Die 8 wichtigsten Schwindel-Syndrome
Nur acht Syndrome sind in der Praxis für mehr als 70 % aller Schwindelpräsentationen verantwortlich. Die Diagnose lässt sich oft schon anhand der charakteristischen Symptome stellen. Ein kurzer Überblick.
Akute unilaterale Vestibulopathie
Typisch für die akute unilaterale Vestibulopathie sind meist über Tage anhaltende heftige Drehschwindelattacken mit Fallneigung, Übelkeit und scheinbarem Wackeln der Umgebung (Oszillopsie). Bei der Untersuchung fällt ein horizontal rotierender Nystagmus zur gesunden Seite auf. Die subjektive visuelle Vertikale ist in Richtung des betroffenen Labyrinths verkippt. Ein Hörschaden besteht nicht, schreiben Priv.–Doz.Dr. Andreas Zwergal und Dr. Marianne Dieterichvom Deutschen Schwindel- und Gleichgewichtszentrum in München. Bei schwerer Nausea helfen Antivertiginosa, wegen der verzögerten zentralen Kompensation sollten diese jedoch nicht langfristig eingesetzt werden. Gleichgewichtsübungen vor allem in den ersten vier bis acht Wochen fördern die zentrale vestibuläre Plastizität.
Vestibulärer Schlaganfall
Die Diagnose dieser Form des Hirninsults basiert in erster Linie auf den klinischen Zeichen. Betroffene leiden häufig an einem Dreh- oder Schwankschwindel und Doppelbildern. Bei der klinischen Untersuchung fallen zentrale vestibuläre und okulomotorische Zeichen auf, beispielsweise eine Kombination von normalem Kopfimpulstest, Vertikaldeviation der Augen und richtungswechselndem Nystagmus. Auch Dysarthrie und Ataxie können auf einen vestibulären Schlaganfall hinweisen. Die MRT ist in den ersten 24 Stunden häufig falsch negativ und kurze Attacken oder geringfügige Symptome schließen einen Insult nicht aus. Eine Lysetherapie wird für schwer geschädigte Patienten (z.B. fehlende Stehfähigkeit) und bei proximalem Verschluss der A. cerebellaris inferior posterior empfohlen.
Benigner Lagerungsschwindel
Charakteristisch für diese Form der Vertigo sind rezidivierende kurze Drehschwindelattacken (< 1 Minute) ausgelöst durch eine Veränderung der Kopflage relativ zur Schwerkraft (z.B. beim Hinlegen oder Umdrehen im Bett). Dabei werden Kalziumkalzit-Kristalle, die sich von der Macula utriculi ablösen, in die entsprechenden Bogengänge verlagert (meist posterior).
Mit diagnostischen Lagerungsmanövern lässt sich ein vertikaler Nystagmus (Richtung Stirn) mit torsioneller Komponente (oberer Augenpol schlägt zum unten liegenden Ohr) erzeugen. Die Augenbewegungen halten meist weniger als eine Minute an. Mit gezielten Befreiungsmanövern (Sémont, Epley), die der Patient auch selbst durchführen kann, lassen sich die Beschwerden in mehr als 95 % der Fälle beseitigen.
Morbus Menière
Rezidivierende Schwindelattacken mit fluktuierenden Ohrsymptomen (Hörminderung, Tinnitus oder Ohrdruck) wecken den Verdacht auf einen Morbus Menière. Voraussetzung für die Diagnose sind zwei oder mehr spontane Vertigo-Episoden (Dauer 20 min bis 12 Std.). Zusätzlich muss eine sensorineurale Hypakusis im Tief- bzw. Mitteltonbereich nachgewiesen sein (während oder nach einem Schwindelanfall). Die Pathogenese ist noch nicht vollständig geklärt, vermutet wird eine Störung der Flüssigkeitsdynamik im Innenohr mit nachfolgendem Endolymphhydrops. Schwindel, Nausea und Emesis lassen sich mit Antivertiginosa lindern. Zur Reduktion der Attackenfrequenz gibt es positive Daten für die intratympanale Instillation von Steroiden und eine langfristige orale Therapie mit Betahistin.
