29. Mai 2024Linzer Reisemedizinische Tagung

Extremes Klima fordert Arbeitsmedizin heraus

Weitsichtigkeit bei -55°C in einer Halle, Hypoxie in Sternwarten auf 5.000m oder ein Höhenlungenödem beim Kraftwerksbau in Tibet – da sind gute Ideen gefragt. Wie etwa im Notfall für die O2-Gabe ein Schweißgerät zu zerlegen, schildert Arbeitsmediziner Prof. Dr. Thomas Küpper atemberaubende Fälle auf der 26. Linzer Reisemedizinischen Tagung (LRMT).

Dead trees on drought and cracked land at dry river or lake, metaphor climate change, global warming and water crisis
piyaset/AdobeStock

Er selbst betreue als Arbeitsmediziner etwa 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, geht Prof. Dr. Thomas Küpper vom Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der RWTH Aachen, Deutschland, sowie der Fakultät für Reisemedizin des Royal College of Physicians and Surgeons of Glasgow, Großbritannien, in medias res. Davon seien ca. 600 Personen permanent in Bangladesch, Indonesien, Indien, Tibet, Uganda und vielen anderen Ländern unterwegs – mit Schwerpunkt Maschinenbau. Bei vielen der Personen sind schon die gesundheitlichen Voraussetzungen – Diabetes, erhöhtes Cholesterin etc. – eine Herausforderung (s. Kasten).

Erhöhtes Diabetes- und Herz-Kreislauf-Risiko bei vielen

Dass schon die Voraussetzungen dieser Reisen eine spezielle ärztliche Herausforderung sind, hat sich Küpper anhand von noch unveröffentlichten Daten seines eigenen Kollektivs angeschaut: Von 240 Personen im mittleren Alter von 46,4 Jahren mit Arbeitsaufenthalten in Südostasien und Südamerika haben gleich drei Viertel einen – zumindest grenzwertigen – Blutdruck von ≥140mmHg, davon 16 (9,2%) sogar einen Blutdruck >160mmHg. Einen manifesten Diabetes (max. HbA1c 13,8%) weisen 8 Personen (5%) auf und 24 (14,9%) sind von Prädiabetes betroffen. Der mittlere Cholesterinwert beträgt 212,4mg/dl, 104 von 171 (60,8%) haben einen Cholesterinspiegel >200mg/dl.

Portraitfoto Dr. Thomas Küpper
Claire Küpper

Dr. Thomas Küpper

Nach dem ESC-Risiko-Score ergibt sich folgendes 10-Jahres-Risiko für tödliche Herz-Kreislauf-Erkrankungen: 6,6 % niedrig, 75,5% moderat, 9,4% hoch, 8,5% sehr hoch. Knapp 18% hätten also ein hohes oder sehr hohes Risiko, betont Küpper. Auch das 10-Jahres-Infarktrisiko laut Framingham-Score ist beachtlich: mittleres Risiko 9,0% bzw. nach Risikoklassen: 55,4% niedrig, 28,0% moderat und 16,6% hoch.

52% der derzeit Auslandsentsendeten sind männlich, etwa 46 Jahre alt (auch laut Statista 2022) und haben ein erhöhtes Diabetes- und Herz-Kreislauf-Risiko, fasst der Reisemediziner zusammen. Der Frauenanteil steigt allerdings, was in manchen Ländern neue Probleme schaffe: Küpper schickt z.B. keine Frauen allein in einige Länder, denn „ich möchte sie geistig, psychisch und körperlich gesund wiedersehen“. Sein Rat: Die begleitenden Männer sollten die Arbeitskollegin als ihre „Frau“ ausgeben, das schaffe Sicherheit.

Problemfaktor „Chilltemperatur“ im Gebirge

Das erste Extremklima mit extremen Arbeitsbedingungen, die Küpper beschreibt, ist der Rettungsdienst im Gebirge. Der Höhenmediziner war selbst 6 Jahre alpiner Notarzt und schildert einen Einsatz auf dem Silbersattel auf dem Monte Rosa in den Walliser Alpen (4.515m). Es war zwar verschneit, aber sonnig. Das Problem bestand in der Windchill-Temperatur – der gefühlten Temperatur abhängig vom Wind: Bei -27°C Lufttemperatur und einer Windgeschwindigkeit bei gutem Wetter bis zu 120km/h „kühlt man natürlich brutal aus“.

