
Essstörungen: Frühintervention als Schlüssel zum Erfolg
Essstörungen, insbesondere die Anorexia nervosa, sind unter den psychischen Erkrankungen mit einem der höchsten Sterbe- und Suizidrisiken assoziiert. Ein effektives Frühinterventionskonzept bei Essstörungen ist für den Therapieerfolg entscheidend. Prof. Dr. Ulrike Schmidt, Direktorin des Centre for Research on Eating and Weight Disorders am King’s College London berichtet über das englische Erfolgsmodell FREED (First Episode Rapid Early Intervention for Eating Disorders).

Das mittlere Erkrankungsalter für Essstörungen liegt bei 18 Jahren. (1) Zwei Drittel der Erstmanifestationen treten zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr auf – einer Periode intensivster biologischer und psychosozialer Entwicklung (2) – während sich nur 15% unter 15 Jahren und die restlichen 25% nach dem 25. Lebensjahr manifestieren. „Frühintervention sollte daher insbesondere auch junge Erwachsene ansprechen“, betont Prof. Schmidt.
Nur jede bzw. jeder Dritte sucht Hilfe
Nur etwa 30% der Betroffenen suchen allerdings Hilfe. Zusätzlich gibt es erhebliche Verzögerungen in der Früherkennung und im Zugang zu spezialisierter Behandlung. „Besonders betroffen sind junge Erwachsene, die ungern Hilfe in Anspruch nehmen, sowie Männer, Menschen mit höherem Körpergewicht und Minoritäten“, berichtet Prof. Schmidt.
Auch bei denjenigen, die Hilfe suchen, dauert es oft lange, bis sie tatsächlich behandelt werden. Die durchschnittliche Zeit zwischen Krankheitsbeginn und dem Beginn einer evidenzbasierten Behandlung liege bei Anorexie bei 30 Monaten, bei Bulimie und Binge-Eating-Störung sogar bei 53–67 Monaten, erklärt die Referentin: „Wir sind noch weit von der Frühintervention entfernt!“
Dauer der unbehandelten Essstörung verkürzen
Nicht nur die frühe Erkennung von Essstörungen sei dabei wichtig, sondern auch ein möglichst reibungsloser, schneller Zugang zur fachlichen Begutachtung und anschließenden Behandlung. Hier setzt das Projekt FREED an. Das Frühinterventionskonzept ist auf die Entwicklung und das Krankheitsstadium zugeschnittene Behandlung und Versorgung für junge Menschen mit kürzlich aufgetretener Essstörung (<3 Jahre Dauer).
Ziel ist, die Dauer der unbehandelten Essstörung (DUED) zu reduzieren, um bessere Behandlungsergebnisse zu erzielen. „Unser Frühinterventionskonzept orientiert sich stark an Modellen der Psychose-Frühintervention. Es setzt ab dem ersten Kontakt mit dem Hausarzt an und zielt darauf ab, die Verzögerungen innerhalb des Gesundheitssystems zu minimieren“, erläutert Prof. Schmidt. So werden etwa Patientinnen und Patienten innerhalb von 48 Stunden nach Überweisung kontaktiert.
Die bisherigen Ergebnisse sind vielversprechend (3):
- Verkürzung der DUED um 4–6 Monate
- Erhöhte Behandlungsaufnahme von 71% auf 98–100%
- Erhöhte Gewichtsnormalisierung bei Anorexie von rund 18% auf 56–59% der Fälle
- Reduzierte Behandlungskosten von durchschnittlich 4.500 Pfund pro Patientin bzw. Patient
Zentrale Behandlungsmethoden des Frühinterventionskonzepts
Die nationale Implementierung von FREED in England begann 2014 mit einem Zentrum und ist inzwischen auf 54 Krankenhausverbünde mit über 14.000 Patientinnen und Patienten gewachsen.
Mit der Bereitstellung gut koordinierter, niederschwelliger erster Hilfe sollten Betroffene aktiv zur Inanspruchnahme von Behandlung ermutigt werden.
Das Behandlungskonzept umfasst strukturierte Prozesse, spezifische Verfahren und eine jugendfreundliche Behandlungsweise.
Zentrale Aspekte sind:
- Evidenzbasierte kognitive Verhaltenstherapie (KVT) und Familientherapie mit
- jugendgerechten Anpassungen
- Fokus auf neurobiologische Veränderungen und frühzeitige Ernährungsinterventionen
- Einbeziehung der Eltern, soweit möglich
- Reflexion der Nutzung sozialer Medien, um ungesunde Verhaltensmuster zu erkennen und zu modifizieren
- Unterstützung bei Identitätsentwicklung und Lebensübergängen
Quelle: „Frühintervention für Essstörungen“, Vortrag im Rahmen der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, Berlin, 28.11.24