Schizophrenie in der Kindheit und Jugend: Frühwarnsymptome beachten!
Wenn in jungen Jahren der Verdacht auf eine Schizophrenie besteht, sollte man keine Zeit verlieren, sagt die Kinder- und Jugendpsychiaterin Univ.-Prof. Dr. Isabel Böge. Denn jede schwere Episode birgt das Risiko einer Chronifizierung und damit lebenslangen Leids.
medonline: Wie oft haben Sie als Kinder- und Jugendpsychiaterin mit der Diagnose Schizophrenie zu tun?
Isabel Böge: Schizophrene Kinder machen einen sehr geringen Prozentsatz unserer Patientinnen und Patienten aus. Allerdings ist der klassische erste Gipfel im späten Jugendalter. Stationär sind etwa 1–2% der Kinder und Jugendlichen an einer Schizophrenie erkrankt.
Welche Anzeichen gibt es bei Kindern und Jugendlichen, die hellhörig machen sollten?
Im Kindesalter ist die Symptomatik oft sehr versteckt. Das kann ein plötzlicher Leistungsknick sein: wenn das Kind eigentlich immer gut in der Schule war und plötzlich schlechte Noten schreibt; das kann sozialer Rückzug sein: wenn das Kind plötzlich nicht mehr in den Sportverein gehen will, generell Kontakte meidet und die anderen als „komisch“ empfindet. Es handelt sich also um Dinge, die man normalerweise im Alltag durchgehen lässt, die aber erste Zeichen einer schleichenden schizophrenen Entwicklung sein können.
Manchmal werden auch körperliche Symptome angegeben: körperliche Halluzinationen – irgendetwas ist in meinem Bauch, meine Nase wird größer oder Ähnliches. So etwas kommt den Eltern vielleicht ein bisschen seltsam vor, wird aber gern der kindlichen Fantasie zugeschrieben.
Auch regressive Symptome können ein Frühsymptom sein: zum Beispiel, wenn ein Kind wieder einzunässen beginnt. Das wird nicht selten Stress in der Schule zugeschrieben, „ist eben eine Phase“.
Und wie ist das bei Jugendlichen?
Bei Jugendlichen haben wir viel häufiger produktive Symptomatik, im Sinne von optischen oder akustischen Halluzinationen. Oftmals entsteht eine akute psychotische Episode, die bei empfindsamen Jugendlichen stressbedingt oder auch exogen ausgelöst sein kann, z.B. durch Drogen. Das heißt, Drogenkonsum sollten wir in so einem Fall immer abfragen.
Wichtig zu wissen ist, dass Jugendliche viel weniger Wahnsymptome haben als Erwachsene. Nicht selten tritt ein akuter erster Schub einer Schizophrenie sehr plötzlich und heftig auf. Hier haben wir oft nur wenige Vorläufersymptome und ein plötzliches „knallverrücktes“ Verhalten, das Angehörige und Eltern oftmals sehr besorgt. Wichtig ist aber: Je akuter die Symptomatik auftritt, desto besser ist die langfristige Prognose. Denn diese Formen einer Schizophrenie sind meist gut medikamentös einzustellen. Und Jugendliche sind natürlich meistens noch nicht chronifiziert. Das gilt es zu verhindern!
Was muss bei einer akuten psychotischen Episode im Kindes- und Jugendalter differenzialdiagnostisch abgeklärt werden?
Bei einer akuten ersten psychotischen Episode ist die Sache eigentlich sehr eindeutig. Die Ursachen sind oft nicht ganz so eindeutig. Deshalb müssen auf jeden Fall differenzialdiagnostische Überlegungen erfolgen. Zum Beispiel kann eine Depression, die in einen psychotischen Überstieg geht, ähnlich aussehen. Auch exogen ausgelöste Verwirrtheitszustände können einer beginnenden Schizophrenie ähneln. Früher fiel auch noch Autismus unter die Differenzialdiagnosen, aber das hat sich durch die viel bessere Diagnostik des Autismus geändert.
