„Escape Mechanismen“ bei Reisen am Limit
Beim Reisen an die eigenen Grenzen gehen – dieser Trend nimmt zu, berichtet Dr. Bernhard Haberfellner auf der 26. Linzer Reisemedizinischen Tagung (LRMT). Der Expeditionsarzt gibt Tipps, wie man „Hochrisikoreisende“ vorbereitet, wie man selbst in Extremsituationen reagiert, und verrät, was das Codewort „Hugo“ in der Pilotensprache bedeutet.
Im terminalen Krebsstadium noch einmal eine Reise erleben, mit Parkinson eine Dschungeltour buchen, als Triathlet Urwaldflüsse durchschwimmen: in den letzten Jahren ist ein Trend zu Reisen am Limit zu beobachten. Reisen werden immer herausfordernder, bestätigt Dr. Bernhard Haberfellner, Facharzt für spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin mit einer allgemeinmedizinischen Praxis in Linz.
Ein erster Tipp betrifft schon die Reiseversicherung. Wichtig ist laut Haberfellner folgender Passus im Vertrag: „Der Transport ist medizinisch sinnvoll und vertretbar.“ Häufig stehe nämlich nur „laut medizinischer Notwendigkeit“, was oft große Probleme und Diskussionen wegen der Kosten für Ambulanzjet-Flüge nach sich ziehe.
Beim Durchbesprechen der Reiseapotheke wiederum stelle sich in vielen Fällen heraus, dass man diese ruhig ein bisschen „abspecken“ könne. Die meisten Reisenden hätten einen „halben Notarztwagen“ dabei. Andererseits sollte man Reisende auch auf häufig zu findende Medikamentenfälschungen in bestimmten Ländern hinweisen.
Urlaub nicht bis zur letzten Sekunde auskosten
Was das Fliegen betrifft, spricht der Reise- und Höhenmediziner und flugmedizinische Sachverständige nicht nur klassische Probleme wie Zeitzonen etwa für Menschen mit Diabetes an, sondern auch die Druckverhältnisse beim Fliegen: „Ganz oft probieren die Reisenden den Urlaub bis auf die letzte Sekunde auszukosten. Gerade Taucherinnen und Taucher führen kurz vor dem Flug noch extremste Tauchgänge durch.“ Haberfellner, der auch Taucherarzt ist, rät, diesbezüglich im Vorfeld auf die gesundheitlichen Risiken aufmerksam zu machen.
Für die Sicherheitskontrollen sollte man bei Herzschrittmachern, Implantaten, am Körper getragenen Insulinpumpen, mobilen Dialysegeräten usw. auf händische Kontrollen statt der Schleuse bestehen. Die Reisenden sollten ihre jährlichen Kontrollen unbedingt zeitgerecht vor der Reise durchführen lassen. Haberfellner empfiehlt Reisenden mit einem Handicap auch, die Airlines im Vorhinein zu informieren bzw. nachzufragen, ob beispielsweise spezielle Rollstühle an Bord sind, um zum WC zu gelangen.
Schlaganfall an Bord: Pilot hat Letztentscheidung
Womit Ärztinnen und Ärzte immer rechnen müssen, ist der Aufruf bei einem Notfall. „Die Notfälle an Bord sind aber komplett anders als am Boden“, schildert der Notarzt, „es ist sehr beengt und stressig, und Sauerstoff ist natürlich das wesentliche Problem.“ Flugzeuge fliegen zudem in den sogenannten Airstreams zwischen 8.000–12.000m, weshalb sie möglichst rasch in diese Höhe aufsteigen.
Dort oben reihen sich die Flugzeuge „perlenschnurartig“ hintereinander, in Linien, die sich „seit der frühen Fliegerzeit“ danach richten, relativ rasch runterzukommen. „Wenn Sie gerade über Grönland zum Patienten gerufen werden und Sie sehen, er hat einen Schlaganfall, wird Sie der Pilot zwar fragen (nach der Notwendigkeit einer Zwischenlandung), aber die letzte Entscheidung hat immer er“, bringt Haberfellner ein Beispiel. In einem solchen Fall lande er ziemlich sicher nicht in Grönland, wo es keine Stroke Unit gibt, sondern würde weiter nach Kanada fliegen. Umgekehrt würde er über Europa oder in einem Gebiet, wo er schnell runter kommen könne, einen Notabstieg machen.
