
Im Auge behalten müsse man außerdem, dass die Prävalenz von Tumorerkrankungen weltweit in den nächsten Jahren massiv steigen wird. „Bei aller Innovation wissen wir, dass die allermeisten Patienten in der Onkologie irgendwann palliativmedizinische Versorgung benötigen“, so der Experte. Aus seiner Erfahrung in Graz kann er das bereits bestätigen: Der „Durchsatz“ im mobilen Palliativteam, in der Konsiliarversorgung sowie auf der Palliativstation habe in den vergangenen zehn Jahren deutlich zugenommen. Zusätzliche Ressourcen habe die Med Uni Graz in dieser Zeit nicht erhalten. „Die palliativmedizinischen Einrichtungen sind damit bereits jetzt unterdimensioniert.“
Ein möglicher Ausweg ist für ihn, die vorhandenen Strukturen so zu verbessern, dass vorhandene Ressourcen besser genutzt werden – etwa im Zusammenhang mit nationalen und internationalen Netzwerken. Prof. Jost baut aktuell ein regionales Netzwerk mit Partnern in Triest, Ljubiljana, Maribor und Pula auf. Ziel ist es, Konzepte und Wissen auszutauschen, gemeinsame Fortbildungen anzubieten und die Qualität der Versorgung auch in unterversorgten Regionen zu verbessern.
Frühzeitige Integration: „Am Anfang geht es nicht ums Sterben“
15 Jahre ist es nun her, seit die randomisierte kontrollierte Temel-Studie gezeigt hat, dass die frühzeitige Integration von Palliativmedizin bei Patienten mit nicht-kleinzelligem Lungenkarzinom die Lebensqualität signifikant verbessert, depressive Symptome reduziert – und überraschenderweise sogar das Überleben verlängert. Und das, obwohl aggressive Therapien am Lebensende seltener zum Einsatz kamen.
„Bei der Palliativmedizin geht es eigentlich nicht ums Sterben.“ Diese Abgrenzung vom Hospizverständnis ist Dr. Mathias Huemer, Facharzt an der Klinischen Abteilung für Onkologie und Palliativmediziner an der Medizinischen Universität Graz, besonders wichtig. Zwar habe die Begleitung in der letzten Lebensphase ihren festen Platz auf der Palliativstation, doch zuvor gehe es darum, Lebensqualität zu verbessern, Symptome zu lindern oder zu stabilisieren – und das Leben lebenswert zu machen.
Die Early Palliative Care beginnt definitionsgemäß mit der Diagnose einer unheilbaren und letztendlich zum Tode führenden Erkrankung. Weitere Voraussetzungen für ihre Indikation sind eine hohe Symptomlast und/oder eine absehbar komplexe Versorgungssituation. Immer wieder werden etwa geriatrische Patienten an das mobile Palliativteam angebunden. „Hier fehlt für den Palliativmediziner der Auftrag: Wir haben in diesem Fall nichts, womit wir arbeiten können – kein Symptom, das wir zu lindern hätten.“
Bei Erkrankungen wie dem Pankreaskarzinom oder dem kleinzelligen Lungenkarzinom hingegen kann der Kontakt bereits bei Diagnosestellung sinnvoll sein – auch ohne aktuelle Symptome –, weil sich eine Verschlechterung mit hoher Wahrscheinlichkeit abzeichnet.
Wichtige Gelegenheit: das Warten auf die Therapie
Ein wichtiger Bestandteil der Palliativversorgung ist das sogenannte „Advance Care Planning“-Gespräch. Darin bespricht man mit dem Patienten, welche Möglichkeiten im Falle einer Verschlechterung seines Zustandes bestehen. Im Idealfall findet es bereits bei Diagnosestellung statt.
Die Realität sieht jedoch oft anders aus: Typischerweise erfolgt die Anbindung an die Palliativversorgung erst 30 bis 60 Tage vor dem Lebensende. Eine verpasste Chance, weiß Huemer. Beim typischen onkologischen Patienten verlaufe der Funktionsverlust in einem graduellen, schubhaften Abbau. „Nach der Diagnose kann man also bereits viel tun, was die Symptomlinderung angeht. Wenn wir frühzeitig dabei sind, können wir die Patienten dann viel besser kennenlernen und können sie gezielter nach ihren Wünschen unterstützen.“
Ein ideales Zeitfenster für einen Erstkontakt ergibt sich, wenn der Patient auf seine Therapie wartet: Die Stunde, bis das Blutbild erstellt ist und die bestellte Medikation eintrifft, könne man als Palliativmediziner gut nutzen. „Hier kann ich dem Patienten zum Beispiel erklären, wie ein Schmerzmittel einzunehmen ist – und wann mit einer Wirkung zu rechnen ist.“
Was frühe Palliativversorgung bewirken kann
Dr. Huemer schildert den Fall eines 55-jährigen Patienten mit Pankreaskarzinom, der bereits nach dem ersten Gespräch Vertrauen zu ihm fasste – „obwohl ich Palliativmediziner bin“, wie er anmerkt. In der Folge konnte ein kontinuierlicher Kontakt aufgebaut werden. Die gemeinsam abgestimmte Schmerztherapie führte zu einer deutlich verbesserten Mobilität – so sehr, dass der Patient wieder mit seinem achtjährigen Sohn Fußball spielen konnte.
Dadurch schöpfte er neuen Lebensmut und zeigte sich auch der onkologischen Therapie gegenüber wieder offen. „Wie in der Temel-Studie beschrieben, gibt es den – teils kontrovers diskutierten – Befund, dass Palliativmedizin lebensverlängernd wirken kann. Zwar wurde das nicht in allen Metaanalysen eindeutig bestätigt, doch ein zentraler Gedanke bleibt: Wenn Symptome wirksam gelindert werden, verbessert sich oft auch der Allgemeinzustand so weit, dass Patienten erneut für eine onkologische Therapie infrage kommen.“
Bei dem Patienten mit Pankreaskarzinom betrug die Betreuungsdauer schließlich acht Monate. „Der letzte Abschnitt der Betreuung, in dem er unter Sedierung aufgrund massiver Schmerzen verstarb, verlief auch für die Familie weitgehend atraumatisch – weil wir von Anfang an offen über mögliche Entwicklungen gesprochen hatten“, berichtet Dr. Huemer. „Sowohl der Patient als auch die Angehörigen waren vorbereitet – und hatten über die Monate hinweg Vertrauen in unser Team aufgebaut.“