Anders ist es bei der oben beschriebenen schleichenden Entwicklung. Hier bedarf es oftmals einer Verlaufsdiagnostik, und nicht selten hat man mehrere Vordiagnosen, bevor das Bild klarer wird.
Wie unterscheidet sich die Akuttherapie der Schizophrenie bei Jugendlichen von der bei Erwachsenen? Wie sieht es mit der Zulassung von Medikamenten in dieser Altersklasse aus?
Je älter die Jugendlichen sind, desto weniger unterscheidet sich die Therapie von der der Erwachsenen. Im Jugendalter ist kaum ein Medikament zugelassen. Das einzige zugelassene Medikament im Kindesalter ist Haloperidol, das aber zu den „alten“ Antipsychotika zählt und damit die meisten Nebenwirkungen aufweist. Das geben wir am wenigsten gern längerfristig. Zu Beginn – um die Betroffenen schnell aus der Verwirrung zu holen – ist es gut geeignet. Dann sollte man aber auf modernere Neuroleptika umsteigen.
Das Problem ist, die neueren Medikamente – die sogenannten atypischen Antipsychotika – sind fast alle gar nicht im Jugendalter oder erst ab 16 Jahren zugelassen. Das bedeutet, wir müssen diese off-label verschreiben. Dafür brauchen wir das Einverständnis des Jugendlichen und der Obsorgeberechtigten, oder nur der Obsorgeberechtigten, sofern es dem Jugendlichen so schlecht geht, dass er es in diesem Moment nicht geben kann. Bei der Eindosierung der Medikation geht man in der Kinder- und Jugendpsychiatrie meist sehr viel langsamer vor als in der Erwachsenenpsychiatrie, da junge Menschen nicht selten einen viel aktiveren Metabolismus haben. Das heißt, sie reagieren viel stärker auf geringere Dosen.
Wie gestaltet sich bei Jugendlichen die Rezidivprophylaxe bzw. Erhaltungstherapie?
Wenn es sich um eine akute Schizophrenie handelt, sollte man das Medikament, mit dem man eine Stabilisierung erreicht, für mindestens ein Jahr geben. Manchmal muss man dafür mehrere Neuroleptika „ausprobieren“, da bei jeder und jedem Jugendlichen der Stoffwechsel ein wenig anders ist. Ein zu frühes Absetzen birgt eine 70%ige Rückfallgefahr. Allerdings muss nur eine Erhaltungsdosis gegeben werden.
Für die Erhaltungsdosis versucht man die geringstmögliche Dosis zu nehmen, sodass die Jugendlichen gut „funktionsfähig“ und nicht zu müde sind, sich aber trotzdem noch im Wirkspiegel befinden. Nach einem Jahr versucht man, das Medikament auszuschleichen – genauso langsam, wie man es vorher eingeschlichen hat. Wenn dann keine neuerliche Symptomatik auftaucht, würde man erst einmal von einer einmaligen Episode ausgehen und die Patientinnen und Patienten in weiteren Abständen zur Kontrolle kommen lassen. Wenn während des Ausschleichens eine neue Symptomatik auftaucht, muss man leider zunächst wieder Medikation ansetzen und erst in 2 Jahren einen neuerlichen Ausschleichversuch machen.
Kommen in der Erhaltungstherapie im Kinder- und Jugendbereich auch Depotpräparate zum Einsatz?
Wir Kinder- und Jugendpsychiater kommen oft gar nicht zu diesem Punkt, weil die Jugendlichen, wenn sie ein oder 2 Jahre therapiert wurden, meist schon 18 oder älter sind. Wir setzen deswegen eher dann Depotpräparate bei Jugendlichen ein, wenn sie von Anfang an eine schlechte Compliance haben. Das heißt, wenn sie weiterhin so sehr in der Psychose verhaftet sind, dass sie die Medikation nicht nehmen oder wochenweise weglassen und dann sofort im nächsten Rezidiv sind. Mit jeder neuen Episode gehen ja gesunde Zellen kaputt, und das gilt es zu verhindern! Auch für die Depotmedikation brauchen wir das Einverständnis des Jugendlichen und der Obsorgeberechtigten. Sollten diese nicht einverstanden sein, kann nur über das Gericht eine Erlaubnis zur Gabe eingeholt werden.
