25. Okt. 2023MKÖ-Jahrestagung 2023

Beckenboden und Neurologie: „Lieber doppelt so lange entspannen“

Mit Tabus rund um „Blase, Darm und Sex“ befasste sich die diesjährige Jahrestagung der Medizinischen Kontinenzgesellschaft (MKÖ). Was Beckenbodentraining neurologisch bringt, erklärt Physiotherapeutin FH-Prof. Mag. Anita Kidritsch, PT MSc. Die Quintessenz: Ohne Entspannung geht nichts – und davor braucht es Gespür, wie man „schnürt“ und hebt.

medonline: Frau Professor, Ihr Vortrag auf der 33. Jahrestagung der Medizinischen Kontinenzgesellschaft (MKÖ) am 13.–14.2023 „Allein auf weiter Flur?“ hat sich mit Beckenbodentraining bei neurologischen Patientinnen und Patienten befasst. Welche Funktionen erfüllt der Beckenboden in unserem Körper?

Portrait Anita Kidritsch
FHSTP/Martin Lifka Photography

FH-Prof. Mag. Anita Kidritsch, PT MSc

Anita Kidritsch: Zuerst die allgemeinen Funktionen: Wir brauchen den Beckenboden immer für die Haltespannung, dass Becken und Organe am richtigen Platz liegen und gut unterstützt werden, unser Becken stabil ist und wir ein gutes Gleichgewicht haben. Wenn wir in Richtung Kontinenz denken, ist für alle, ob Mann oder Frau, ein „Schnüren“ – also Verengen – und Heben wichtig. Bei der Frau ist aber vielleicht eher das Anheben der Blase das Thema, beim Mann eher das Verändern der Position der Urethra.

Die neurologischen Funktionen des Beckenbodens betreffen nicht nur die Kontinenz, sondern auch die Entleerung und die Sexualität. Der Beckenboden macht nämlich nicht nur ein Schnüren, Verengen, Heben, sondern auch ein Öffnen und – wenn man an den Darm denkt –, ein Schieben mit allen Strukturen, die dazugehören. Natürlich ist es der Darm, der sich entleert, aber der Beckenboden muss aufmachen. Auch in der Sexualität muss er aufmachen, weil die Frauen sonst vielleicht Schmerzen haben. Der Beckenboden reagiert auch auf Druckveränderungen, wenn man hustet, niest, geht, oder lokal z.B. bei intimen Kontakten. Er reagiert auf Hormonveränderungen und trägt dazu bei, dass das Gewebe gut durchblutet ist, bei Frau und Mann. Und er reagiert auch auf Haltungsveränderungen, das ist ganz entscheidend, was die Kontinenz betrifft.

Sie haben Gender-Unterschiede angesprochen, wie wichtig sind diese?

Es gibt zwar Gender-Unterschiede, allein anatomisch: Der Muskel liegt beim Mann anders, die Prostata nimmt Raum ein, die Urethra ist länger. Aber: Wir haben alle Schwellkörper, wir haben alle Drüsengewebe und wir haben alle Muskelgewebe. Das ist für alle gleich angelegt und entwickelt sich dann unterschiedlich. Das heißt, wenn ich generell die Geschlechterunterschiede, die sich hormonell entwickeln, außen vor lasse, kann in der Beckenbodenbehandlung jede und jeder, ob männlich, weiblich oder divers, profitieren. Bei jedem und jeder hat der Beckenboden 3 Schichten: Die erste ist die innerste Schicht – der große Levator ani für dieses Schnüren und Anheben. Die mittlere Schicht spielt auch für das Halten eine große Rolle. In der äußeren Schicht, bei den Sphinktern und zwischen Genitalien und Beckenknochen, sind auch für die Sexualfunktion 2 essenzielle Muskeln, die direkt unter oder rund um die Schwellkörper liegen. Auch da kann man als Physiotherapeutin oder -therapeut unterstützen.

Wie ist der Beckenboden neurologisch mit dem Zentralnervensystem und anderen Teilen des Körpers verbunden?

