3. Dez. 2021Der Mythos von der «gsunden Watschen»

Was körperliche Züchtigung auf Dauer bei Kindern anrichtet

Die immer noch verbreitete Vorstellung, körperliche Bestrafung sei eine effektive Erziehungsmaßnahme, wird erneut klar widerlegt. Stattdessen fallen bei den als Kind Betroffenen bis ins Erwachsenenalter Aufmerksamkeitsdefizite, impulsives und aggressives Verhalten auf.

Junge, der STOP-Geste mit seiner Hand zeigt. Konzept der häuslichen Gewalt und des Kindesmissbrauchs. Platz kopieren
 iStock/gan chaonan

Wer körperlicher Gewalt ausgesetzt war, wird später selbst dauerhaft verhaltensauffällig.

Vielerorts hält sich der Glaube an den erzieherischen Wert körperlicher Züchtigung. Dr. Anja Heilmann vom Department of Epidemiology and Public Health des University College London und Kollegen führten vor diesem Hintergrund ein narratives Literaturreview durch. Ziel war es, den politischen Entscheidern ebenso wie praktizierenden Ärzten die Erkenntnisse der letzten zwei Jahrzehnte besser zugänglich zu machen.

Beziehung zu den Eltern leidet

Insgesamt 69 prospektive Langzeitstudien, die in den letzten zwei Jahrzehnten in verschiedenen Ländern durchgeführt wurden, haben die Wissenschaftler ausgewertet. Arbeiten, in denen es um massive Gewaltanwendung (u.a. unter Verwendung von Gegenständen) gegenüber Kindern ging, schloss man aus. Der Fokus lag auf jener Intensität an körperlicher Gewalt, die auch noch in vielen Ländern in einer Grauzone liegt, also weder rechtlich noch gesellschaftlich klar sanktioniert wird.

Die gängige Argumentation, über eine körperliche Züchtigung solle kindliches Verhalten zum Positiven korrigiert werden, steht in krassem Gegensatz zu den Ergebnissen der Wissenschaftler. Bei Kindern, bei denen solche erzieherischen Maßnahmen angewendet wurden, zeigte sich langfristig nicht weniger, sondern mehr problematisches – z.B. aggressiveres – Verhalten. Ganz zu schweigen davon, dass die Beziehung zu den Eltern litt. Denn auch ein sonst liebevolles elterliches Verhalten schien keinen ausreichenden Puffer zu bieten.

Nachweis einer Dosis-Wirkungs-Beziehung

Weiterhin war nicht erkennbar, dass körperliche Züchtigung überhaupt irgendeinen positiven Effekt erreichen kann. Untersucht wurde unter anderem ein möglicher Einfluss auf kognitive Fähigkeiten und soziale Kompetenz. In jeder Hinsicht fiel das Ergebnis in der Gesamtbetrachtung negativ aus.

Ein deutlicher Zusammenhang ergab sich hingegen mit externalisierenden Störungen. Diese äußern sich beispielsweise über Hyperaktivität, Impulsivität, Aufmerksamkeitsdefizite, oppositionelles Trotzverhalten sowie aversiv-aggressives Verhalten. Die Verbindung verhält sich reziprok: Externalisierendes Verhalten ist einerseits ein typischer Auslöser körperlicher Züchtigung und kann andererseits durch eben jene verstärkt werden. Spätere internalisierende Störungen (mit Ängstlichkeit und Depressivität) hingen ebenfalls mit körperlicher Bestrafung zusammen, allerdings nicht reziprok und mit etwas geringerer Evidenz. In einigen Studien schienen Fünfjährige besonders vulnerabel bezüglich späterer Verhaltensänderungen zu sein.

Ein wichtiges Indiz für Kausalität ist der Nachweis einer Dosis-Wirkungs-Beziehung. Studien, die einen solchen Zusammenhang untersucht haben, legen nahe: Je öfter Kinder körperlich bestraft wurden, desto gravierender waren zum Beispiel aggressive Verhaltensauffälligkeiten im späteren Leben. Gleichzeitig ließ sich in zwei Studien über die Reduzierung der Bestrafung auch das problematische Verhalten der Kinder verbessern.

Der Übergang von „mäßiger“ Züchtigung zur Kindesmisshandlung scheint fließend. Studien, die diesen Aspekt einschlossen, wiesen in Familien, in denen Kinder über körperliche Züchtigung erzogen wurden, ein erhöhtes Risiko für Kindesmisshandlung nach. Laut einer kanadischen Studie, in der Daten staatlicher Sozialdienste ausgewertet wurden, gaben rund 75% der Täter als Legitimation für eine Misshandlung an, das Kind müsse bestraft werden. Die Grenze, wann sich ein Kind „akzeptabler“ und wann „nicht akzeptabler“ Gewalt gegenüber sieht, erscheint allerdings willkürlich und eine Unterscheidung damit äußerst fragwürdig.

