Jugendliche & Corona: Verschreibungen von Antidepressiva massiv gestiegen
Um rund 2.400 Jugendliche oder 37 Prozent mehr: Bundesweit stiegen Antidepressiva-Verordnungen seit Corona-Beginn bis Ende des 3. Quartals 2021 von 6.515 auf 8.954 an (Update am 28.01.2022). Das zeigen aktuelle Zahlen der Heilmitteldatenbank des Dachverbands der Sozialversicherungsträger. Alarmierend: In Oberösterreich lag der Anstieg mit 41 Prozent über dem Bundesschnitt. Jugend-Landesrat Dr. Wolfgang Hattmannsdorfer will nun Themen wie Essstörungen, Schlafprobleme und Selbstverletzung aus der Tabuzone holen und das Angebot des JugendService des Landes auf psychische Gesundheit ausrichten. Die flächendeckenden Beratungsstellen bieten Infos an und sind auch geschult, als „Navigatoren“ auf die richtigen – medizinischen – Anlaufstellen zu verweisen. Das betrifft auch Long Covid.
Der Umgang mit der Covid-Pandemie beherrsche seit fast zwei Jahren den Alltag, es habe „viele Einschnitte“ und „notwendige Schutzmaßnahmen“ gegeben, leitet Hattmannsdorfer die gemeinsame Pressekonferenz am 25.01.2022 mit Peter Lehner, Vorsitzender der Konferenz der Sozialversicherungsträger, zu den psychischen Folgen der Corona-Pandemie ein. Der VP-Landesrat ortet zwar „keine Neuentwicklungen, aber es sind Entwicklungen, die die Corona-Pandemie aufgezeigt hat und vor allem in ihrer Entwicklung vor allem auch beschleunigt hat“.
Wenn man selber zurückdenke, sei die Jugend eine unbeschwerte, sehr prägende und wichtige Zeit, die Pandemie habe aber doch sehr massive Auswirkungen gehabt, fährt Hattmannsdorfer fort. Er sieht es nun in der „Verantwortung der Politik“, die Probleme der Jugend direkt anzusprechen, „weil wir nur so zu einer Enttabuisierung auch aktiv beitragen können“. Das Hauptproblem: Oft werde nicht darüber gesprochen, Eltern oder Jugendliche seien gehemmt, sich rechtzeitig zu informieren, rechtzeitig auch Beratung in Anspruch zu nehmen und damit auch rechtzeitig zur entsprechenden Hilfe zu kommen.
„Die Probleme beim Namen nennen“
„Und deswegen nennen wir die Probleme beim Namen, das sind Essstörungen, das sind Schlafprobleme, das ist Stress, das ist auch das Verhalten der Selbstverletzung, das wir auch aktiv in Angriff nehmen wollen mit der Neuausrichtung der Angebote im JugendService des Landes“, verweist Hattmannsdorfer auf den neuen Schwerpunkt „psychische Gesundheit“. Gemeinsam mit den Jugendberatern hat das JugendService des Landes OÖ für die genannten Themenschwerpunkte drei neue bzw. erweiterte Angebote geschaffen (siehe Kasten).
Als Grund für den Handlungsbedarf verweist Hattmannsdorfer auf die von Lehner präsentierten Medikationsdaten zu den Antidepressiva-Verschreibungen. Diese bezeichnet der Vorsitzende der Trägerkonferenz als „erschreckend“: Vom 1. Quartal 2020 bis einschließlich 3. Quartal 2021 stieg die Anzahl der Jugendlichen in Oberösterreich, die Antidepressiva nehmen, um 40,6 Prozent. Besonders hoch ist der Anstieg bei jungen Frauen, hier betrug das Plus 52,3 Prozent – im Vergleich zu jungen Männern mit einem Plus von 18,1 Prozent. Bei den Antipsychotika sind es 35 Prozent.
In absoluten Zahlen handelt es sich um einen Anstieg auf 1.270 Patienten in der Altersgruppe der Zehn- bis 19-Jährigen, davon 900 Frauen und 370 Männer, im 1. Quartal 2020 waren es noch 600 Frauen und 300 Männer. „Die Zahlen sind ein Weckruf“, sagt Lehner, warnt aber ebenso wie Hattmannsdorfer davor, „diese Fakten als Corona-Spezifikum abzutun“. Corona sei in vielem ein „Katalysator“, das Thema werde nicht mit dem Ende Pandemie verschwinden.