Zentral gesteuert ist der Beckenboden wie jede Muskelfunktion im Homunkulus im Gehirn. Er ist im Homunkulus sogar sehr stark repräsentiert, auch wegen der sexuellen Funktionen. Da passiert Neuroplastizität: Wenn die Neurofunktion beeinträchtigt ist, kann es beim Homunkulus eine Veränderung geben und deswegen „unten“ – beim Beckenboden – etwas nicht ankommen. Auch wenn es auf der spinalen Ebene eine Veränderung gibt, z.B. eine Entmarkung oder Querschnittsituation, kann etwas nicht oder anders funktionieren. Aber da ist es mehr ein Zuviel, ein wirklich hoher Tonus, mit dem ich in der Neurologie besonders arbeite. Da geht es wieder um Entleerung. Die dritte Ebene ist die unterste Ebene, die sakrale Ebene oder die peripheren Nerven. Das Klassische ist hier eine Schwäche, in der Neurologie ebenso wie nach Geburten oder generellen Schwächen bei Mann oder Frau.

Man muss auch bedenken, wie schon angesprochen, es gibt nicht nur die motorischen Fasern, sondern auch die sensorischen Anteile, also das Spüren, um zu erkennen: Es ist vielleicht auch irgendwo etwas zu viel oder eine Muskelarbeit an der „falschen“ Stelle. Und es gehören auch die vegetativen Fasern dazu, wenn man wieder an Sekrete, Durchblutung denkt – es ist nicht nur der Beckenboden. Der Beckenboden geht einher mit seinen Organen, die über das vegetative Nervensystem gesteuert werden, was auch eine Rolle in der Neurologie spielt. Denn auch die vegetativen Anteile auf diesen 3 Ebenen können eine Veränderung haben und als Physiotherapeutinnen und -therapeuten arbeiten wir – das ist die Quintessenz – an der Entspannung.

Warum haben diese Zusammenhänge mit der Neurologie für das Beckenbodentraining eine Bedeutung?

Weil es nicht immer das Klassische braucht. Der Mensch ist individuell und in der Neurologie hilft es, sich diese 3 Ebenen anzuschauen. Geht es um Kontinenz, geht es um Entleerung oder geht es um Durchblutung? Bei Entleerung und Durchblutung steht viel die Entspannung im Vordergrund. Und bei der Kontinenz geht es auch um die Spannung, ein typisch vegetatives Problem: Habe ich zu viel oder zu wenig Spannung (Sympathikus) oder bräuchte ich Entspannung (Parasympathikus)? Das betrifft auch den Beckenboden, der z.B. durch spastische Synergien betroffen ist: Wenn ein Muskel im Becken verspannt ist und krampft, wie soll sich der Beckenboden auch noch anspannen oder sich entspannen?

Gibt es neurologische Erkrankungen oder Störungen, die direkt mit dem Beckenboden in Verbindung stehen oder bei denen ein gezieltes Beckenbodentraining therapeutische Vorteile bieten kann?

Ja, auf allen Ebenen. Beckenbodentraining unterstützt, wenn es im Großhirn z.B. durch Schlaganfall, Schädel-Hirn-Trauma oder Multiple Sklerose zu einer Schwäche kommt. Im Großhirn wirkt auch noch Parkinson, da geht es aber mehr um das Vegetative. Gehen wir weiter zum Rückenmark: Ich kann auch wieder bei Multipler Sklerose oder bei inkomplettem Querschnitt trainieren, gegebenenfalls kompensieren und das Vegetative beeinflussen. Auf der dritten Ebene, in der Peripherie, macht Training Sinn, z.B. bei Gullain-Barré-Syndrom oder Polyneuropathie, die auch bei Diabetes vorkommt. Je nachdem, welche Ebene betroffen ist, geht es darum, überhaupt zu aktivieren, dass der Befehl in der Ansteuerung funktioniert oder dass der Befehl ankommt – wenn wir vom Rückenmark sprechen oder von der Peripherie. Und wenn der Befehl nicht ankommt, muss man schauen, wie viel man trainieren kann.

Das heißt, regelmäßiges Beckenbodentraining kann neurologische Probleme oder Beschwerden verhindern oder Symptome lindern?

Eher lindern. Es braucht auch anderes, weil es so komplex ist. Es gibt vielleicht keinen 100%igen Erfolg, sondern wie gesagt eine Linderung, die oft schon für das persönliche Erleben reicht. Und wenn man nur trainiert, verkrampft man vielleicht auch. Wichtig ist, wenn man trainiert, auch ans Entspannen zu denken – lieber doppelt so lang entspannen!

Welche Trainingstechniken oder spezifischen Übungen sind am effektivsten, um sowohl den Beckenboden zu stärken als auch neurologische Veränderungen zu erzielen?

