4. Sep. 2023Im Gespräch

Mit Migräne leben lernen

Am 5. September ist Kopfschmerztag. Jede 5. Frau weltweit und ca. eine Million Menschen in Österreich leiden an Migräne. Migräne und andere schwere Kopfschmerzerkrankungen sollten jedoch nicht das Leben dominieren. Mit spezifisch zugeschnittenen Therapien sind heute bereits gute Behandlungserfolge möglich. Neue Therapieansätze und das Setting der multimodalen Schmerztherapie können die Lebensqualität von Betroffenen deutlich verbessern, unterstreicht Dr. Sonja-Maria Tesar, Präsidentin der Österreichischen Kopfschmerzgesellschaft, im Gespräch.

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Privat

Dr. Sonja-Maria Tesar

Dr. Sonja-Maria Tesar

Dr. Tesar ist Präsidentin der Österreichischen Kopfschmerzgesellschaft (ÖKSG), Medizinische Direktorin des LKH Wolfsberg und Leiterin der Kopfschmerzambulanz am Klinikum Klagenfurt.

CliniCum neuro: Handelt es sich bei Kopfschmerzen um ein Symptom oder um eine eigenständige Erkrankung?

Sonja-Maria Tesar: Beides ist richtig, einerseits gibt es die Formen der sekundären Kopfschmerzen, wohinter eine oft gefährliche Ursache liegen kann, wie z.B. eine Hirnblutung, Hirnhautentzündung oder Tumore. Kopfschmerz stellt hier nur ein Symptom dieser Erkrankung dar. Andererseits gibt es die primären Kopfschmerzen. Hierbei handelt es sich um eine eigenständige Kopfschmerzerkrankung ohne andere Ursachen.

Welche sind die häufigsten Kopfschmerzarten?

Der am häufigsten auftretende Kopfschmerz ist der Spannungskopfschmerz in episodischer und chronischer Form, gefolgt von Migräne mit und ohne Aura. Diese kann ebenso episodisch oder chronisch auftreten. Der Unterschied ist die Anzahl der Migränetage. Bei der chronischen Migräneform leiden Patientinnen und Patienten an 15 oder mehr Tagen pro Monat an Kopfschmerzen, wovon mindestens 8 Tage die Kriterien der Migräne erfüllen. Viel seltener ist der Clusterkopfschmerz anzutreffen, der der Hauptvertreter der trigeminoautonomen Kopfschmerzen ist. Von dieser Kopfschmerzart sind viel öfter Männer betroffen, wobei Migräne 3-mal häufiger bei Frauen auftritt. Der Clusterkopfschmerz kann so intensiv sein, dass Menschen mit dem Kopf gegen die Wand rennen möchten. Weiters sind die Gesichtsschmerzen und Neuralgien zu erwähnen, hier am bekanntesten die Trigeminusneuralgie und die Okzipitalneuralgie. Ebenfalls erwähnenswert ist die paroxysmale Hemikranie, eine einseitige Kopfschmerzerkrankung, die gerne bei Frauen im mittleren Alter auftritt. All diese Kopfschmerzarten sind gemäß einer internationalen Klassifikation der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft (ICHD-3, International Classification of Headache Diseases) eingeteilt. Mithilfe dieses Kataloges, der 2018 neu aufgelegt worden ist, kann bei Erfüllung der definierten Kriterien eine Diagnose relativ rasch gestellt werden.

Welche neuen Therapiemöglichkeiten gibt es bei Migräne?

Seit 2018 gibt es in Österreich eine Revolution in der Behandlung der Migräne: Mit dem Ansatz, dass das sogenannte Calcitonin-gene-related polypeptide, auch CGRP-Molekül, hauptverantwortlich für die Entstehung einer Attacke ist, wurden monoklonale CGRP-Antikörper entwickelt, die seither in der prophylaktischen Therapie der Migräne zur Verfügung stehen. Einer der ersten war der Wirkstoff Erenumab, welcher den Rezeptor für CGRP blockiert. 2019 kamen 2 weitere Wirkstoffe hinzu (Fremanezumab und Galcanezumab), die das Molekül einfangen und damit unwirksam machen. 2023 im Jänner folgte mit Eptinezumab ein weiterer Antikörper, der als Infusion vierteljährlich verabreicht werden kann. Mit diesem prophylaktischen Novum steht nun der erste spezifische Ansatz in der Migräneprävention zur Verfügung, wenn 3 oder mehr Migränetage pro Monat vorhanden sind und 3 der bisherigen Medikamente erfolglos waren, wegen Nebenwirkungen abgebrochen wurden oder Kontraindikationen bestehen. Seit August 2022 gibt es ergänzend zu den Triptanen, die für die Akuttherapie von Attacken seit 1994 auf dem Markt sind, nun das Ditan Lasmiditan, welches auch bei Personen mit kardiovaskulären Risikofaktoren angewandt werden kann. Auch Betroffene, die auf Triptane nicht gut ansprechen, profitieren von Lasmiditan. Das Medikament muss jedoch über den Chefarzt bewilligt oder selbst gekauft werden, es gibt derzeit noch keine Erstattung.

Ein weiterer Fortschritt in der Forschung ist die EU-Zulassung des Gepants Rimegepant seit April 2022. Die Substanz ist zugelassen für Akuttherapie und Prophylaxe und wird einerseits mit 75mg jeden 2. Tag prophylaktisch oder akut zur Behandlung von Attacken verabreicht. In Einzelfällen kann das Medikament chefärztlich bewilligt werden, eine Erstattung ist noch nicht möglich, wird aber eventuell für das 3. oder 4. Quartal 2023 erwartet.

In welchem Bereich würden Sie sich weiterführende Studien wünschen?

Im Bereich Clusterkopfschmerz und Neuralgien wären weiterführende Studien wünschenswert. Ebenso sollte bezüglich neuer Therapieansätze bei Migräne dringend weitergeforscht werden.

Welche Präventionsmaßnahmen gibt es und wie profitieren Patientinnen und Patienten davon?

Kopfschmerzpatientinnen und -patienten sollten zumindest einmal bei Neurologinnen und Neurologen vorstellig werden. Betroffene sollten nicht zu Hause resignieren, sondern Selbstverantwortung übernehmen. Auch Lebensstilmaßnahmen zählen zur Therapie z.B. einer Migräne. Außerdem kann mittels Ausdauersport und Entspannungstechniken Abhilfe geschaffen werden. Gut belegt ist auch die Wirksamkeit der kognitiven Verhaltenstherapie. Im Falle von Gesichtsschmerzen sollten Fachärztinnen und Fachärzte für Mund-/Kieferchirurgie und HNO interdisziplinär mit ins Boot geholt werden.

Vielen Dank für das Gespräch!

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin CliniCum neuropsy