20 Prozent weniger Besuche der Jugendlichen beim Hausarzt
Auf die Frage nach den Ursachen verweist Lehner darauf, dass sich die Sozialversicherung nur die Verschreibungsdaten angeschaut, jedoch keine Analysen der Problemlagen gemacht habe. Aber bekannt sei: „Es ist auch bei den Jugendlichen so, dass es der Lebensstil ist, der zu psychischen Belastungen führt, und das Umfeld.“ Für wichtig hält Lehner, dass in diesem Zusammenhang zwar die Verschreibung „extrem“ gestiegen sei, der Besuch aber z.B. beim Hausarzt zurückgegangen sei. Es habe um 20 Prozent weniger Besuche in der ersten Pandemiephase gegeben, das habe sich wieder eingependelt: „Aber man sieht hier, es gab einen massiven Druck, und diesem Druck wurde begegnet mit Medikamenten und nicht so intensiv auch mit ärztlicher Begleitung, die aber notwendig ist.“
Lehner verglich die Gesundheit auch mit einem „Mannschaftssport“: Der Arzt, das Gesundheitswesen, die Sozialversicherung, die Apotheken und die Therapeuten seien Teil dieser Mannschaft. Es komme aber auch oder vor allem auf den Einzelnen an. Die Verantwortung für den eigenen Körper und die eigene Gesundheit müsse früh entwickelt werden, um von der Reparaturmedizin zur Präventivmedizin zu kommen.
In Oberösterreich besonders hoher Anstieg bei Mädchen
Update: Im österreichweiten Vergleich sticht Oberösterreich hervor: Bundesweit betrug der Anstieg 37,4 Prozent, von 6.515 im Quartal 2020 auf 8.954 Patienten im dritten Quartal 2021. Zwar fiel auch österreichweit der Anstieg von Antidepressiva-Verschreibungen bei Mädchen steiler aus als bei Buben: um 46,7 Prozent vs. 20,6 Prozent. In Oberösterreich zählt das Plus bei weiblichen Jugendlichen mit 52 Prozent jedoch zu den höchsten Anstiegen in ganz Österreich, neben Vorarlberg und Wien, wie detaillierte Zahlen auf erneute Anfrage beim Dachverband zeigen (mehr dazu demnächst, Anm. d. Redaktion am 28.01.2022).
Die psychischen Folgen der Corona-Pandemie dürfen jedoch nicht nur als Folge der Schutzmaßnahmen begründet werden, sagt Hattmannsdorfer auf Nachfrage der Redaktion. Oftmals entstünden die Sorgen der Jugendlichen durch die unmittelbaren Auswirkungen der Erkrankung, beispielsweise durch Infektionen im eigenen Umfeld oder bei einem selbst: „Viele Jugendlichen machen sich Sorgen, sie würden das Virus beispielsweise ihren Großeltern übertragen. Auch das führt zu Ängsten bei den Jugendlichen, ebenso die Erfahrungen von Sterbefällen oder schweren Erkrankungen im eigenen Familienumfeld. Auch diese Sorgen müssen offen angesprochen und die Jungen bestärkt werden. Denn die jungen Menschen sind nicht die Treiber der Pandemie, sie sind viel mehr junge Helden, die in diesen fast zwei Jahren große Verantwortung bewiesen haben – in den Blaulichtorganisationen, in den Teststationen und im Gesundheitsbereich.“
Auch auf Long Covid werde geachtet: Da es sich bei uns um Beratungsstellen bzw. „Navigatoren“ handelt, sind die Berater entsprechend geschult, dass sie auch genau bei diesen Fällen von Long Covid auf die richtigen – medizinischen – Anlaufstellen verweisen.
Schwerpunkte des Jugendservice im Jahr 2022
Gemeinsam mit den Jugendberatern hat das JugendService des Landes OÖ für die Themenschwerpunkte Essstörungen, Schlafstörungen, selbstverletzendes Verhalten und Druck & Stress drei neue bzw. erweiterte Angebote:
- Zentrales Informationsportal des JugendService zum Umgang mit den psychischen Folgen der Corona-Pandemie: www.für-dich-da.at. Alle Anlaufstellen und Fachinformationen in Form von Podcasts, Videos und Beiträge von Experten zur „psychischen Gesundheit“ werden auf dieser Website, die in den Semesterferien starten soll, zentral zusammengefasst. Außerdem könne man mit den Jugendberatern unkompliziert in Kontakt treten.
- Niederschwellige Angebote, anonyme Anfragen sind über die zertifizierte Online-Beratung möglich und 25 Jugendcoaches sind regional im Einsatz. Der Datenaustausch geschieht über zertifizierte Server und ist verschlüsselt.
- Beratung dort, wo Jugendliche unterwegs sind: Schulen, Jugendzentren, Vereine: Alle Angebote werden umfassend aufbereitet und allen Interessierten kostenlos zur Verfügung gestellt. Eigene Workshop-Formate (Rufseminare) für Schulen und Jugendzentren werden entwickelt und spezielle Weiterbildungen für Jugendberater organisiert.
Als weitere Anlaufstellen & Hotlines gibt das Land OÖ an:
Hotline für Essstörungen 0800/2011-20
WG Kaya bei Essstörungen
Multidisziplinäres Versorgungszentrum des KUK
LKH Steyr (bei ambulanten Fällen)
Krisenhilfe OÖ – Hotline 0732 21 77 (auch Online-Beratung möglich)
Rat auf Draht – Hotline 147 (auch Online- oder Chat-Beratung möglich)
Telefonseelsorge – Hotline 142 (auch Mail- oder Chat-Beratung möglich)
Clearingstelle für Psychotherapie
Hausarzt/Allgemeinmediziner bzw. in weiterer Folge Neurologe