Das ist wie bei jedem Training, in der Neurologie machen Patientinnen und Patienten eigentlich nichts anderes außer der Herausforderung: Schaffe ich es überhaupt anzusteuern? Wie z.B. vor einem Maximalkrafttraining im Fitnessstudio geht es zuerst ans Hinspüren, ans Hingreifen. Passiert das an der richtigen Stelle, was ich will? Kommt eine selektive Ansteuerung? Es kann schon einmal ein paar Wochen dauern, dass man Übungen immer wieder macht und kontrolliert, bis man gelernt hat, spürt und weiß: Wenn ich das mache, passiert eine Beckenbodenreaktion oder eine selektive Beckenbodenaktivität. Erst dann gehe ich in die Kraft. Würde ich schon vorher einfach irgendetwas anspannen, kommt es vielleicht ganz woanders an und ich trainiere den Nachbarmuskel – und dann verspanne ich wieder.

Könnten Sie ein Beispiel für die selektive Ansteuerung nennen?

Eine Übung wäre z.B. das Schnüren und nach innen oben heben: Man stellt sich vor, man hat eine Perle in der Scheide oder im After und hebt sie von der Unterlage an. Dafür schnürt man den Beckenboden um die Perle herum und hebt sie nach innen oben. Wichtig ist, daran zu denken, dass die Perle durch die neurologische Erkrankung auch wieder ein bisschen absinken kann. Ich hebe sie also so hoch, dass ich nicht verspanne, zur Sicherheit nicht ganz nach oben, sondern bleibe ein bisschen über der Hälfte stehen. Ich spanne aber nochmals nach, dann nochmals und nochmals. Erst dann lege ich sie ab und lasse sie auf der Unterlage liegen und warte und atme. Es geht um die verschiedenen Ebenen des Anspannens, also nicht falsch anspannen, nicht zu viel anspannen, nicht verspannen und auch aus neurologischer Sicht: Der Reiz ist vielleicht gekommen, aber er geht verloren, also spanne ich lieber nochmals nach und dann entspanne ich auch wirklich.

Wie können Fortschritte oder Veränderungen in der Neurologie durch das Beckenbodentraining oder selektive Ansteuerung gemessen oder überwacht werden?

Durch Hingreifen. Bei der MKÖ gibt es ein Verzeichnis, wo auch Physiotherapeutinnen und -therapeuten ausgewiesen sind, die einen Palpationskurs gemacht haben. Das heißt, um hinzugreifen, muss ich in die Tabuzone greifen, aber es hilft allen, wenn man sich mit diesem Tabu auseinandergesetzt hat. Im Berufsverband Physio Austria gibt es das fachliche Netzwerk GUP, das über eine Liste informiert, welche Therapeutinnen und Therapeuten auf Neurologie spezialisiert sind.

Das heißt, Sie spüren dann, ob der Beckenboden schnürt, hebt, anspannt oder entspannt?

Genau. Es gibt da ein Verfahren, das PERFect-Schema. Das ist ein Test, mit dem man unterscheiden kann: Ist das jetzt viel oder wenig? Man könnte auch Geräte verwenden, Elektroden oder andere Messgeräte. Das ist aber wieder sehr invasiv. Die Frage ist, was man bevorzugt – beides ein Ansatz.

Und wie merkt man es selber?

Wenn man gut spürt, kann man es merken. Man lernt eigentlich das Vertrauen wieder in das, was man spürt. Und durch Selber-Hingreifen.

Inwiefern arbeiten Physiotherapeuten, Neurologen und andere Gesundheitsfachleute zusammen, um Menschen bei Beckenbodenproblemen und neurologischen Fragen zu unterstützen?

Gerade die Zusammenarbeit im Rahmen der MKÖ ist ein schönes Beispiel, wo ein Bewusstsein dafür da ist, dass es alle gemeinsam braucht. Denn als Physiotherapeutin brauche ich eine Diagnose, eine urodynamische Diagnostik z.B., es braucht ein Blasentagebuch, Protokolle, Messungen, Ultraschall, ob es Restharn gibt, usw. Da bin ich froh, wenn das meine Kolleginnen und Kollegen aus Medizin und Pflege beibringen. Dann ist die Ergotherapie eine riesige Unterstützung, wenn es um Handlungen im Alltag geht – auch eine Entlastung, weil es gerade bei der Schwäche und Haltungsfehlern viel Unterstützung braucht, auch bei der Entspannung. Damit kommen wir auch zu den Psychologinnen und Psychologen. Oder die Sozialarbeit, wenn es um soziale Versorgung und finanzielle Unterstützung geht, in Zusammenarbeit mit der Pflege um das Thema Hilfsmittelversorgung im Rahmen der Kontinenz- und Stomaberatung. Es braucht ein Netzwerk, weil wir mit diesem Thema auch so zentral in einem sehr vernetzten Gebiet im Körper sind. Wo auch ein großer Bedarf an Netzwerk da ist, ist die Sexualtherapie – das wird immer wieder gefragt, das hat sich auch bei der MKÖ-Tagung wieder gezeigt.