Auch in Tirol passieren etwa zwei Drittel alpiner Notfälle bei einer Windchill-Temperatur von unter -10°C. „Wenn Sie als Notärztin oder Notarzt da sind oder zufällig als Helferin oder Helfer anwesend, vergessen Sie bitte eines nicht: Sie selbst stehen unter Stress und Sie arbeiten körperlich und bleiben daher warm“, gibt Küpper zu bedenken. Aber die Verletzten, die am Boden liegen, würden praktisch keine metabolische Wärme produzieren und daher rasch auskühlen.

Rettungseinsätze: Cave Unterkühlung, aber auch Überhitzung

Gerade in der Übergangsjahreszeit kommt noch ein Problem dazu: Oben sei man „gut eingepackt“ in extremer Kälte unterwegs, „dann liefern wir überhitzt im Krankenhaus unsere Patientinnen und Patienten ab, weil wir uns natürlich im Hubschrauber nicht umziehen können“. Aber auch weit unter 1.000m ist man vor Auskühlung nicht gefeit: „Wir haben schon aus dem Vogelsberg-Gebiet in Hessen schwerst Unterkühlte rausgeholt, die trotz angesagten Schlechtwetters zum Langlaufen unterwegs waren.“ Küpper dazu: „Eine Skilangläuferin bzw. ein Skilangläufer ist thermodynamisch betrachtet nackt.“ Denn die Person habe keine Zusatzkleidung wie beim Bergsteigen dabei.

Für Arbeitseinsätze in extremer Kälte gebe es inzwischen Schutzmaßnahmen wie spezielle Wärmeanzüge, die auch den Wind abhalten. Bei längerer Exposition müsse man sich eventuell technische Maßnahmen überlegen, wie etwa beheizbare Produkte für Hände und Füße. Deren Lithium-Akkus gewährleisten eine Heizdauer von mehreren Stunden.

Leseprobleme bei extremer Kälte: „Lokalklima“ schaffen

Extreme Kälte kann es aber auch an städtischen Industriearbeitsplätzen geben. Küpper bringt als Beispiel eine Hamburger Firma für Hefeproduktion, die bei ihm angerufen und um Rat gebeten hat: „Seitdem wir die Temperatur der Produktionshallen von -45°C auf -55°C abgesenkt haben, beschweren sich die Mitarbeitenden, dass sie die Etiketten unscharf sehen und nicht mehr lesen können. Die Fehlerrate ist gestiegen.“

Die Firma habe bereits 5-stellige Summen für arbeitsmedizinische Beratung ausgegeben – ohne Erfolg. Als passioniertem Expeditionsmediziner fiel Küpper sofort eine günstige Lösung ein, nämlich ein „Lokalklima“ durch eine Schutzbrille zu schaffen. „Der enorme Temperaturgradient über der vorderen Augenkammer flacht die Linse ab, die Leute werden schlicht und einfach weitsichtig“, erklärt er. Brillen mit Rundumschutz sorgen für ein wärmeres Lokalklima vor den Augen, das Thema war damit erledigt.

Ein weiterer Tipp: Bei der Planung von Arbeiten bei -50°C und darunter sollte man mehr Zeit einplanen, damit Betroffene nicht außer Atem kommen. Ansonsten könne es zu thermischen Sprüngen der Zähne und sogar zu Erfrierungen in der Trachea kommen. „Auch wenn es dem Controlling nicht passt, müssen mehr Stunden für dieselbe Arbeit eingeplant werden“, unterstreicht Küpper.