Die jeweiligen Doctor’s Kits an Bord seien übrigens extrem unterschiedlich ausgestattet. Manches erinnere eher an „Spielzeugstethoskope“. Dennoch empfiehlt Haberfellner, sie im Ohr zu lassen. Denn es wirke nicht nur seriöser, sondern man werde vor allem weniger gestört und könne ruhiger arbeiten.
Unerwartete Zwischenfälle können natürlich auch bei Pilotinnen und Piloten auftreten, trotz der Flugtauglichkeitsuntersuchungen und strenger Vorschriften. Als Grundregel gilt, dass die beiden Pilotinnen und Piloten – es sind immer 2 – niemals das gleiche zur gleichen Zeit essen dürfen: Verschluckt sich etwa der eine, könne die andere weiterfliegen. Pilotinnen und Piloten sollten zudem Stress, Müdigkeit, Hitze, Krankheiten, leeren Magen (BZ-Abfall) und Alkohol – ein unterschätztes Problem – vermeiden. Geachtet werde auch auf die „cross cultural competence“: Es würden immer Teams „zusammengewürfelt“, die sich nicht kennen. Das habe auch den Hintergrund, dass man sich gegenseitig leichter kritisiere, erklärt Haberfellner.
Am besten angeschnallt bleiben
Die Stress-Resistenz der Pilotinnen und Piloten werde zwar aktiv bei den Fluglinien trainiert, jedoch unterschiedlich intensiv, weiß Haberfellner von Fliegerarzt-Fortbildungen. Manche üben das Durchstarten mindestens dreimal pro Jahr. Bei Notmanövern ist man als Pilotin oder Pilot immer bestrebt, das Flugzeug manövrierfähig zu halten, „egal wie viele hinten auf die Decke klatschen“. Daher empfiehlt es sich, auch während des Flugs angegurtet zu bleiben.
Nicht alles könne man proben. Dann komme es auf die „situational awareness“ an, wie ihm ein schottischer Pilot erzählt hat: Dieser startete in Dubai aufs Meer hinaus, plötzlich schlitterte jedoch das Flugzeug „wie auf Glatteis“ nur mehr dahin auf einer Kalt-Warm-Luftgrenze und war nicht mehr zu beherrschen. Der Pilot bewahrte aber Ruhe, erlangte zum Glück nach einiger Zeit wieder die Kontrolle über die Maschine und konnte weiterfliegen.
Oder es komme zu einer plötzlichen Handlungsunfähigkeit eines Piloten: „In der Flugmedizin versuchen wir, diese ‚sudden incapacitation‘ zu vermeiden, aber es bleibt natürlich ein Restrisiko bestehen“. Eine Pilotin bzw. ein Pilot mit Nierensteinen z.B. könne bei einer Kolik nicht mehr weiterfliegen. Weist eine Pilotin oder ein Pilot bestimmte Einschränkungen auf, eine sogenannte OSL (operational safety pilot limitation), dürfen diese nur mit „Sicherheitspiloten“ (Doppelsteuer) fliegen, falls sie plötzlich untauglich werden sollten.
Fliegerärztliches Tauglichkeitszeugnis
Alle Untersuchungen für das Flugtauglichkeitszeugnis („Medical“) werden in der Regel in das europaweite „EMPIC“-System eingetragen. Das habe 2 Vorteile, erklärt Haberfellner: Einerseits ist das Level der Untersuchungen international relativ ähnlich, egal ob in Österreich, Deutschland oder Spanien. Andererseits verhindert das System das Erschleichen eines „Medical“. Haberfellner habe selbst einmal bei einer Untersuchung eines Piloten im EMPIC-System gesehen, dass dieser in Italien gerade als untauglich eingestuft worden war und dann in Linz versucht hat, sein „Medical“ zu bekommen. Bei bestimmten flugmedizinischen Fragen steht die Luftfahrtbehörde Austro Control als Letztentscheider zur Verfügung.