Gibt es aktuelle oder künftige Forschungsprojekte, die das Verständnis von Beckenbodentraining und seiner Auswirkungen auf die Neurologie vertiefen können? Oder was würden Sie sich da wünschen?

Das ist genau mein Dissertationsprojekt (lacht)… Wie kann man interprofessionelle Zusammenarbeit durch digitale Medien unterstützen? Im Krankenhaus-Setting, Reha-Setting gibt es die Kompetenzzentren, die dank Unterstützung der MKÖ das Interdisziplinäre sehr fördern. Ich denke, das ist ein guter Ansatz. Aber auf einer anderen Ebene, in der Primärversorgung oder im extramuralen Bereich, sind wir sehr gefordert, weil Leistung nur pro Einheit bezahlt wird. Das heißt, es geht viel um eigenes Engagement beim Vernetzen. Und da bieten sich jetzt digitale Lösungen an, weil sie Vernetzungsaufgaben, Kommunikationswege, die bereits aufgesetzt oder gestaltet sind, unterstützen können, auch mit passender Datenschutzsituation. Stellen wir uns vor, wir könnten physiotherapeutische Befunde, sexologische Befunde in ELGA einpflegen und der Nächste könnte – sofern das Einverständnis gegeben ist – darauf zugreifen! In Primärversorgungszentren sind zumindest alle in den gleichen Räumlichkeiten, aber durch digitale Lösungen können wir uns auch so treffen, ohne dass wir Zimmernachbarn sein müssen. Da gibt es große Potenziale. Auch dass Patientinnen und Patienten empowert werden und wieder mehr Inhaber ihrer Daten werden können.

Welche Ratschläge würden Sie Menschen geben, die entweder ihre neurologische Gesundheit durch Beckenbodentraining verbessern wollen oder die bereits mit neurologischen Erkrankungen zu kämpfen haben?

Was den Beckenboden betrifft, mit allem, was Kontinenz, Entleerung und Sexualität in dem Zusammenhang betrifft: Entspannung fördern. Auf muskulärer Ebene und auf vegetativer Ebene, also eben nicht immer nur aktiv zu sein, sondern auch mal zu entspannen und auf muskulärer Ebene eben auch wieder „lockerlassen“.

Ab wann sollte man nach Operationen im Beckenbodenbereich, bei denen sich auch die Anatomie verändert oder auch Nerven verletzt werden können, wie etwa nach Hysterektomien oder nach Prostataentfernung, wieder mit dem Beckenbodentraining beginnen, um z.B. Inkontinenzstörungen vorzubeugen?

Bitte schon vorher! Das ist ein Aufruf auch an alle, die eine Operation planen, an Ärztinnen und Ärzte oder Berufskollegen. Ich habe die Neuroplastizität angesprochen. Die Vorbeugung passiert, indem ich im gesunden Zustand ein Gefühl dafür habe: Wie funktioniert mein Körper, meine Nerven, Muskeln, Atmung, alle Systeme? Und dann kann ich, wenn ich in der Stresssituation bin, auf dieses Wissen ja schon zugreifen. Es ist viel besser präsent. Wenn dann das Gefühl nicht da ist, weiß ich, wo ich hinwill. Weil es aber so ein Tabuthema ist, habe ich mich vielleicht nie damit auseinandergesetzt und vorher nie hingegriffen.

Wie lange vor einer elektiven OP sollte man da beginnen?

Es wäre gut, 8 Wochen vor einem OP-Termin daran zu denken, damit man alles organisieren kann, Überweisung etc. Dann gehen sich vielleicht noch 6 Einheiten aus. Aber wenn es 2 sind oder eine Einheit ist auch besser als keine.

Und nach der OP, wann darf man wieder mit dem Beckenbodentraining anfangen?