Ein anderes Szenario betrifft Volontärinnen und Volontäre im Ausland, wie z.B. Jugendliche im freiwilligen sozialen Jahr. Ein Viertel würde den Aufenthalt wegen psychischer Probleme abbrechen, berichtet Küpper. Auch die Kombination mehrerer Stressoren wie Kälte, Einsamkeit und Dunkelheit wie bei der MOSAiC-Expedition (2019–2020, Multidisciplinary Drifting Observatory for the Study of Arctic Climate), der bisher größten wissenschaftlichen Arktisexpedition, oder auch bei Überwinterungsaufenthalten in der Antarktis, sei nicht zu unterschätzen: „Da liegen irgendwann die Nerven blank.“

Hypoxie bei Sternguckern auf über 5.000m Seehöhe

Was Höhe und Hypoxie anbelangt, erläutert der erfahrene Höhenmediziner, dass die Sauerstoffkonzentration per se nicht das Problem ist: Man könne auch von 5% Sauerstoff leben, wenn er mit 3bar verabreicht wird – es komme auf den Partialdruck an. Als Beispiel führt Küpper die Europäische Südsternwarte (ESO) an, an der auch Österreich beteiligt ist. Dazu zählen Teleskope in 5.041–5.150m Seehöhe auf dem Chajnantor-Plateau in der Atacama-Wüste in Chile. Der inspiratorische Partialdruck (piO2) liegt nur mehr bei 83mmHg und es gibt keine medizinische Infrastruktur.

Noch dazu geht es nach der Anreise aus Deutschland oder Österreich von der Meereshöhe aus mit dem PKW über eine Schotterstraße in 2 Stunden auf über 5.000 Höhenmeter – nicht akklimatisiert. Man werde zwar nicht bewusstlos, aber „das Problem ist letztendlich eine reduzierte körperliche Leistungsfähigkeit von ungefähr 10–12% pro 1.000 Höhenmeter“. Bei nicht akklimatisierten Personen komme es zu einem sicheren Eintritt der Höhenkrankheit, auch wenn die „time of useful consciousness“ in 5.000m unbegrenzt sei.

Küppers Lösung, um dennoch nicht akklimatisiert zu arbeiten: „Wir haben in den Teleskopen in den Arbeitsräumen den Sauerstoffanteil erhöht.“ Bei einer realen Ortshöhe von 5.000m besteht wie erwähnt ein Partialdruck von knapp über 80mmHg, was umgerechnet 11% Sauerstoff entspricht. Zuerst waren 30% O2 geplant, was ca. 1.500 Höhenmetern entspricht. Wegen der Feuergefahr habe man sich aber auf 27% O2 geeinigt, was in etwa mit einer physiologischen Höhe von 3.000m korrespondiert.

Dennoch habe man eine „relative isobare Hyperoxie“, weshalb es zusätzliche Arbeitsschutzmaßnahmen brauche: Rauchverbot (weniger wegen der Feuergefahr, sondern weil Rauchen zusätzlich bis zu 10% Hämoglobin blockiert), Unterweisung im Erkennen und Behandeln der akuten Höhenkrankheit (AMS, acute mountain sickness) und spezifische Erste Hilfe-Ausstattung und -Leistung. Zum Glück, ergänzt Küpper, könne man mit dem Geländewagen relativ zügig auf 2.430m runterfahren.

Maximal 4 Stunden Arbeit am höchstgelegenen Observatorium der Welt

Was aber, wenn draußen etwas montiert werden muss? Meistens funktioniere das erstaunlich gut, die Leute hätten nur ein wenig Kopfweh. Das werde sich allerdings künftig mit dem neuen Fred Young Submillimeter Teleskop (FYST) auf 5.640m, dem höchstgelegenen Observatorium der Welt, ändern.

In dieser Höhe, bei 10,3% O2 isobar, sei man ohne Akklimatisation nach zirka 35–40 Minuten bewusstlos, sagt Küpper. Die aerobe Ausdauerleistung betrage nur noch zirka die Hälfte, was man bei der Arbeitsplanung berücksichtigen müsse. Der Ansatz, um das Problem zu lösen, ist Zusatzsauerstoff als Demand-System mit 2l-Flaschen: „Und wir begrenzen die Expositionszeit, die Leute dürfen nur maximal 4 Stunden da oben arbeiten.“

Das habe den Hintergrund, dass die AMS typischerweise eine Latenzzeit von 4–8 Stunden hat. Man könne also kurz hinauf, solange man rechtzeitig wieder runterkomme, passiere nichts. „Vor dem Höhenhirnödem (HACE) haben wir keine Angst, das kommt typischerweise frühestens nach 12 Stunden, eher 24–48 Stunden, hat also eine lange Latenzzeit.“ Ob dieses nagelneue Konzept funktionieren werde, könne er noch nicht sagen, aber: „Ich werde im Juni da sein und es selbst ausprobieren.“

