2. Okt. 2023Insuffiziente Behandlung

Maßnahmenvollzug: häufigste Diagnose ist Schizophrenie

83,7% der Menschen im Maßnahmenvollzug leiden an einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis. Der Großteil davon war unzureichend oder gar nicht behandelt.

Portrait of a schizophrenic man with mental disorders and paranoia in depression. Generative AI
alexkoral/AdobeStock

Derzeit sind 1.452 Menschen im Maßnahmenvollzug – der Großteil davon hat Straftaten aufgrund von schizophrenen Störungen begangen. „Die Hauptdiagnose nach ICD.10, warum jemand in den Maßnahmenvollzug eingewiesen wird, ist mit 83,7% eine Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis. Ein Großteil dieser Menschen ist untergebracht wegen Mord bzw. Mordversuch (20,4%), einer gefährlichen Drohung (17,7%), dann folgen Sexualdelikte, Brandstiftung und weitere Straftaten“, berichtet Dr. Alexander Dvorak, Ärztlicher Leiter der Justizanstalt Göllersdorf.

Warum kommt jemand in den Maßnahmenvollzug?

Für Einweisung in den Maßnahmenvollzug muss eine Krankheit bestehen, die wirklich im kausalen Zusammenhang mit der Straftat steht, erklärt der Psychiater. „Schließlich will man Menschen nicht einsperren, weil sie krank sind, sondern um sie zu behandeln.“ Außerdem muss eine Gefährlichkeit gegeben sein, die von psychiatrischen Sachverständigen festgestellt werden muss. „Wenn keine Gefahr besteht, dass dieser Mensch aufgrund seiner Erkrankung weitere Straftaten besteht, kann die Person entweder freigesprochen werden oder es könnte ein vorläufiges Absehen vom Maßnahmenvollzug geben. Sprich, man weist nicht fix ein, sondern man behandelt den Menschen weiter, i.d.R. mittels Depottherapeutika, und entlässt ihn“, so Dvorak.

Keers et al.* zeigten, dass einer der wichtigsten Gründe, warum sich jemand in dieser Konstellation aus Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis + Gewaltdelikt  + Einweisung befindet, darin besteht, dass die Person unbehandelt war. „Die wenigsten der Patientinnen und Patienten, die ich in Göllersdorf behandle, waren zum Zeitpunkt der Tat suffizient behandelt. Die meisten waren gar nicht behandelt oder hatten eine sehr niedrige Medikationsadhärenz und hatten eigentlich in ihrem Krankheitsverlauf nie eine langfristige Behandlung“, mahnt Dvorak.

Rechtlichen Voraussetzungen, um in den Maßnahmenvollzug eingewiesen zu werden

Seit 1.3.2023 ist die aktualisierte Version des Maßnahmenvollzug-Anpassungsgesetzes in Kraft. Der Maßnahmenvollzug in Österreich hat eine Sonderstellung gegenüber den europäischen Ländern und hat zwei große Zweige, wie Dvorak erklärt:

  1. Nach §21 Abs. 1 StGB eingewiesene Personen hatten zum Tatzeitpunkt eine schwere Krankheit und waren nicht zurechnungsfähig. Die Dauer dieses Maßnahmenvollzuges richtet sich nach dem Anhalten der spezifischen Gefährlichkeit – es gibt kein fixes Strafende. „Diese Menschen könnten auch ihr Leben lang im Maßnahmenvollzug bleiben, wenn sie weiterhin gefährlich sind und es zu befürchten ist, dass sie in unmittelbarer Zeit wieder eine schwere Straftat begehen würden!“ Rund 80% derjenigen, die nach diesem Paragraphen eingewiesen wurden, seien an einer Erkrankung aus dem Schizophrenen Formenkreis erkrankt.
  2. Nach §21 Abs. 2 StGB verurteilte Personen sind zum Tatzeitpunkt zurechnungsfähig, haben aber diese Tat aufgrund einer schweren Erkrankung verübt. Hauptsächlich handle es sich dabei um Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung, aber auch Gewalt- und Triebtäter, die z.B. aufgrund einer schweren Referenzstörung ein Sexualdelikt an einem Kind verübt haben, fallen in diese Kategorie.

Um nun jemanden nach § 21 StGB einweisen bzw. anhalten zu können, muss man die Zurechnungsunfähigkeit – in Deutschland spricht man von Schuldfähigkeit – feststellen.