Vestibuläre Migräne
Wiederholte Schwindelattacken (fünf Minuten bis 72 Stunden) mit begleitender Cephalgie bei Migränepatienten (aktiv oder in der Anamnese) lassen an diese Kopfschmerzform denken. Während der Episoden kann es zu einem Spontan- oder zentralen Lagenystagmus kommen. Im Gegensatz zum vestibulären Schlaganfall ist die subjektive visuelle Vertikale meist normal. Zur Anfallsprophylaxe werden vornehmlich Betablocker, Topiramat, Valproat (Cave: Teratogenität), Flunarizin und Magnesium genutzt.
Dauer der Beschwerden
- akut: Tage bis Wochen
- episodisch: Sekunden bis Tage
- chronisch: Monate bis Jahre
Bilaterale Vestibulopathie
Kennzeichen dieses chronischen Syndroms ist ein bewegungsabhängiger Gang- und Schwankschwindel mit Gangunsicherheit. Diese verstärkt sich in der Dunkelheit und auf unebenem Grund. Außerdem kann es beim schnellen Kopfwenden oder Gehen zu Scheinbewegungen der Umwelt kommen (Oszillopsien). Eine Ursache lässt sich nur in etwa 25 % der Fälle eruieren. Unter den Auslösern dominieren Aminoglykoside, beidseitiger M. Menière und Meningitis mit Innenohrbeteiligung. Die mit einer hohen Sturzgefahr verbundene Presbyvestibulopathie entsteht wahrscheinlich durch einen altersbedingten Haarzellverlust im Innenohr. Gang- und Gleichgewichtsübungen fördern die Habituation an den Funktionsausfall.
Zerebellärer Schwindel
Die kleinhirnbedingte Vertigo führt überwiegend zu anhaltenden Schwindelbeschwerden, seltener zu Schwindelattacken oder einer Kombination beider Formen. Viele Patienten weisen isolierte Auffälligkeiten in der okulomotorischen Funktion des Zerebellums auf, insbesondere Störungen der glatten Blickfolge sowie Blickrichtungs- und Kopfschüttelnystagmus. Zur symptomatischen Therapie eignen sich Aminopyridine. Regelmäßiges Gleichgewichts- und Gehtraining mindert die Sturzgefahr und hilft, die Mobilität zu erhalten.
Funktioneller Schwindel
Diese Gleichgewichtsstörung kann sich primär ohne organisches Korrelat entwickeln oder als Folge einer Vestibulopathie, wobei das Ausmaß der Symptomatik nicht zum körperlichen Befund passt. Typisch ist ein fluktuierender Dauerschwank- oder Benommenheitsschwindel bzw. eine subjektive Gang- und Standunsicherheit. Die Therapie besteht in einer Desensibilisierung durch Eigenexposition, regelmäßigem Sport und bei Bedarf Verhaltenstherapie. Zur Behandlung persistierender Beschwerden werden SSRI und SNRI empfohlen.
Weitere episodische Schwindelsyndrome
Bewegungskrankheit | Manifestation während des Transports in Fahrzeugen (Auto, Schiff),
anfangs leichter Schwindel mit Oszillopsien, im Verlauf Nausea, Erbrechen und Koordinationsstörungen, Apathie, Vernichtungsangst | Prophylaxe: Gewöhnung durch wiederholte
Reizexposition, Antivertiginosa (Dimenhydrinat, Scopolamin) |
Mal-de-Débarquement-Syndrom | persistierender nicht-rotatorischer Schwindel mit Stand- und Gangunsicherheit an Land (meist nach längeren Schiffsreisen), 2 Std. bis > 1 Monat | Therapie: Aufklärung über Harmlosigkeit, Rat zu
normaler Lebensführung und Sport |
visuelle Höhenintoleranz | Schwankschwindel, Stand- und Gangunsicherheit vor allem auf Türmen, beim Bergwandern oder Überqueren von Brücken, hohe Komorbidität
mit vestibulärer Migräne, M. Menière, Angststörung und Depression | Prophylaxe: Fixieren des Horizonts, nicht in den
Abgrund schauen, Festhalten und Ablenken durch
kognitive Aufgaben (Rechnen, Namensliste) |
Vertebralarterienverschluss bei Kopfwendung | kurz anhaltender Drehschwindel durch Kompression der dominanten
Vertebralarterie in Höhe C1, C2 | konservative Therapie, chirurgische oder vaskuläre Intervention |
Becker-Bense S, Huppert D. Fortschr Neurol Psychiatr 2021; 89: 221–232; doi: 10.1055/a-1353-4893
Zwergal A, Dieterich M. Fortschr Neurol Psychiatr 2021; 89: 211–220; doi: 10.1055/a-1432-1849