Auf Passagierseite können unerwartete Zwischenfälle für alle Beteiligten rasch zur Herausforderung werden. Als Beispiel nennt Haberfellner einen Flug von den Malediven zurück nach Deutschland mit einem „unruly passenger“ (unruhiger Passagier): Die Frau war deshalb unruhig, weil ihr toter Mann im Frachtraum mitgeflogen ist. „Wenn Sie einmal zufällig Funksprüche mitbekommen, in dem ‚Hugo‘ vorkommt, ist das nicht das süßliche Gesöff, sondern eine Leiche im Frachtraum“, erklärt Haberfellner den Geheimcode, der für „Human gone“ steht.
Vertrautes gegen die Einsamkeit
Am Limit reisen würden aber auch Menschen, die aus ihrer Situation und der Gesellschaft ausbrechen und sich in einer neuen Kultur ein neues Leben aufbauen wollen. Oder auch junge Leute, die etwa gerade die Matura gemacht haben und enthusiastisch in soziale Projekte einsteigen. „Sie glauben, sie müssen die Welt retten“, seien aber meist relativ schlecht auf die Situation vor Ort vorbereitet: Kultur, Sprache, Tagesablauf, Essen, Schlafrhythmus sind anders, dazu kommt die Konfrontation mit Armut, Leid und Gewalt.
Insbesondere die Einsamkeit sei eine Herausforderung, sagt Haberfellner, „man ist komplett auf sich zurückgeworfen“. Auch wenn es banal klinge: Sehr hilfreich sei in diesem Fall, sich vertraute Dinge von zuhause mitzunehmen, z.B. Lieblingsschokolade, Musik, Bücher, um mit der Heimat verbunden zu bleiben. Umgekehrt müsse man bei Rückkehrenden nach extremen Reisen an den „reverse culture shock“ denken, auch hier könne es zu einer Dekompensation bzw. zu Psychosen kommen.
Was ebenfalls häufig extrem unterschätzt werde, sind Naturgewalten wie die Zyklone im Südpazifik oder Tsunamis. Warnsysteme fehlen oft, funktionieren nicht oder die Reisenden nehmen die Warnungen nicht ernst. Mit oft schlimmen Folgen: In Belize in Zentralamerika ignorierte eine Gruppe junger Studierender die Ankündigung eines Hurrikans und wollte eine „Sturmparty“ in einem Schlauchboot feiern – man hat sie nie wiedergesehen.
3 einfache Mittel für die Diagnostik
Für die ärztliche Arbeit in entlegenen Gegenden empfiehlt Haberfellner eine „gute Triage“ und ein paar einfache Geräte bzw. effektive und schnelle Tests für die Diagnostik, da man ohne Laborbefunde auskommen muss, wie etwa:
- bei Verdacht auf Onchozerkose: zuerst Patientin bzw. Patienten 5 Minuten vorbeugen lassen, dann erst Augenhintergrund mit einem Ophthalmoskop anschauen, um die typischen Filarien zu sehen
- bei Lepraverdacht: Sensibilitätsprüfungen bei Hypopigmentierungen
- neurologisches Screening: Armvorhalteversuch (Absinken eines Arms)
Häufig seien auch Intoxikationen aufgrund fehlender Schutzmaßnahmen. Haberfellner berichtet von einer Explosion eines Insektizid-Kanisters, den eine junge Frau aus Tansania auf den Feldern am Rücken trug. Bei Verbrennungen gelte: „Je schmerzhafter, desto oberflächlicher.“ Auch wenn man die Gefäße noch ausdrücken könne, sei das typisch für eine oberflächliche Verbrennung.