Um die Zurechnungsfähigkeit zu beurteilen, müsse zunächst die Diskretionsfähigkeit, also die Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen, festgestellt werden. „Psychotische und schizophrene Menschen sind in der Regel nicht diskretionsfähig.“ Wird festgestellt, dass jemand diskretionsfähig ist, müsse die Dispositionsfähigkeit festgestellt werden.

Management akuter psychotischer Störungen

Nach dem Konsensus-Statement der Österreichischen Gesellschaft für Neuropsychopharmakologie und Biologische Psychiatrie (ÖGPB) sind atypische Antipsychotika die First Line in der Behandlung der Schizophrenie. „Jenes Medikament, das sich in der Akuttherapie bewährt hat, wird auch zur Erhaltungstherapie sowie zur Rezidivprophylaxe verwendet. Man kann es also nicht absetzen“, erklärt Dvorak. „Medikamentenwechsel sind immer mit dem Risiko, ein Rezidiv zu erleiden, verbunden. Das zeigt uns auch die Erfahrung aus der Praxis: Je öfter es Umstellungen gab, desto schlechter ist das Ansprechen.“

Für die Langzeittherapie müssen die Nebenwirkungen bedacht werden und es sei einem atypischen Antipsychotikum bzw. einen Depot-Präparat der Vorzug zu geben.

In den USA wird empfohlen, die Depot-Präparate Patientinnen und Patienten anzubieten, die sich schlecht an ihre Therapie halten können, die intermittierend nicht adhärent sind. „Wenn Sie als Arzt oder Ärztin das Gefühl haben, dass bei einem Patienten bzw. einer Patientin die Medikation nicht wirkt, ist immer auch zu überlegen, ob sie auch wirklich eingenommen wird. Mit einem Depot kann man das natürlich ausschließen“, legt Dvorak dar. Durch sehr gewissenhafte Aufklärung über diese Therapieform steige auch die Bereitschaft, sich diese verabreichen zu lassen, wie die Praxis zeige.

Dauer der Behandlung nicht zu kurz ansetzen

„Das Hauptproblem, das wir in der Maßnahme sehen, ist, dass die Behandlung zu kurz oder immer wieder unterbrochen war“, berichtet Dvorak und erinnert: „Die Dauer nach der Erstmanifestation beträgt mindestens ein Jahr. Bei Anamnese von mindestens 2 akuten psychotischen Episoden oder einem Rezidiv innerhalb eines Jahres muss die Behandlung für mindestens 5 Jahre durchgeführt werden. Bei besonders häufigen Rezidiven, bei primär chronischen Verläufen oder wenn zusätzliche Risikofaktoren wie Fremd- und/oder Selbstgefährdung bestehen, kann die Behandlung auch lebenslänglich notwendig sein.“

Es gebe sehr viele Studiendaten dazu, dass das Ansprechen auf die Behandlung von Phase zu Phase schlechter wird. Ebenso nehme aber auch das kognitive Funktionsniveau ab. Es gebe Patientinnen und Patienten, bei denen nach der Phase weitestgehende Remissionen eintreten. Dabei handle es sich aber sehr selten um eine vollständige Remission, es bleibe immer ein Talspiegel übrig. Da dieser von Phase zu Phase immer weiter zunimmt, bleibe die Lage letztendlich stabil schlecht. „Im Interesse der Patientinnen und Patienten sollten die psychotischen Phasen also kurz und selten gehalten werden und die Rezidivprophylaxe stellt einen großen Schwerpunkt dar“, so Dvorak abschließend.

Am 10. Oktober ist Tag der psychischen Gesundheit

Rund einer von 100 Menschen erkrankt in seinem Leben an einer Schizophrenie. Männer sind etwas häufiger betroffen als Frauen. Um die bestmögliche Versorgung dieser Menschen zu garantieren, muss ein ganzes Netzwerk rund um den/die Betroffene tätig sein.

„Für Ärztinnen und Ärzte gilt, eine tragfähige Beziehung aufzubauen, persönliches Leid muss vermindert werden (diese Personen leiden sehr unter ihrer Erkrankung), soziale Beeinträchtigungen müssen gemindert werden (sozialen Rückzug bessern) und natürlich muss auch die Compliance gefördert werden“, erklärt Dr. Alexander Dvorak. „Es geht darum, unmittelbare Gefahren zu begrenzen und eine Koordination der weiteren Therapie zu veranlassen. Diese braucht ein gutes weites und enges Netz: dazu gehören Fachärztinnen und Fachärzte, eine Psychotherapie, Allgemeinmedizinerinnen und Allgemeinmediziner, psychiatrische Ambulanzen, Tageskliniken u.v.m.“

Fortbildung am Punkt, Wien, 15.3.2023