Vorakklimatisation im Hypoxie-Zelt vor Abreise nach Tibet

Ein anderer spezieller Fall ist der Bau eines Wasserkraftwerks in 4.050m Höhe in Tibet. Die Anreise erfolgt auf einem Schotterweg in eineinhalb Tagen von 40m aus, ohne angemessene Akklimatisation. Dazu kämen spezifische Probleme, schildert Küpper: keine medizinische Infrastruktur und kaum Kommunikationsmöglichkeiten, da Satellitentelefone nicht erlaubt sind, ebenso wenig wie Rettungshubschrauber (nur Militärflüge) und Patiententransporte über Staatsgrenzen wie z.B. nach Nepal.

Die Problemlösung bestand in einer Kombination von Vorakklimatisation und Akklimatisation auf die Zielhöhe von 4.000m (mit 12–13% O2): Schlaf daheim für 4 Nächte in einem isobaren Hypoxie-Zelt entsprechend einer Höhe von 2.500m (15,2% O2), 3.000m (14,4% O2) und 3.500m (2 Nächte bei 13,7% O2) plus ein Akklimatisationstag während der Anreise auf 3.500m.

Die medizinische Ausrüstung war umfangreicher, weil kein Abstieg vom Plateau in absehbarer Zeit möglich war, und umfasste Dexamethason, Nifedipin, Sauerstoff, Flowchart zur Diagnose und Behandlung von AMS, HACE und Höhenlungenödem (HAPE). Das erfordere ein Training zum Erkennen und Behandeln von Höhenerkrankungen vor Abflug und eine Kontaktmöglichkeit mit höhenmedizinisch versierten Ärztinnen und Ärzten daheim, erklärte Küpper, was eben schwierig sei.

Notfall HAPE und kein Sauerstoff mehr …

Aber das Konzept ging auf: 21 von 23 Personen waren symptomfrei und sofort arbeitsfähig. Eine Person hatte zwar milde Kopfschmerzen, war aber im Prinzip auch arbeitsfähig. Nur ein Einziger, ein Monteur, befolgte die Anweisungen nicht, obwohl ein Jahr davor ein Kollege in Südamerika an einem HAPE gestorben ist. Dennoch konnte Küpper den Mann nicht zur Vorakklimatisation überreden. Prompt litt dieser nach Ankunft in Tibet an einem schweren HAPE. Noch dazu war Schlechtwetter, was die ohnehin bestehenden Transportprobleme verschärft hat.

Die medizinischen O2-Vorräte erschöpften sich. Satellitentelefon war verboten, jedoch funktionierte überraschenderweise Skype. Dann die rettende Idee und nach kurzer Diskussion die Entscheidung, es auch zu versuchen: die Schweißanlage (die Acetylen als Brenngas und Sauerstoff als Oxidationsmittel nutzte) auseinanderbauen und die „richtigen“ Flaschen – die blauen, nicht die gelben – für die O2-Gabe verwenden. „Letztendlich hat er überlebt, aber die Klimmzüge waren gewaltig“, betont Küpper die Folgen der fehlenden Compliance.

Der Fantasie zu Lösungen seien keine Grenzen gesetzt, fasst Küpper zusammen und stellt klar: „Wir sind keine Verwaltungsbeamten, wir sind Ärztinnen und Ärzte.“ Viel zu oft höre er von arbeitsmedizinischen Kolleginnen und Kollegen, wo denn Lösungen für Probleme stehen. Aber in Notsituationen sei das völlig egal, „es muss funktionieren“. Was ihm daher abschließend am Herzen liegt: „Bitte entscheiden Sie zugunsten unserer Patientinnen und Patienten oder der Menschen, die uns vertrauen – mit Ihrem physiologischen ärztlichen Wissen.“

Quelle: „Extrem aufwendig: Arbeitsaufenthalte in Extremklimata“, 26. Linzer Reisemedizinische Tagung (LRMT), 6.4.2024