18. Juni 2024Österreichische Gesellschaft für Neurologie (ÖGN)

Schwindel: ein Symptom, viele Ursachen

Schwindel ist ein häufiges und für viele Betroffene langfristig belastendes Symptom, hinter dem unterschiedliche Krankheitsbilder stehen können. Im Rahmen des diesjährigen ÖGN-Kongresses gab Univ.-Prof. Dr. Gerald Wiest, Leiter der Spezialambulanz für Schwindel und Gleichgewichtsstörungen im Wiener AKH, einen Überblick über verschiedene Formen von Schwindel sowie deren Behandlung.

Unhappy woman is suffering from vertigo, feeling dizzy
Elena Abrazhevich/AdobeStock

Die häufigste Schwindelform, die auch in der allgemeinmedizinischen Praxis von vielen Betroffenen berichtet wird, ist der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel (BPPV), der zumeist vom hinteren Bogengang ausgeht und bei Veränderungen der Kopfhaltung auftritt. Die Behandlung erfolgt in aller Regel mit Repositionsmanövern, die für die verschiedenen Bogengänge beschrieben wurden und nach entsprechender Schulung zum Teil auch von den Patientinnen und Patienten selbst ausgeführt werden können.

Schwindel kann jedoch so massiv auftreten, dass er zu einer Notaufnahme im Krankenhaus führt. Dies ist beim akuten vestibulären Syndrom der Fall, das zumeist auf eine Mikrozirkulationsstörung des Vestibularorgans oder eine Virusinfektion zurückgeht. Von dieser echten Neuritis vestibularis ist die Pseudoneuritis vestibularis mit zentraler Ursache abzugrenzen. Die Betroffenen leiden unter plötzlich auftretendem, für Tage anhaltendem Drehschwindel zur gesunden Seite, häufig begleitet von Übelkeit und Erbrechen, Fallneigung (zur kranken Seite) sowie einem Spontannystagmus zur gesunden Seite.

In der symptomatischen Therapie dieses Zustandsbildes sind Antihistaminika sowie 5-HT3-Rezeptor-Antagonisten (Setrone) erste Wahl. Anticholinergika, konkret transdermales Scopolamin, ist die zweite Wahl, Benzodiazepine werden als dritte Wahl eingestuft und sollten nur zum Einsatz kommen, wenn Betroffene unter schwer erträglicher Übelkeit leiden, wie Wiest ausführt. Diese Medikamente können in der akuten Phase nicht nur beim peripheren, sondern auch beim zentralen vestibulären Syndrom gegeben werden, so Wiest. Kontraindikationen sind zu beachten. So können Antihistaminika zu einer Verlängerung der QT-Zeit im EKG führen und sind auch bei Personen mit Epilepsie kontraindiziert. Höchstdosen sind zu beachten. Für alle diese Medikamente gilt, dass sie nicht länger als 3 Tage gegeben werden sollen.

Gute Daten für die vestibuläre Rehabilitation

Bei akuter unilateraler Vestibulopathie ist Methylprednisolon indiziert, wobei unterschiedliche Schemata empfohlen werden, die jeweils mit hoher Dosis starten und nach einigen Tagen mit reduzierter Dosierung weitergeführt bzw. ausgeschlichen werden. Kontraindikation besteht bei Diabetes, Schwangerschaft, Infekten und immunologischen Erkrankungen. Studiendaten zeigen für diese Therapie gute Wirksamkeit, während sich Valaciclovir als nicht wirksam erwiesen hat.1,2

Langfristig ist vestibuläre Rehabilitation indiziert, die begonnen werden sollte, sobald die Patientin bzw. der Patient mobil ist. In einer direkten Vergleichsstudie zeigte Rehabilitation nach einem Jahr bessere Ergebnisse als eine Behandlung mit Kortikosteroiden.3 Wiest: „Mittlerweile gibt es im deutschen Sprachraum eine Vereinigung von Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten, die ein spezielles Balancetraining anbieten. Die Betroffenen profitieren sehr von der Rehabilitation.“ Informationen zu entsprechenden Fortbildungen und therapeutischen Angeboten finden sich auf der Website des Instituts für vestibuläre Rehabilitationstherapie.

Keine evidenzbasierte Therapie für den Morbus Menière

Während es bei der akuten Vestibulopathie zu keiner Einschränkung des Hörvermögens kommt, ist diese beim Morbus Menière neben anfallsartigem Drehschwindel und Tinnitus typisch. Als Therapie der Wahl galt lange Zeit Betahistin, das als partieller Agonist am H1-Rezeptor im Innenohr sowie als partieller Antagonist am H3-Rezeptor im ZNS wirkt und unter anderem die Durchblutung im Innenohr verbessert. Allerdings zeigte sich in der kontrollierten BEMED-Studie keine Überlegenheit im Vergleich zu Placebo.4 Es existiert also aktuell kein Konsensus, welche Therapie beim Morbus Menière empfohlen werden kann, so Wiest. Betahistin könne quasi als individueller Heilversuch gegeben werden. Aktuell wird versucht, Betahistin mit dem MAO-Hemmer Selegilin zu kombinieren und so die Bioverfügbarkeit zu erhöhen. Erste Ergebnisse aus einer Phase-I-Studie zeigen, dass diese Kombination vertragen wird.5 Die klinische Wirksamkeit sollen nun weitere Untersuchungen mit größeren Patientenzahlen zeigen. Kommt es zu einer Eskalation des Morbus Menière, die durch hohe Attackenfrequenz und massive Einschränkung der Lebensqualität gekennzeichnet ist, so bleibt die intratympanale Instillation von Dexamethason oder Gentamicin, die allerdings nur an spezialisierten HNO-Zentren durchgeführt werden soll. Eine Netzwerk-Metaanalyse zeigt, dass beide Substanzen in der Reduktion von Vertigo-Attacken wirksam sind, dass das Risiko eines Hörverlusts jedoch mit Gentamicin höher ist.6

Wiederholte Menière-Attacken können zu einer bilateralen Vestibulopathie führen, die jedoch auch häufig im Zusammenhang mit Autoimmunkrankheiten wie dem Morbus Behçet beobachtet wird. Symptomatisch äußert sich diese in Oszillopsien, also dem unscharfen Sehen beim Gehen infolge eines gestörten „retinal slip“, der dazu führt, dass das Sehziel nicht mehr an der Fovea abgebildet wird. Bleiben die Betroffenen stehen, so sehen sie scharf.7 Besteht eine Grunderkrankung, konzentriert sich die Therapie auf diese. Bei idiopathischer bilateraler Vestibulopathie kann eine Kortisontherapie wie bei der unilateralen Vestibulopathie als Heilversuch zum Einsatz kommen. Wiest betont, dass den Patientinnen und Patienten auch Balancetraining angeboten werden soll. Dies gilt auch für die bei älteren Menschen infolge eines Verlustes an Haarzellen auftretende Presbyvestibulopathie. Studien zeigen, dass Training das Sturzrisiko und die Sturzangst vermindert.8,9 Auch Sturzprophylaxe, beispielsweise durch das Entfernen von Teppichen, bewährt sich. Vestibularimplantate finden aktuell den Weg in die Klinik. Dabei handelt es sich um Gyroskope, die Winkelbeschleunigungen in allen 3 Ebenen des Raumes detektieren, die abgestorbenen Haarzellen umgehen und direkt an die Afferenzen des Nervus vestibularis andocken. In einer Studie mit 7 Probandinnen und Probanden führte die unilaterale Implantation eines solchen Devices zu einer Verbesserung der Schwindelsymptomatik. – dies allerdings bei 6 der Studienteilnehmenden um den Preis eines eingeschränkten Hörvermögens am behandelten Ohr.10

Treten bizarre Schwindelsymptome wie beispielsweise Schwindel bei lauten Tönen, lageabhängiger Schwindel und irreguläre Nystagmen auf, so kann dahinter eine Dehiszenz des anterioren Bogenganges stehen, die als Folge von Traumata auftreten kann. Die Therapie erfolgt in erster Linie chirurgisch, wobei versucht wird, die Decke des Bogenganges wiederherzustellen oder den Gang mittels Plugging komplett stillzulegen.11

Schwindel als besonderes Symptom einer Migräne

Neben den beschriebenen peripheren vestibulären Störungen kann Schwindel auch zentrale Ursachen haben. Eine spezielle Problematik, die unter anderem mit Schwindel verbunden ist, stellt die vestibuläre Migräne dar. Dieses Zustandsbild ist nach aktuellen Erkenntnissen unterdiagnostiziert und schwer zu behandeln. In der Anfallsprophylaxe werden trizyklische Antidepressiva, der Betablocker Propanolol oder Flunarizin empfohlen. Alle 3 Optionen haben ihre Besonderheiten, Vor- und Nachteile. So empfehlen sich die Trizyklika bei komorbiden Schmerzsyndromen und/oder Schlaflosigkeit. Bei vestibulärer Migräne findet man oftmals mit niedriger Dosierung das Auslangen, so Wiest. Propanolol muss bei Asthma, Bradykardie oder Hypotonie vermieden werden. Bei Flunarizin besteht aktuell das Problem der eingeschränkten Verfügbarkeit. Als Nebenwirkungen sind Somnolenz und Gewichtszunahme häufig. Längerfristig empfiehlt sich ein Monitoring in Richtung Parkinsonismus. Aus diesem Grund soll Flunarizin bei älteren Patientinnen und Patienten auch mit Vorsicht eingesetzt werden.12

Für die in der Prophylaxe der episodischen und chronischen Migräne mittlerweile gerne verwendeten und sehr nebenwirkungsarmen CGRP-Inhibitoren besteht bei der vestibulären Migräne derzeit noch wenig Evidenz. Sie können jedoch eingesetzt werden, wenn mit den etablierten Substanzen nicht der gewünschte Erfolg erzielt wird oder diese nicht vertragen werden. Eine retrospektive Analyse identifizierte 25 Patientinnen und Patienten mit vestibulärer Migräne, die Anti-CGRP-Therapien erhalten hatten und für die ausreichend Follow-up-Daten zur Verfügung standen. Von diesen zeigten 21 zumindest eine gewisse Verbesserung, während 15 moderat oder deutlich profitierten.13 Ähnliches gilt für Lamotrigin und Botulinumtoxin A, wobei vermutet wird, dass Letzteres besser auf die Schmerzsymptomatik wirkt als auf die vestibuläre Symptomatik. Auch Akupunktur wird in der Indikation vestibuläre Migräne untersucht.

Quelle: „Weitere neurologische Erkrankungen – Therapieentwicklungen“, Parallelsitzung im Rahmen der Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie (ÖGN), Wien, 15.3.2024

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin CliniCum neuropsy