ÖSG-Kongress: Migränetherapie bei Kindern, Schwangeren, alten Menschen und Komorbiditäten
In den Zulassungstexten vieler Medikamente ist der Einsatz der Substanzen auf bestimmte Alters- und Patientengruppen beschränkt. Welche Einschränkungen gibt es für die Behandlung der Migräne in bestimmten Lebensphasen und speziellen Situationen?
Was bedeuten Zulassungsrestriktionen von Medikamenten für die Behandlung von Migränebetroffenen in der täglichen Praxis? Dr. Sonja Tesar, Medizinische Direktorin des LKH Wolfsberg und Präsidentin der Österreichischen Kopfschmerzgesellschaft, gibt einen Überblick, wann in speziellen Situationen eine Off-label-Anwendung von Migränetherapeutika guten Gewissens empfohlen werden kann und wann Vorsicht geboten ist.
Kinder und Jugendliche
Sind Migräneattacken in der Kindheit (6–11 Jahre) und in der Jugend (12–17 Jahre) überhaupt schon ein Thema? Eine Frage, die die Neurologin mit einem klaren „Ja“ beantwortet. „Häufiger ist in diesem Alter zwar ein Kopfschmerz vom Spannungstyp, aber eine Migräne kann auch schon im Alter von 5 Jahren beginnen.“ Ein Unterschied zu älteren Patientinnen und Patienten ist, dass die unbehandelten Attacken bei Kindern in der Regel kürzer dauern und oft nach einer Stunde schon wieder vorbei sind. Häufig ziehen sich die Kinder einfach zurück und legen sich nieder, bis der Schmerz nachlässt.
Bei Kindern stehen die behandelnden Ärztinnen und Ärzte oft vor dem Problem, dass viele Medikamente in dieser Altersgruppe nicht untersucht und daher auch nicht zugelassen sind. Off-label-Anwendungen sind daher für Pädiaterinnen und Pädiater gelebter Praxisalltag. Das gilt auch für die Migränetherapie: Migräneattacken werden bei Kindern meist mit Ibuprofen oder Paracetamol behandelt. Aus Sicht Tesars eine keineswegs harmlose Therapie: „Eine Umfrage unter italienischen Kinderärztinnen und -ärzten ergab, dass bei der NSAR-Therapie durchaus heftige Nebenwirkungen wie gastrointestinale Blutungen oder abdominelle Schmerzen auftreten können.“ Die Expertin bricht daher eine Lanze für den Einsatz von Triptanen auch schon im Kindesalter. Das Dilemma ist, dass es in Österreich mit dem Zolmitriptan 5mg Nasenspray eine einzige Substanz gibt, die ab dem 12. Lebensjahr zugelassen ist. Welche Optionen gibt es für jüngere Kinder, die eine geringere Dosierung benötigen? „Mittlerweile liegen ausreichend Daten vor, um bei unzureichendem Ansprechen auf die Akuttherapie mit Analgetika den Einsatz von Triptanen auch vor dem 12. Lebensjahr zu rechtfertigen“, fasst Tesar die in den letzten Jahren gewonnenen Erfahrungswerte zusammen. Voraussetzung ist dabei immer eine entsprechende Aufklärung der Patientinnen und Patienten bzw. deren Eltern. Verwendet werden können bei entsprechender Dosisanpassung sowohl Sumatriptan Nasenspray als auch Zolmitriptan, Rizatriptan oder Almotriptan in Tablettenform.
Prophylaxe bei Kindern
Noch schwieriger ist die medikamentöse Prophylaxe bei Kindern: Zum Fehlen von Zulassungen kommt, dass in dieser Altersstufe ausgeprägte Placeboeffekte die Beurteilung der Wirksamkeit erschweren. Flunarizin, eine Substanz mit signifikant besserer Wirksamkeit als Placebo, ist nicht mehr lieferbar. Eine Behandlungsoption ist der Betablocker Propanolol, dem in Studien Wirksamkeit bescheinigt wird. Wirksam ist auch Topiramat, dessen Einsatz aber wegen des hohen Nebenwirkungspotenzials (von Wesensveränderungen bis zu Kribbel-Parästhesien) gut überlegt sein sollte. Amitryptilin kann bei Kindern ebenfalls gegeben werden, zu berücksichtigen ist dabei aber ein sehr hoher Placeboeffekt. Zu den hoffnungsvollen Kandidaten für die Zukunft zählen CGRP-Antikörper und Onabotulinumtoxin A, die derzeit in mehreren Studien bei Kindern und Jugendlichen getestet werden.