Schweden gilt als gutes Beispiel

Körperliche Züchtigung ist kein geeignetes Verhaltenskorrektiv, sondern provoziert bzw. akzentuiert problematisches Verhalten, wie die Autoren betonen. Sie appellieren, den Schutz der Kinder vor körperlicher Bestrafung in viel mehr Ländern gesetzlich zu verankern. Aufklärung ohne juristische Unterstützung sei nicht zielführend.

Als Langzeitbeispiel für eine gute gesetzliche Regelung gilt Schweden. Dort hatte man bereits 1979 alle Arten körperlicher Züchtigung gesetzlich verboten. Drei nationale Langzeit-Kohorten belegen die positive Wirkung. Am Ende des Follow-up-Zeitraums hatte sich der Anteil von Erwachsenen, die in ihrer Kindheit geschlagen worden waren, von 83% (1958) auf 27% (2011) reduziert.

Dennoch scheint dieser Effekt weniger auf häufigeren strafrechtlichen Maßnahmen gegen die Eltern zu beruhen. Eine neuseeländische Studie zeigt, dass dort juristische Konsequenzen weiterhin den schweren Misshandlungen vorbehalten blieben, schreiben die Autoren. Sie vermuten viel mehr einen erzieherischen Effekt der Gesetze.

Heilmann A et al. Lancet 2021; doi: 10.1016/S0140-6736(21)00582-1

Psychische Gewalt verdient mehr Aufmerksamkeit

Worte hinterlassen keine blauen Flecken. Sie können dennoch tief in eine Kinderseele eindringen und das Gefühl vermitteln, wertlos, ungeliebt und unerwünscht zu sein. Dabei sind die Folgen psychischer Gewalt ähnlich gravierend wie die anderer Missbrauchsformen – vielleicht sogar noch schwerwiegender.

Psychische Misshandlung ist definiert als ein sich wiederholendes Verhaltensmuster oder ein extremes Vorkommnis im Zusammenhang mit einer Bezugsperson, das den seelischen Grundbedürfnissen des Kindes (z.B. Sicherheit, Sozialisierung, emotionale und soziale Unterstützung, kognitive Stimulation und Respekt) zuwiderläuft. Dabei steht eine psychische Misshandlung oft unmittelbar mit anderen Arten von Missbrauch in Verbindung, erklären Dr. Andreas Wittvon der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie des Uniklinikums Ulm und Kollegen.

Ihre Ergebnisse stützen sich auf Erhebungen aus den Jahren 2010 und 2016. Sie berücksichtigen die Auskünfte von 5.014 Jugendlichen und Erwachsenen zu erlebten psychischen und körperlichen Misshandlungen, sexuellem Missbrauch sowie emotionaler und körperlicher Vernachlässigung. Auch Informationen zur psychischen Gesundheit flossen ein. Die Befragung erfolgte mittels standardisierter Formulare und basierte somit auf der Selbstwahrnehmung der Befragten.

Wie sich zeigte, standen alle untersuchten Arten von Fehlverhalten miteinander in Zusammenhang. Besonders stark korrelierte psychische mit körperlicher Misshandlung. Hatte ein Kind psychische Misshandlung erlebt, so stieg auch deutlich das Risiko für gleichzeitige körperliche und emotionale Vernachlässigung sowie sexuellen Missbrauch.

Alle Misshandlungsformen konnten signifikant mit mentalen Folgen wie Ängstlichkeit und Depressivität in Verbindung gebracht werden. Den größten Effekt hatte dabei wiederum psychische Gewalt: Sie steigerte das Risiko der Studienteilnehmer, im späteren Leben ängstlich zu sein, um das 8,5-Fache. Die Wahrscheinlichkeit, eine Depression zu entwickeln, war durch das Erlebte sechsfach erhöht. Je mehr Formen von Misshandlung ein Kind ausgesetzt war, desto größer die Gefahr, dass es später eine der beiden psychischen Auffälligkeiten entwickelte.

Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass im Hinblick auf Prävention von und Intervention bei psychischer Gewalt dieser dieselbe Aufmerksamkeit zuteil werden müsse wie anderen Formen der Kindesmisshandlung. Gerade medizinisches Personal dürfe sich diagnostisch nicht auf rein körperliche Anhaltspunkte beschränken. Es müsse genauso darauf geachtet werden, wie Eltern und Kinder miteinander agieren. smt

Witt A et al. Monatsschr Kinderheilkd 2021; 169: 613–621; doi: 10.1007/s00112-021-01183-z

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune