9. Nov. 2022Grazer Fortbildungstage

Neurologische Long-COVID-Symptome

Neben vielen anderen Organsystemen kann Long-COVID auch das Gehirn und Nervensystem betreffen. Doch Vorsicht vor einer allzu raschen Schuldzuweisung: Neue oder progrediente neurologische Beschwerden nach einer SARS-CoV-2-Infektion können auch eine andere Ursache haben.

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Die Abkürzung SARS (severe acute respiratory syndrome) weist zwar darauf hin, dass COVID-19 vor allem eine Infektion der Atemwege ist, prinzipiell kann das SARS-CoV-2-Virus jedoch fast alle Organsysteme befallen. Die vielfach beschriebene Riechstörung zeigt, dass das Nervensystem oft schon zu Beginn der Erkrankung betroffen ist. Neben der Anosmie und der Ageusie können bei Coronapatient:innen unter anderem auch Enzephalopathien und zerebrovaskuläre Erkrankungen gefunden werden. Das periphere Nervensystem und die Muskulatur sind ebenfalls potenzielle neurologische Manifestationsorte der Infektion.

Bei einer akuten COVID-19-Erkrankung ist eine Mitbeteiligung des Nervensystems meist ein schlechtes Zeichen: „Patient:innen mit neurologischen Manifestationen sind häufig schwerer erkrankt, haben eine höhere Mortalität und Morbidität, eine längere Aufenthaltsdauer im Krankenhaus und auf der Intensivstation und insgesamt ein schlechteres Outcome“, berichtet ao. Univ.-Prof. Dr. Juan-Jose Archelos-Garcia, Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische Universität Graz.

Oft unterschätzt wird, dass COVID-19 nicht nur mit schwerwiegenden neurologischen Symptomen, sondern auch mit schwerer fassbaren neuropsychiatrischen Störungen assoziiert sein kann. In einer Metaanalyse wurde die Prävalenz von neuropsychiatrischen Symptomen bei COVID-19 auf 24 Prozent geschätzt. Auffallend dabei war, dass die Wahrscheinlichkeit, neuropsychiatrische Symptome zu entwickeln, unabhängig davon war, ob eine leichte oder schwere COVID-19-Erkrankung vorlag (Ähnliches gilt übrigens auch für Kopfschmerz und Fatigue).

Was ist Long-COVID?

Unter dem Begriff Long-COVID werden heute alle Symptome zusammengefasst, die mehr als vier Wochen nach Ansteckung mit dem Coronavirus fortbestehen, sich verschlechtern oder neu auftreten. Klar ist, dass es nach einer COVID-19-Erkrankung auch neurologische Langzeitfolgen geben kann. In vielen Fällen ist aber nicht wirklich eindeutig, ob man diese Long-COVID zurechnen kann. Als Beispiel nennt Archelos-Garcia Patient:innen mit Schlaganfällen: „Bei schweren COVID-19-Erkrankungen kommt es häufiger zu einem Schlaganfall als bei leichten. Wie bezeichnen wir das, wenn sich die Symptome bessern, die Patient:innen aber nach Monaten noch gewisse Ausfälle haben? Ist das jetzt ein Long-COVID-Fall oder einfach ein Schlaganfall mit seinen Folgen, die zu bewältigen sind?“ Ein anderes Beispiel sind die bekannten Langzeitfolgen einer Behandlung auf der Intensivstation (Post-Intensive-Care-Syndrom), zu denen auch Konzentrations- und Gedächtnisstörungen zählen: Kann man das als neurologische Long-COVID-Symptomatik bezeichnen?

Eindeutiger ist die Zuordnung zu Long-COVID bei Patient:innen, die initial nicht so schwer erkrankt sind, dann aber eine persistierende neurologische Symptomatik entwickeln. Die Palette möglicher Beschwerden reicht von Fatigue, Antriebs- und Konzentrationsstörungen bis hin zu kognitiven Beeinträchtigungen in verschiedenen Domänen. Die unspezifische Störung der Exekutivfunktionen wird häufig auch als „Brain Fog“ bezeichnet. Während die Neuropathologie der akuten COVID-19-Erkrankung schon recht gut charakterisiert ist, gibt es noch kaum Untersuchungen zum pathogenetischen Substrat von neurologischen Long-COVID-Symptomen. Das Virus selbst scheint dabei keine große Rolle zu spielen: Der Virusnachweis ist im Gehirn selten positiv und korreliert nicht mit der Schwere der neurologischen Klinik. „Was wir eher sehen, sind entzündliche Infiltrate, Zeichen von Hypoxie, Hämorrhagien, Mikroangiopathien oder Mikroglia-Aktivierungen, wie wir sie sonst beim Morbus Alzheimer finden“, so Archelos-Garcia. Erschwert wird die Diagnose allerdings dadurch, dass in vielen Fällen keine Pathologie fassbar ist.

