Das ABCDE der Anaphylaxie
Wenn in der Praxis eine Anaphylaxie auftritt, ist nicht nur rasches, sondern auch symptomorientiertes Handeln gefragt. Doch welche konkreten Sofortmaßnahmen gilt es im Einzelfall zu ergreifen? Eine aktualisierte S2k-Leitlinie liefert Anhaltspunkte.
Der erste Schritt besteht darin, nach einer Überprüfung der Lebenszeichen, wenn möglich die Allergenexposition zu unterbrechen und gegebenenfalls Hilfe anzufordern. Wer im Vorfeld bereits auf mögliche Prodromalsymptome achtet, gewinnt zusätzliche Zeit. Die Basisuntersuchung richtet sich nach den Vitalparametern und folgt dem ABCDE-Schema (s. unten). Bei der anschließenden Anamnese – wenn diese möglich ist – sollte man unter anderem auf Vorerkrankungen wie Asthma, allergische Reaktionen in der Vorgeschichte sowie Art und Menge des aktuellen Triggers achten.
Vorboten einer Anaphylaxie
- Juckreiz oder Brennen an Handinnenflächen, Fußsohlen oder im Genitalbereich
- metallischer Geschmack
- Angstgefühle
- Kopfschmerzen
- Desorientierung
- bei Kleinkindern: Unruhe oder Rückzugsverhalten
Behandlung je nach Symptom-Gefährlichkeit
Das führende Symptom bestimmt die Lagerung des Betroffenen und das weitere Vorgehen. Generell empfiehlt es sich, den Patienten flach zu lagern, dabei aber abrupte Positionsveränderungen und körperliche Anstrengung zu vermeiden.
- Bei eingeschränktem Bewusstsein und intaktem Kreislauf heißt es: stabile Seitenlage und Atemfunktion überwachen.
- Die hämodynamische Situation lässt sich dagegen in der Trendelenburg-Lagerung verbessern.
- Dominiert eine Atemnot, empfehlen die Leitlinienautoren eine (halb-)sitzende Position.
Therapiert wird hierarchisch je nach Gefährlichkeit der Symptomatik.
Anaphylaxie GRAD IV
Eine kardiopulmonale Reanimation steht beim schwersten Anaphylaxiegrad (Grad IV: Herz-Kreislauf-Versagen) außer Frage. Bei Erwachsenen wechseln Thoraxkompressionen und Beatmung im Verhältnis 30:2, Kindern erhalten stattdessen fünf initiale Beatmungen, gefolgt von 15 Kompressionen und jeweils zwei Beatmungen. Defibrilliert wird nur bei Kammerflimmern. Bis der Spontankreislauf wiederhergestellt ist, erhält der Patient alle 3–5 Minuten Adrenalin (1mg bei Erwachsenen bzw. 0,01mg/kgKG) intravenös oder intraossär. Um die Sauerstoffversorgung zu sichern, reicht in der Regel zunächst eine Beutel-Maskenbeatmung mit Reservoir und reinem Sauerstoff aus. Komplikationen können eine Larynxmaske, einen Larynxtubus oder bei Kleinkindern einen Rachentubus erforderlich machen. Zudem sollte der durch Vasodilatation und Kapillar-Leakage entstandene Volumenmangel mittels forcierter Volumensubstitution ausgeglichen werden.
Anaphylaxie GRAD II/III
Nicht-reanimationspflichtige Patienten erhalten bei einer überwiegenden Herz-Kreislauf-Reaktion mit Dyspnoe, Hypotonie, Schock oder Bewusstseinsverlust direkt Adrenalin in die Außenseite des Oberschenkelmuskels. Eine subkutane Gabe wird aufgrund der geringeren Resorption und der verzögerten Wirkung in der Leitlinie nicht mehr empfohlen, und intravenöses Adrenalin birgt ein höheres Risiko für kardiale Nebenwirkungen. Das gilt insbesondere für Patienten mit KHK, bei denen aufgrund der potenziell arrhythmogenen Wirkung die Indikation der Adrenalingabe (v.a. intravenös) enger gestellt werden sollte. Befindet sich der Patient in akuter Lebensgefahr, ist Adrenalin aber nie absolut kontraindiziert, heißt es in der Leitlinie. Bleibt das Ansprechen aus, kann die Injektion alle fünf bis zehn Minuten wiederholt werden.
ABCDE-Schema
- Airway (Atemwege): Sind Schwellungen und Veränderungen der Stimme/Sprache vorhanden?
- Breathing (Atmung): Wie sieht es mit der Atmung aus? Optional kann eine Auskultationund/oder Pulsoximetrie erfolgen.
- Circulation (Kreislauf): Verhalten sich Rekapillarisierungszeit, Puls und Blutdruck normal?
- Disability (Behinderung): Ist der Patient bei Bewusstsein? Gibt es Auffälligkeiten beim Blutzucker?