Bei tiefen Verbrennungen hingegen sei die Haut straff und glänzend fahl – „wie bei Wachsfiguren bei Madame Tussauds“ – und die Nägel abziehbar. Die erste Maßnahme ist das Kühlen, jedoch sollte man darauf achten, nicht zu kaltes Wasser zu verwenden und auch nicht zu großflächig zu kühlen (cave: Unterkühlung!). Weitere Maßnahmen sind i.v.-Flüssigkeitsgabe (RL), Hochlagern und Ketamin-Gabe gegen den Schmerz.
Cave: Unterkühlung auch in den Tropen
Auch in den Tropen sei die Unterkühlung in Notfällen „das viel größere Problem“ als die Gefahr der Überwärmung, betont Haberfellner: „Der Schweiß rinnt Ihnen runter, es ist stressig, schwül, aber der Patient verliert sehr schnell an Wärme – mit Folgen für die Blutgerinnung usw.“ Das Wichtigste sei daher, an diese Gefahr zu denken und Patientinnen und Patienten in Decken zu bringen und warm zu halten.
Tierverletzungen kommen ebenfalls relativ häufig vor. Haberfellner berichtet von seiner Tätigkeit in einem Krankenhaus in São Paulo, Brasilien, in dem nur Schlangenbisse behandelt wurden. Bis man aber ins Krankenhaus – und zu einem Gegengift – komme, sollten folgende Maßnahmen unbedingt eingehalten werden:
- schneller Rückzug, möglichst die Schlange identifizieren, aber nicht einsammeln (Risiko eines zweiten Bisses!), sondern wenn möglich fotografieren
- Ruhe und Wärme wie bei jedem Notfall
- Extremität hochlagern und immobilisieren
- Ringe, Armbänder, Uhren entfernen (Schwellung!)
- gebissene Person wie „ein rohes Ei“ ins Krankenhaus transportieren, nicht mehr selber gehen lassen: denn selbst bei Kobra- oder Mamba-Bissen habe man Zeit für einen behutsamen Transport bis zur Verabreichung der Gegengifte
Rasierschaum bei Nesselverletzungen
Bei Quallen- und Nesselverletzungen dürfe man die Stelle nie mit Süßwasser abwaschen, sondern Weinessig, Backpulver oder Rasierschaum draufgeben, betont Haberfellner. Und er erinnert auch daran, dass fallende Kokosnüsse wesentlich gefährlicher sind und mehr Reisende töten als Hai- oder Krokodilattacken. Nahrungsgifte (Fischvergiftungen) kommen grundsätzlich ebenfalls häufiger vor als Tierattacken.
Für alle Reisen am Limit gilt: „Es ist immer nur eine Risikominimierung möglich, ein Restrisiko bleibt bestehen.“ Wichtig bei der Vorbereitung sei es, die medizinische Versorgung im Land abzuchecken (Kontaktadressen) sowie Strategien und „Escape-Mechanismen“ mit den Reisenden zu überlegen, also was man in Notfällen und Extremsituationen tun könne und welches Verhalten dann sinnvoll sei.
Wie man in der Wildnis überlebt
Für die Notfallmedizin auf extremen Reisen hat Haberfellner abschließend noch 3 Tipps. „Überlegen Sie bei Maßnahmen in Notfällen immer, wie Sie weitermachen.“ So mahnt er zur Zurückhaltung z.B. bei Intubationen, wenn dann etwa keine weitere Versorgung in einem Krankenhaus möglich ist. Denn: „Meistens müssen Sie die Person dann wieder extubieren und mit der Hand weiterbebeuteln!“
Zweitens spricht der Tropenarzt nochmals den Wärmeverlust der Patientinnen und Patienten an, dem es vorzubeugen gilt. Und seine dritte und wichtigste Botschaft: „10% vom Überleben in der Wildnis hängt davon ab, dass man das richtige Material dabei hat, 10% davon, dass man weiß, was man damit anfangen soll, aber 80% davon, dass man in diesen Situationen die Ruhe bewahrt.“
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„Extrem belastend: Reisen am Limit“, 26. Linzer Reisemedizinischen Tagung (LRMT), 6.4.2024