Menstruationsassoziierte und menstruelle Migräne
Bei Frauen zwischen 15 und 49 Jahren steht die Migräne auf Platz eins der am meisten beeinträchtigenden Erkrankungen. Von einer menstruellen Migräne spricht man, wenn es ausschließlich während der Periode zu Attacken kommt. Wenn es neben den Attacken in der Periode auch noch zu anderen Zeitpunkten im weiblichen Zyklus Migräne auftritt, wird diese als menstruationsassoziiert bezeichnet. Die menstruelle und menstruationsassoziierte Migräne gilt heute als eigenständige Migräneform, die sich durch eine stärkere Intensität, längere Dauer und mehr Symptome wie Erbrechen, Licht- und Lärmempfindlichkeit auszeichnet. Auslöser für Attacken sind Schwankungen im Hormonhaushalt (Östrogenspitzen oder Östrogenabfall). Die Herausforderung für die Medikation sind lange Attacken über mehrere Tage. Bei der Akutmedikation empfiehlt sich eine frühe Gabe und höhere Dosierung. Oft ist eine mehrfache Gabe notwendig. Auch wenn für alle Triptane positive Studiendaten vorliegen, rät Tesar, langwirksame Substanzen wie Frovatriptan zu bevorzugen. Bei Bedarf ist eine Kombination mit Naproxen möglich. Auch zu den CGRP-Antikörpern gibt es positive Subgruppenanalysen für diese Patientinnengruppe.
Wegen ihres Einflusses auf den Hormonhaushalt kann als vorbeugende Maßnahme die kontinuierliche Gabe von kombinierten oralen Kontrazeptiva (KOK) in Betracht gezogen werden. Dabei ist aber zu bedenken, dass insbesondere die Migräne mit Aura mit einem stark erhöhten Schlaganfallrisiko assoziiert ist, das sich bei zusätzlicher Gabe einer östrogenhaltigen Antibabypille noch potenziert. Auch reine Gestagenpillen können in der Prophylaxe der menstruellen Migräne probiert werden: Eine gepoolte Analyse von 4 Studien zeigte, dass Desogestrel 75μg/Tag in der Migräneprophylaxe die Anzahl der Attacken und Migränetage signifikant reduzierte.
Gebärfähiges Alter und Schwangerschaft
Bei manchen der für die Prophylaxe der Migräne zugelassenen Substanzklassen wie Betablocker (Propranolol oder Metoprolol), Topiramat, Valproinsäure, Flunarizin, Amitryptilin oder CGRP- Antikörper gilt für Frauen im gebärfähigen Alter und Schwangeren besondere Vorsicht. Das wird unter anderem durch zwei aktuelle Rote-Hand-Briefe unterstrichen: Topiramat ist wegen nachgewiesener Teratogenität für Frauen im gebärfähigen Alter ohne hochwirksame (= doppelte) Verhütung sowie für Schwangere kontraindiziert. Das Gleiche gilt für Valproinsäure. Neu ist, dass es hier auch einen Rote-Hand-Brief für Männer gibt: Wegen eines erhöhten Risikos für neurologische Entwicklungsstörungen sollten auch potenzielle Väter in den 3 Monaten vor der Zeugung keine Valproinsäure-Präparate einnehmen. Monoklonale Antikörper gegen CGRP oder den CGRP-Rezeptor dürfen während der Schwangerschaft ebenfalls nicht eingesetzt werden. Als unbedenklich für die medikamentöse Prophylaxe in der Schwangerschaft werden in den Leitlinien hingegen Metoprolol, Propranolol und Amitriptylin eingestuft.