- Exposure (Belastung): Zeigt der Patient eine kutane Reaktion? Inspiziert werden sollten die leicht einsehbaren Hautareale sowie die Schleimhäute. Liegen weitere Beschwerden vor, z.B. Übelkeit, Brechreiz, Kopfschmerzen, thorakales Druckgefühl, Sehstörung, Pruritus?
Sauerstoffgabe und Kontrolle der Atemwege
Neben Adrenalin sollte der Patient zusätzlich Sauerstoff erhalten. Das Ziel besteht in einer Anreicherung des inspiratorischen Sauerstoffanteils auf >0,5 - am besten via Sauerstoffatemmaske. Bewusstseinsstörungen machen zusätzlich die ständige Kontrolle der Atemwege erforderlich. Eine einsatzbereite Absaugeinheit hilft, z.B. Erbrochenes direkt zu entfernen.
Im nächsten Schritt wird ein großlumiger intravenöser (ggf. intraossärer) Zugang gelegt und eine forcierte Volumensubstitution mit einer kristalloiden Infusionslösung als Volumenbolus eingeleitet. Erwachsene erhalten 500–1.000ml, Kinder 20ml/kgKG. Im Falle eines persistierenden oder bedrohlichen Schockzustandes ist die fraktionierte Gabe von Adrenalin bzw. eine Infusion indiziert. Haben sich die Vitalfunktionen stabilisiert, können hochdosierte Antihistaminika oder Glukokortikoide intramuskulär verabreicht werden. Blutdruck und Puls darf man bei diesen Patienten aber vorerst nicht aus den Augen lassen. Die Gabe von zusätzlichen sympathomimetischen Wirkstoffen, empfehlen die Autoren der Leitlinie nur im Falle, dass eine notfallmedizinische Ausbildung vorhanden ist.
Auch bei einer Obstruktion der oberen Atemwege besteht der erste Schritt darin, Adrenalin i.m. und Sauerstoff zu geben. Hat der Patient z.B. ein Larynxödem oder einen Bronchospasmus, besteht eine Indikation auch für inhalatives Adrenalin. Bei unzureichendem Ansprechen erfolgt die weitere Behandlung nach dem Algorithmus der S1-Leitlinie zum prähospitalen Atemwegsmanagement u.a. mit Maskenbeatmung, Intubation oder gegebenenfalls einer Koniotomie (nicht bei Kindern!).
Bei einer bronchialen Obstruktion, die ebenfalls einer Anaphylaxie Grad II/III entspricht, können zum Adrenalin (i.m.) kurz wirksame Beta-2-Sympathomimetika (z.B. Salbutamol, Terbutalin) hinzukommen. Dabei ist es wichtig, Patienten die Anwendung über entsprechende Geräte so einfach wie möglich zu machen. Für eine Therapieeskalation eignet sich die repetitive Gabe von Adrenalin (je nach Situation auch i.v.) oder die Injektion von Terbutalin (s.c.) bzw. Reproterol (i.v.). Entwickelt der Patient Status asthmaticus mit muskulärer Erschöpfung kommt man eventuell um eine Notfallnarkose mit Esketamin und Midazolam plus Beatmung nicht herum.
Diese Gefahren lauern in der Praxis
- Allergenlösungen bei Immuntherapien: Bei Verdacht also besser die Notfallmedikamente bereithalten und einen Zugang legen
- Naturlatex
- Lokalanästhetika
- ambulant gegebene Medikamente (Antibiotika, Zyklooxygenase-Inhibitoren, Kontrastmittel, Impfstoffe, i.v.-Eisen)
Anaphylaxie GRAD I/II
Dominiert die abdominale Symptomatik (Anaphylaxie Grad II) ähnelt das weitere Vorgehen zunächst einer Anaphylaxie mit Hautbeteiligung (Anaphylaxie Grad I). Als Erstes erhält der Patient einen intravenösen Zugang, der mittels Infusion mit einer kristalloiden Infusionslösung (z.B. balancierte Vollelektrolytlösung) offengehalten wird. Antiallergika wie Dimetinden sowie Glukokortikoide kommen in den üblichen Dosen zum Einsatz.
Bleiben vorhandene gastrointestinale Symptome, meist Übelkeit, Brechreiz, Abdominalkoliken unter einer systemische Therapie bestehen, erhalten sie einen eigenständigen Krankheitswert. Empfohlen werden für solche Fälle Antiemetika (z.B. Metoclopramid), Antihistaminika wie Dimenhydrinat oder Serotonin-(5-HT3)-Antagonisten wie Ondansetron. Abdominalkrämpfen lässt sich über Muskarinrezeptorantagonisten entgegensteuern.
Patienten mit schwerer Anaphylaxie oder einer Reaktion, die sich nicht eindeutig einordnen lässt, müssen zur Überwachung stationär aufgenommen werden. Wurde die Reaktion erfolgreich behandelt – dabei unbedingt auf die ausführliche Dokumentation achten –, können die Betroffenen nach einer ausführlichen Aufklärung, mit einem Rezept für ein Notfallset und ggf. dem Termin oder der Überweisung zur Allergiediagnostik nach Hause entlassen werden.