Neurofibromatose Typ 1: Die Krankheit mit vielen Gesichtern
Neurofibromatose Typ 1 gilt als eine der häufigsten monogenetischen seltenen Erkrankungen. Aufgrund einer spezifischen Mutation entstehen oft schon im Kleinkindalter Tumoren vor allem an Nerven und Haut. Eine maßgeschneiderte medizinische und psychosoziale Versorgung finden Patienten und ihre Familien am Expertisezentrum in Wien sowie in Zusammenarbeit mit dem Verein NF Kinder.
Wie viele Kinder mit einer Mutation im NF1-Gen war auch die heute 13-jährige Rhea Röhl bei ihrer Geburt völlig unauffällig. „Wir waren als Eltern sehr glücklich, ein gesundes Kind zu haben“, erzählt Rheas Vater Claas Röhl. Im Alter von drei Monaten erschienen an Rheas Haut plötzlich die für NF1 typischen Café-au-lait-Flecken, die rasch mehr wurden. „Wir sind von Arzt zu Arzt gegangen und bekamen ganz unterschiedliche Dinge zu hören. Einmal hieß es, wir sollten uns keine Sorgen machen, ein anderes Mal, es sei mit Sicherheit Neurofibromatose.“ Im Alter von sieben Monaten wurde an der Neuroonkologischen Spezialambulanz des AKH Wien (damals noch unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Irene Slavc) bei Rhea die Diagnose durch einen Gentest bestätigt. „Bis dahin hatten wir noch einen Restfunken Hoffnung“, so Röhl. „Die Diagnose mussten wir gewissermaßen erst verdauen, ebenso Informationen über den unberechenbaren Verlauf. Zugleich spürten wir sofort, dass sich das Team an der Neuroonkologischen Ambulanz damit sehr gut auskennt.“
Im Alter von zweieinhalb Jahren begann für Rhea und ihre Eltern eine „sehr intensive Phase“, wie Röhl schildert: „Es hatten sich Sehbahntumoren gebildet. Aufgrund des Risikos einer Schädigung des Sehnervs bekam meine Tochter bis ins Alter von vier Jahren eine Chemotherapie. Ein weiteres Gliom behinderte den Liquor-Abfluss, sodass eine Operation nötig wurde.“ Mit dem bestmöglichen Outcome der Therapie wurden die Tumoren deutlich kleiner und sind seit nunmehr acht Jahren stabil, die Sehfunktion konnte gerettet werden.
Beobachten und Entscheiden
Die Herausforderung, Kinder mit Neurofibromatose und deren Familien zu begleiten, kennt Assoc. Prof. Dr. Amedeo Azizi von der Kinderklinik des AKH Wien nur zu gut. Als Spezialist für Pädiatrische Neuroonkologie leitet Azizi das NF Kinder Expertisezentrum. „Kinder mit Neurofibromatose sind nicht per se krank. Wir sprechen daher lieber von Veranlagung als von Erkrankung. Sie tragen jedoch unter anderem ein erhöhtes Risiko für die Ausbildung von Tumoren vor allem im ZNS; es gilt den Verlauf zu beobachten und für jeden und jede einzeln zu entscheiden, ob und wann eine Therapie notwendig ist“, erklärt Azizi. Die Chemotherapie ist bei Tumoren der Sehbahn eine Möglichkeit, manchmal sind auch chirurgische Eingriffe nötig.
Ab der Pubertät besteht zudem ein höheres Risiko für die Ausbildung der an sich gutartigen, mitunter aber stark entstellenden Neurofibrome. „Diese wurden von der Medizin lange als kosmetisches Problem vernachlässigt, sind für Menschen mit Neurofibromatose im Erwachsenenalter jedoch oft die größte Belastung“, berichtet Azizi. Die Neurofibrome können zwar mit Skalpell oder Laser entfernt werden – mit Letzterem sogar Tausende in einer Sitzung –, es bleiben aber immer Narben. Fünf der ersten 15 Patienten, die weltweit eine Gesichtstransplantation erhielten, waren übrigens von Neurofibromatase betroffen, erzählt Azizi. Durch Neurofibrome hervorgerufene Probleme im Mund-Rachen-Raum oder funktionelle Beeinträchtigungen der inneren Organe könnten zudem ebenfalls chirurgische Eingriffe erfordern.
Aufklärung nötig
Röhl und Azizi betonen gleichermaßen, wie wichtig die Verbreitung des Wissens um Neurofibromatose ist – in der Ärzteschaft wie auch in der Allgemeinbevölkerung. Verhaltensauffälligkeiten oder Schulschwierigkeiten bedeuten neben dem medizinischen einen umfassenden psychosoziale Betreuungsbedarf. Der von Röhl gegründete Verein „NF Kinder“ hat in Kooperation mit der MedUni Wien das NF Kinder Expertisezentrum aufgebaut und ermöglicht durch Spenden vielfältige Unterstützungen für die Familien (siehe Fakten-Check).
Im Erwachsenenalter können die Kontroll-Intervalle durchaus auf alle zwei bis drei Jahre ausgedehnt werden, so Azizi, allerdings müssten die Patienten auch Warnsymptome wie schnell wachsende oder schmerzende Knoten kennen. Offen sei allerdings noch die psychosoziale Transition, da mehr als die Hälfte der Patienten klinisch relevante Depressionen entwickeln, die Symptome aber von sich aus nur selten ansprechen.