Welche Substanzen stehen für die Therapie von Migräneattacken in der Schwangerschaft zur Verfügung? Leichte Migräneattacken sollten nicht medikamentös (durch Reizabschirmung und Ruhe) behandelt werden. Stärkere Beschwerden können im 1. und 2. Trimenon mit Acetylsalicylsäure, Ibuprofen oder Metamizol behandelt werden. Im 3. Trimenon sollten diese Substanzen aber nicht mehr eingesetzt werden. „In der Stillzeit sind Einzeleinnahmen jedoch möglich“, so Tesar. Bei Übelkeit und Erbrechen können Schwangere zu Metoclopramid oder Domperidon greifen, für die Stillzeit werden diese beiden Medikamente allerdings nicht empfohlen. Paracetamol sollte in der Schwangerschaft nur gegeben werden, wenn keine anderen Optionen zur Verfügung stehen. Studien weisen darauf hin, dass es bei Einnahme dieser Substanz zu einem Hodenhochstand und kindlichem Asthma kommen kann. Eine gute Alternative scheinen Triptane zu sein, bei denen es bislang keine Hinweise für Fehlbildungen oder Komplikationen gibt. Am besten untersucht ist Sumatriptan, das auch in der Stillzeit eingenommen werden kann.
Höheres Alter und Komorbiditäten
Triptane werden oft noch als gefährliche Letzte-Wahl-Medikamente gesehen, die bei Patientinnen und Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen und älteren Menschen kontraindiziert sind. Auch in den DGN-Leitlinien heißt es, dass Triptane bei hohem Risikoprofil nicht eingesetzt werden sollten. Für Tesar ist die Datenlage nicht so klar: „Es gibt nur wenige Fallberichte über zerebrovaskuläre Events unter Triptantherapie. Dem steht gegenüber, dass für Patientinnen und Patienten mit einem kardiovaskulären Risikoprofil auch eine nicht behandelte Migräneattacke mit Schmerz, Blutdruckentgleisung, Erbrechen und Dehydratation ein erheblicher Stress sein kann.“ Was bedeutet das für die Praxis? „Bei älteren Menschen mit niedrigem Risikoprofil können Triptane ohne Bedenken verschrieben werden, bei mittlerem Risiko empfiehlt sich vor der Verschreibung eine nicht-invasive kardiale Abklärung.“ Ist das kardiovaskuläre Risiko hoch, sollte von einer Triptan-Verschreibung Abstand genommen werden.
Können monoklonale GCRP-Antikörper im Alter eingesetzt werden? Laut den Zulassungstexten der meisten Substanzen liegen bei Patientinnen und Patienten ≥65 Jahren dazu nur begrenzte Informationen vor. Das spricht aber nicht gegen einen Behandlungsversuch: Rezente Daten einer spanischen Arbeitsgruppe weisen darauf hin, dass monoklonale GCRP-Antikörper auch bei älteren Patientinnen und Patienten mit Komorbiditäten wirksam und sicher sind.
Bezüglich Komorbiditäten verweist Tesar auf den deutlichen Zusammenhang zwischen Migräne und psychiatrischen Erkrankungen: Auf der einen Seite sind Depressionen und Angststörungen mit einem erhöhten Risiko einer Migräne assoziiert, andererseits ist die Lebenszeitprävalenz von Depressionen bei Migränepatienten 3-mal so hoch. Klar ist, dass sowohl bei der Migräne als auch bei psychiatrischen Erkrankungen der Thalamus und der Hypothalamus eine wichtige Rolle spielen. Eine Beachtung etwaiger psychiatrischer Komorbiditäten ist nicht zuletzt deshalb von Bedeutung, da die Mitbehandlung dieser Erkrankungen helfen kann, die Lebensqualität und die Symptomatik der Patientinnen und Patienten zu verbessern.
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„Kopfschmerz in speziellen Situationen – was tun?“, 30. Wissenschaftlicher Kongress der Österreichischen Schmerzgesellschaft, Villach, 7.6.2024