Sobald die ärztliche Freigabe gegeben ist, die Wundheilungsphasen muss man beachten. Man kann aber gerade in der Neurologie oder generell schon wie erwähnt vielleicht mit der Entspannung beginnen. Sich nicht davon abhalten lassen, nicht zögern, Kontakt aufzunehmen und dann weiß das interprofessionelle Team für die individuelle Situation: Jetzt passt’s, wenn die Wundheilung so weit ist. Nehmen wir das Beispiel Geburt: Da habe ich auch schon einen Termin rund um die Geburt ausgemacht, wie ich meine Rückbildung mache, und ich darf mich vielleicht nach acht Wochen wieder sportlich betätigen. Aber ich bewege mich ja vorher schon.

Wenn Komplikationen auftreten und Beckenboden-Nerven verletzt worden sind, kann die von Ihnen erwähnte Neuroplastizität das wieder ausgleichen – ähnlich wie bei Gehirnverletzungen?

Bei peripheren Situationen ist die Frage: Ist die Nervenverbindung erhalten, ist sie vielleicht nur vorübergehend lädiert, dann erholt sie sich wieder und alles ist möglich. Es ist zwar ein peripheres Thema, aber solange etwas lädiert ist, reduziert sich ja auch zentral meine Aufmerksamkeit, meine Sensibilität. Das heißt, wenn ich meine Aufmerksamkeit wieder erhöhe, kann sich auch im Gehirn etwas verbessern, obwohl der Schaden peripher war. Ist der Nerv abgetrennt, dann brauche ich eine andere Unterstützung. Denn wo soll dann etwas herkommen? Und da wird das interprofessionelle Netz umso wichtiger, um zu schauen, wer konkret helfen kann, wer da Detailexpertise hat.

Das heißt, auch da gibt es noch Möglichkeiten?

Ja, die österreichische Chirurgie ist bei Nervenverletzungen sehr geübt und erfahren. Da ist die Chirurgie gefragt, ob man das wieder zusammenführen kann. Es gibt, so wie bei Amputationen, gemäß der aktuellen Leitlinien gewisse Zeitfenster, und je früher man da eine Diagnostik hat und aktiv wird, umso besser.

Was liegt Ihnen abschließend noch ganz besonders am Herzen?

Ich habe die Individualität schon angesprochen: Ich traue meinen Patientinnen und Patienten sehr viel zu und ich lerne sehr viel von ihnen. Also, erst einmal ein Danke, weil das meiste weiß ich durch den Austausch in jedem einzelnen Fall und da gehört eben auch dazu, dass manche von uns sehr viel, sehr individuell spüren. Der Körper kann unterscheiden, was für eine Muskelreaktion entsteht, wenn ich eine Übung entweder so oder anders vorsage, anleite, denke. Also, es zahlt sich aus, individuell hinzuschauen, hinzugreifen und auch die eigene individuelle Lösung zu finden. Es ist auch in Studien nachgewiesen, dass unterschiedliche Beckenbodenanteile Unterschiedliches machen. Es gibt so viele unterschiedliche Anatomien, nicht nur „Mann“ und „Frau“. Das, was man selbst fühlt, kann richtig sein, auch wenn andere eine andere Anatomie, ein anderes Gefühl haben. Also, nicht verunsichern lassen! Und fürs Training: Man soll einen Weg finden, wo man eine passende Reaktion im Beckenboden spürt und dann durch Hingreifen oder Elektroden auch das Feedback hat: Ja, das kommt am Beckenboden an, nämlich es geht nach innen geschnürt. Dann weiß ich, ich kann diese Kontinenz schaffen. Wenn ich wieder lockerlasse, dann weiß ich, ich kann entspannen und entleeren, dann kommt die Durchblutung. Das ist für die Patientinnen und Patienten auch das, was die Lebensqualität ausmacht. Also, selbst wenn ich nicht heilen kann: Eine Linderung, ein Verständnis, dass etwas geht, bedeutet viel.

Danke für das Gespräch!

Zur Person

FH-Prof. Anita Kidritsch, PT MSc, forscht und lehrt an der FH St. Pölten, Institut für Gesundheitswissenschaften, Department Gesundheit. Ihre Schwerpunkte sind u.a. Neurologie, Psychomotorik, Entspannungstherapie sowie F&E im Bereich Interdisziplinäre Gesundheitskommunikation. Sie ist Funktionärin bei Physio Austria und Vorstand in der Organisation für Tanzmedizin ta.med e.V.