Für Patienten im Erwachsenenalter gibt es in Wien seit Kurzem durch die Zusammenarbeit mit Assoc. Prof. Priv.-Doz. Dr. med. univ. et sci. Anna Sophie Bergmeister-Berghoff, Leiterin der internistischen Neuroonkologie am AKH Wien, eine gute Möglichkeit der medizinischen Weiterbetreuung erwachsener Patienten mit Neurofibromatose (siehe auch hier).
„Mein größter Wunsch für meine Tochter und andere Kinder ist es, dass sie über mehrere zugelassene Therapien verfügen, die auch präventiv die Bildung der Neurofibrome verhindern können. Bis dahin sollten alle Kinder die optimale Unterstützung im Hier und Jetzt bekommen; vor allem auch in ihrer Persönlichkeit und in ihrem Selbstwert gestärkt werden“, sagt Röhl. Kinder mit NF1, so Azizi, müssten nicht unter eine „Käseglocke“ gestellt werden, sehr wohl aber sollten alle Fördermöglichkeiten ausgeschöpft werden – bis hin zur Kinder-Reha, die seit Kurzem im Rehazentrum kokon in Bad Erlach (NÖ) möglich ist. „Unverständlich ist dabei für mich allerdings, warum für Eltern von Kindern mit NF1 keine Familienrehabilitation so wie bei Kindern mit onkologischen Erkrankungen möglich ist.“
Fakten-Check: Neurofibromatose Typ 1 (NF1)
Neurofibromatose ist eine der häufigsten Seltenen Erkrankungen (Inzidenz: ca. 1/2.500 Menschen). Allein im deutschsprachigen Raum kommt jeden Tag ein betroffenes Kind zur Welt. In Österreich leben etwa 4.000 Menschen mit der Krankheit. „NF1 ist eines der größten Gene im menschlichen Erbgut. Bei einer heterozygoten Mutation oder Verlust besteht die Veranlagung NF1. Kommt es durch den sogenannten Second Hit infolge somatischer Mutationen zum Verlust der Funktion des zweiten NF1-Gens, entstehen krankheitsspezifische Manifestationen“, erklärt Assoc. Prof. Dr. Amedeo Azizi, Medizinischer Leiter des NF-Expertisezentrums an der MedUni Wien.
Als häufigste neurokutane Erkrankung führt NF1 zur Bildung von Tumoren hauptsächlich an Nerven und Haut. Als erstes Symptom treten fast immer die typischen Café-au-lait-Flecken auf. Fibrome können im Verlauf an der Haut oder an inneren Organen entstehen und deren Funktion gefährlich beeinträchtigen. Neuropsychologische und orthopädische Probleme sind ebenfalls häufige Krankheitssymptome.
Der von Claas Röhl gegründete Verein „NF Kinder“ fördert in Zusammenarbeit mit dem Expertisezentrum unter anderem eine kostenlose neuropsychologische Diagnostik für Kinder im Vorschul- und Schulalter, soziales Kompetenztraining oder soziale und pädagogische Beratung. „Zudem organisieren wir Familien- oder Jugendwochen gegen einen geringen Selbstbehalt oder Gesprächsrunden für Eltern“, erklärt Röhl.
Am NF Expertisezentrum in Wien werden derzeit rund 350 Familien mit NF1 betreut, zudem beteiligt sich das Team an Forschungsprogrammen, auch ein NF-Register soll es in Kürze geben. „Therapeutisch ist es das große Ziel, künftig eine genetische Modifikation vornehmen zu können. Dies ist jedoch eine enorme Herausforderung, da alle Körperzellen betroffen sind und eine Therapie in der Lage sein muss, die Blut-Hirn-Schranke zu umgehen. Noch sind wir davon leider weit entfernt“, erläutert Azizi. Im vergangenen Jahr wurde aber erstmals ein Medikament zur Behandlung plexiformer nicht operabler Neurofibrome bei NF1 zugelassen. Es handelt sich dabei um ein Small Molecule aus der Gruppe der MEK-Inhibitoren, das die Signaltransduktion von NF1 deaktiviert.
www.nfkinder.at
Serie: Die Gesichter Seltener Erkrankungen
Seltene Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und bestmöglich zu behandeln bzw. zu managen gehört zu den größten Herausforderungen der Medizin im dritten Jahrtausend. Mitunter sind es vielleicht nur zehn, zwölf Menschen in Österreich mit derselben Diagnose, die oft erst nach jahrelangen Wegen durch Ordinationen und Ambulanzen wissen, woran sie tatsächlich leiden. Die Diagnose erhielten sie meist von engagierten Ärztinnen und Ärzten, die auf den richtigen Pfad kamen und sich um Therapie und Management bemühen.
In der neuen medonline-Serie in Kooperation mit dem Referat für Seltene Erkrankungen der Ärztekammer Wien wollen wir die Gesichter Seltener Erkrankungen vorstellen mit dem Ziel, das Bewusstsein dafür zu stärken: Seltene Erkrankungen sind zwar selten, aber es gibt sie! Mitunter sind sie aber viel zu wenig bekannt. Wir stellen Ihnen daher engagierte Ärztinnen und Ärzte und ihre Patientinnen und Patienten bzw. deren Eltern vor. Ihre Erfahrungen sollen dazu beitragen, Seltene Krankheiten besser bekannt zu machen und vielleicht rascher zur richtigen Diagnose und zur bestmöglichen Behandlung zu kommen.
Mag. Christina Lechner (Koordinierende Redakteurin) & Mag. Simone Peter-Ivkić, Bakk. (Redaktionsleitung medonline) mit Dr. Christoph Buchta (Ärztekammer Wien/Referat für Seltene Erkrankungen)
In Kooperation mit der Ärztekammer Wien
Referat für Seltene Erkrankungen