Was können Anzeichen eines Rückfalls sein? Worauf sollte das Umfeld achten?
Wir versuchen immer im Rahmen der ersten Episode die Frühsymptome zu erheben, die vielleicht doch vorhanden waren, um anhand derer Frühwarnsymptome zu definieren, auf die Jugendliche und/oder deren Eltern achten sollen. Das können Stimmungsschwankungen, Reizbarkeit, Konzentrationsstörungen, sozialer Rückzug oder Leistungsabfall sein. In der Regel bekommen die Patientinnen und Patienten eine Karte mit 4, 5 Symptomen von uns mit, und wir sagen zu ihnen: „Wenn diese Symptome wieder auftreten, melde dich bitte bei uns!“
Welchen Stellenwert haben Psychoedukation und Angehörigenarbeit bei Jugendlichen mit Schizophrenie?
Beides hat einen hohen Stellenwert. Bei Kindern und Jugendlichen steht die Angehörigenarbeit naturgemäß im Vordergrund. Aber auch die Jugendlichen selbst so aufzuklären, dass sie ihre Krankheit verstehen, ist enorm wichtig. Das muss man oft 10- bis 20-mal machen – am besten immer wieder zwischendurch, in Phasen, in denen das gut funktioniert. Denn keiner hat gerne eine Schizophrenie, und deswegen schiebt man gerne die Realisation dessen weg.
Ich hatte mal einen Jugendlichen, der kam immer zu den Kontrollen, hat seine Medikation regelmäßig genommen, auf Frühwarnsymptome geachtet, aber immer gesagt: „Schizophrenie habe ich nicht.“ Das heißt, es ist egal, wie die Betroffenen andocken. Wichtig ist, dass sie ihre Frühsymptome kennen und wissen, was sie dann tun müssen. Wenn die Jugendlichen nicht reagieren, sollten die Eltern handeln. Deshalb sind Psychoedukation und Angehörigenarbeit gleichermaßen wichtig!
Arbeiten Sie auch mit dem Konzept des Home Treatment?
Home Treatment habe ich bereits 2011 in Deutschland angefangen. Wir konnten relativ schnell feststellen, dass wir mit einem Besuch zuhause mehr sehen als in 5 Wochen Station. Das Erstaunliche für mich war damals, dass die Familien die Motivation für Hausbesuche aufbringen. Nachdem wir zunächst nur 1–3 Termine pro Woche in der Familie waren, haben wir dann das Konzept auf 7x pro Woche ausgeweitet, d.h. jeden Tag ist jemand anderer aus dem Team von Psychiatern, Psychologen, Ergotherapeuten usw. zu den Familien gekommen. Dabei sind wir sehr individuell auf die Situation bzw. die Problematik der Patientinnen und Patienten eingegangen und haben – je nach Bedarf – Eltern, Schule und Freunde miteinbezogen. Das ist eine sehr intensive Zeit für die Familien. Das Schöne ist aber, dass die Kinder in ihrem Umfeld verbleiben können. Sie müssen nicht in die „Glasglocke“ Klinik und können ihren normalen Alltag beibehalten, bis auf die eine Stunde, die sie uns zur Verfügung stellen. Und dennoch ist das sehr intensiv. Deswegen muss die Diagnose auch so schwerwiegend sein, dass sie einen stationären Aufenthalt rechtfertigen würde.
Ihre Take-home message an die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen?
Wenn der Verdacht auf eine Schizophrenie besteht, bitte so früh wie möglich zu uns schicken. Denn wenn wir hier Zeit verlieren, kommt es oft zu wiederholenden psychotischen Episoden, die häufig in die Chronifizierung übergehen. Wenn es doch keine Schizophrenie ist, ist ja nichts passiert. Im Gegenteil: Dann hat man einmal eine vernünftige Diagnostik gemacht und vielleicht etwas anderes entdeckt. In jedem Fall hilft man den Betroffenen und kann etwas für ihr zukünftiges Leben tun.
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