OÄK-Präsident Steinhart: „Gesundheitsversorgung nicht zukunftsfit“
Die Ärztekammer skizziert aktuell öffentlichkeitswirksam das Bild von der Baustelle Gesundheitssystem. Für den Präsidenten der Österreichischen Ärztekammer, OMR Dr. Johannes Steinhart, besteht dringender Handlungsbedarf.
In einer aktuellen Umfrage der Wiener Ärztekammer sagen 70 Prozent der Befragten, dass sich das österreichische Gesundheitssystem in die falsche Richtung entwickelt. Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe für die Unzufriedenheit der Patientinnen und Patienten?
Dr. Steinhart: Der Kardinalfehler der österreichischen Gesundheitspolitik sind die sogenannten „Kostendämpfungspfade“. Seit der 2013 festgesetzten Kostenobergrenze ist die Schere zwischen Ausgaben und dem tatsächlichen Bedarf immer weiter aufgegangen, es wurde Jahr für Jahr auf Kosten der notwendigen Leistungen eingespart. Irgendwann ist ein Punkt erreicht, an dem es nicht mehr geht.
Und an diesem Punkt befinden wir uns aktuell: Über 250 Kassenstellen sind aktuell unbesetzt. Die Wartezeiten haben sich in den vergangenen zwölf Jahren merklich erhöht. In den öffentlichen Spitälern gibt es zu wenige Ärztinnen und Ärzte und die Arbeitslast ist oft unzumutbar, ebenso wie die Wartezeiten auf einen OP-Termin. Ärztinnen und Ärzte, die das System über Jahre am Laufen gehalten haben, sind zunehmend erschöpft und ausgebrannt, sowohl in der Kassenordination als auch im Spital.
Seit 15 Jahren warnt die Ärztekammer vor der Pensionierungswelle und der Ärzteknappheit im öffentlichen Gesundheitssystem, seit fast zehn Jahren liegt unsere Forderung nach 1.300 neuen Kassenstellen auf dem Tisch.
Ein großer Kritikpunkt ist immer wieder, dass es zu wenige Kassenärzte gibt, speziell im Facharztbereich. Wie sehen Sie als Präsident der Ärztekammer und Arzt das?
Dr. Steinhart: Der Anstieg im Wahlarztsektor ist ganz klar ein Zeichen, dass immer mehr Ärztinnen und Ärzte mit dem Kassensystem nicht zufrieden sind. Das betrifft nicht nur die Honorare, sondern generell die Art und Weise, wie im Kassensystem Medizin gemacht werden muss.
Das aktuelle System ist darauf ausgelegt, dass Patientinnen und Patienten in kürzester Zeit „abgearbeitet“ werden müssen. Viele Ärztinnen und Ärzte wollen oder können so nicht arbeiten. Es ist kein Wunder, dass der Kassenärztemangel neben der Allgemeinmedizin gerade in Fächern wie Frauenheilkunde und Kinderheilkunde so groß ist. Das sind Fächer, in denen eine „Fünf-Minuten-Medizin“ nicht machbar ist.
Was braucht es, damit ausreichend Ärztinnen und Ärzte im Kassensystem verbleiben?
Dr. Steinhart: Das Kassensystem muss dringend attraktiver gemacht werden – etwa durch eine Aufwertung der Gesprächsmedizin oder durch flexiblere Kassenverträge. Ich sehe dabei das Honorar nicht als den entscheidenden Knackpunkt, es geht auch um viele andere Themen.
Ein Beispiel: Wir erleben zunehmend Fälle, in denen Ärztinnen und Ärzte gerne Kassenverträge nehmen würden, aber etwa durch Kinderbetreuungspflichten die vorgegebene Ordinationszeit nicht machbar ist. Hier gibt es null Entgegenkommen seitens der Kassen, daher brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn diese Kolleginnen und Kollegen dann als Wahlärztinnen und Wahlärzte arbeiten und in einigen Regionen damit die niedergelassene Versorgung aufrechterhalten.
Die Ärztekammer plädiert massiv für mehr Kassenstellen. Es spießt sich allerdings an der Finanzierung. Was wünscht sich die Ärztekammer konkret?
Dr. Steinhart: Die Ärztekammer bekennt sich ganz klar zum solidarischen Gesundheitssystem. Klar ist aber auch, dass dieses System etwas kostet – und die Kosten werden angesichts einer wachsenden und älter werdenden Bevölkerung und neuer Möglichkeiten in der Medizin noch steigen.
Wir fordern von der Politik ein klares Bekenntnis zum solidarischen Gesundheitssystem. Das bedeutet auch, dieses System zu finanzieren, also die Kassen mit den nötigen Mitteln auszustatten.
In der Onkologie drängt sich – trotz teils ambulanter Therapien – das meiste im Spitalsbereich. Welche Strategie verfolgt hier die Ärztekammer, um die Krankenhäuser zu entlasten?
Dr. Steinhart: Zentral wäre etwa eine verbindliche Patientenlenkung wünschenswert und ratsam. Diese würde das System sofort entlasten und die Finanzierung auf gesündere Beine stellen. Denn wenn Patientinnen und Patienten sofort zur für sie optimalen Versorgung gelangen, ist das nicht nur für sie besser. Wir vermeiden dadurch auch, dass ärztliche Ressourcen vergeudet werden. Es gibt viele interessante Modelle im Ausland, die bereits funktionieren. Auch wir stehen dazu jederzeit mit unserer Erfahrung bereit, das System zu verbessern.
Generell haben wir in unserer Resolution vom Juni 2023 festgehalten, dass der Pfad, auf dem die Patientinnen und Patienten durch das Gesundheitssystem geleitet werden, künftig lauten muss: digital vor ambulant vor stationär. Dazu bekennen sich mittlerweile auch die wichtigsten Player im österreichischen Gesundheitswesen. Natürlich gehören auch mehr onkologische Leistungen in die Kassenarztpraxis, als es derzeit der Fall ist.
Welche Rolle könnten Ärztezentren in Zukunft spielen? Oder werden diese in ihrer Wirkung von der Politik überschätzt?
Dr. Steinhart: Ärztezentren im Sinne von Primärversorgungseinheiten (PVE) werden von der Politik oft als Allheilmittel dargestellt. Das ist aus unserer Sicht stark verkürzt. PVE haben sicher ihre Berechtigung, vor allem im urbanen Raum, aber sie sind eben nur ein Baustein unserer Versorgung, so wie Einzelpraxen, Gruppenpraxen oder auch Primärversorgungsnetzwerke. Wichtig ist u.a., dass das Angebot an Fachärztezentren ausgebaut wird, dass wir den niedrigschwelligen und wohnortnahen Zugang im ländlichen Raum absichern und generell die Flexibilität bei den Arbeitsformen erhöhen.
Dr. Johannes Steinhart ist Facharzt für Urologie und ehemaliger Krankenhausmanager der Krankenanstalt Göttlicher Heiland in Wien. Im Mai 2022 wurde er zum Präsidenten der Wiener Ärztekammer gewählt, im Juni desselben Jahres auch zum Präsidenten der Österreichischen Ärztekammer.