Ist der Hirnabbau reversibel?

Eine mögliche Erklärung für neurologische Langzeitfolgen von COVID-19 lieferte 2022 eine aufsehenerregende Studie, die auch in den Medien viel Staub aufwirbelte: Britische Forscher:innen analysierten die Daten von 785 Menschen, die im Abstand von drei Jahren zwei MRTs des Schädels hatten. Von den Studienteilnehmer:innen hatten 401 zwischen den beiden Untersuchungen eine SARS-CoV-2-Infektion, während die Kontrollgruppe nicht erkrankt war. Die Auswertung der MRT-Scans zeigte, dass selbst milde COVID-19-Erkrankungen zu einer Schädigung des Gehirns führten, die dem natürlichen Abbau innerhalb von zehn Jahren entsprach. Besonders betroffen waren die mit dem Riechorgan verbundenen Hirnareale. Kognitive Tests zeigten zudem, dass die strukturellen Veränderungen auch mit kognitiven Störungen assoziiert waren. Dazu passen die Ergebnisse von PET-Untersuchungen, in denen während der akuten Erkrankung ein ausgeprägter Hypometabolismus im Frontalhirn festgestellt wurde. Bei einer Kontrolle sechs Monate später zeigte sich zwar eine deutliche Verbesserung des Hirnstoffwechsels, bei einigen Patient:innen immer noch vorhandene Residuen werfen aber die Frage auf, ob die gefundenen Veränderungen alle reversibel sind oder doch zum Teil persistieren.

Welch große Rolle neurologische Symptome bei Long-COVID spielen, belegt eine multizentrische Querschnittsstudie. Wenn man sich genauer anschaut, unter welchen Beschwerden Long-COVID-Patient:innen vor allem leiden, lassen sich bestimmte Muster erkennen: Bei manchen Patient:innen stehen vor allem die Schmerzen im Vordergrund, bei anderen eher Atemwegsprobleme oder kardiale Beschwerden. Das häufigste der sechs gefunden Muster aus 14 Symptomen war aber das „Cognitive Pattern“.

Red Flags

Die Tatsache, dass das Gehirn und das Nervensystem nach COVID-19 auch länger beeinträchtigt sein können, sollte aber nicht dazu verleiten, alle neurologischen Symptome und Erkrankungen nach einer SARS-CoV-2-Infektion dem Virus in die Schuhe zu schieben. Für die richtige Behandlung der Patient:innen ist es wichtig, rechtzeitig entsprechende Differenzialdiagnosen in Betracht zu ziehen. „Wir haben mehrfach erlebt, dass bei Patient:innen mit der Zuweisungsdiagnose Long-COVID die Ursache der neurologischen Zeichen in Wirklichkeit eine zerebrale Raumforderung war“, warnt Archelos-Garcia vor einer vorschnellen Diagnose. Der Neurologe hat eine Liste von Red Flags zusammengestellt, die dagegensprechen, dass eine neurologische Symptomatik in Zusammenhang mit COVID-19 steht:

  • Peitschenhiebartige Kopfschmerzen
  • Fatigue, die mit Paresen und anderen neurologischen Zeichen kombiniert ist
  • Für Long-COVID untypische Symptome (Erbrechen, Gangstörung, Doppelbilder)
  • Knick im postakuten neurologischen Verlauf (zuerst Verbesserung, dann wieder Verschlechterung)
  • Neuauftreten von neurologischen Symptomen wie Wesensveränderung, Bewusstseinsverlust, epileptische Anfälle oder anhaltender Schwindel

Auch eine zunehmende Besorgnis von Patient:innen oder Angehörigen („Da stimmt etwas nicht…“) ist für den Experten ein wichtiger Anhaltspunkt dafür, dass die neurologische Symptomatik möglicherweise eine andere Pathogenese hat.

Die gute Nachricht zum Schluss: Viele der vorliegenden Daten wurden noch bei Patient:innen erhoben, die mit der Alpha- oder Delta-Variante von SARS-CoV-2 infiziert waren, und sind nicht eins zu eins auf andere Varianten übertragbar. Es gibt Hinweise darauf, dass neurologische Symptome und die Long-COVID-Problematik bei Infektionen mit den Omikron-Varianten deutlich seltener sind.

Archelos-Garcia, J.: „Long-COVID 2022: Hirn und Nervensystem“
32. Grazer Fortbildungstage, Graz, 13. Oktober 2022