„Sarah, the one and only“
Die siebenjährige Sarah Rettenegger ist bis dato die weltweit einzig bekannte Patientin mit einer Glykosylierungsstörung, die auf einer Variante im GFUS-Gen beruht. Im Alter von vier Jahren wurde die exakte genetische Ursache für ihre Gedeih- und Entwicklungsstörung entdeckt. Die regelmäßige Zufuhr des Zuckers Fucose ist nun für Sarah die wirksame Behandlung – und damit holt sie enorm auf!
Für Sarahs Mutter Nina Rettenegger war seit der Geburt ihrer Tochter klar, dass bei ihrer Tochter etwas anders ist: „Sarah hat weit mehr an Gewicht verloren als es bei Neugeborenen üblich ist und wir mussten auch einige Tage länger im Krankenhaus bleiben.“ Zu Hause angekommen setzte sich das Gespür fort, dass mit Sarah etwas nicht stimmt: „Sie hatte Gelbsucht, hat sehr wenig getrunken und wirkte stets sehr müde“, erzählt Rettenegger. Von Hebammen und Kinderarzt wurde die junge Mutter jedoch vertröstet: „Geben Sie Sarah noch etwas Zeit“, hieß es immer wieder.
Doch da Sarah weiterhin nicht richtig getrunken und daher nicht zugenommen hatte, waren häufige Kontrollen nötig, die für Sarahs Mutter eine große Belastung darstellten. Auch, dass Sarah nur sehr spät die für Säuglinge typischen Bewegungen erlernte und sich insgesamt langsamer entwickelte, machte der im Salzburger Pongau beheimateten Familie große Sorgen. Als Sarahs Zustand im Alter von 10 Monaten dann als alarmierend eingestuft wurde, nahm die Familie Kontakt mit der Univ.-Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde an der Paracelsus Medizinische Privatuniversität auf. Erste Untersuchungen - auch genetische - blieben jedoch zunächst ohne Befund, der die Symptome erklären konnte.
„Für mich hieß es, den Alltag mit Sarahs Symptomen so gut es geht zu bewältigen. Wir haben etwa schon früh mit Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie begonnen. Als letzte Konsequenz stimmten wir der Ernährung mittels PEG-Sonde zu, um Sarah ernähren zu können“, berichtet Rettenegger weiter. Doch häufiges Erbrechen der Sondennahrung gestalte den Familienalltag noch schwieriger. Nach rund zwei Jahren mit der PEG-Sonde – Sarah war bereits vier Jahre alt – war die Familie gerade zur Sondenentwöhnung in Wien, als sie aus Salzburg die Nachricht bekam, „es könnte doch etwas gefunden worden sein“.
Detektivische Suche
„Nachdem bei Sarah die erste, auswärts durchgeführte genetische Untersuchung kein Ergebnis erbracht hatte, haben mein Kollege Dr. Hans Mayr und ich aufgrund von Sarahs Symptomen weiter nach einer genetischen Ursache gesucht. Wir haben dazu das menschliche Exom mit seinen 20.000 Genen komplett analysiert“, erklärt dazu PD Dr. med. Saskia Wortmann, PhD, leitende Oberärztin für Stoffwechselerkrankungen an der Salzburger Univ.-Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde.
„Wir fanden eine Variante, einen genetischen Fehler, in einem Gen das für ein Enzym kodiert, welches eine wichtige Rolle im Aufbau von Zuckerketten an Proteinen (Glykosylierung, Anm.) spielt. Von Fehlern in ähnlichen Enzymen wissen wir, dass sie zu Entwicklungsstörungen führen können. So sind wir schließlich fündig geworden“, beschreibt Wortmann die molekularbiologische Detektivarbeit. In einer Zellkultur von Sarahs Hautzellen zeigte sich schließlich, dass sich die gestörten Stoffwechselprozesse durch die Zufuhr des Zuckers Fucose wieder normalisieren. „Im Organismus wird Fucose für den Aufbau der Zuckerketten an Proteinen und damit praktisch für alle Stoffwechselvorgänge benötigt“, wie Wortmann erläutert. „Normalerweise wird Fucose zu 90% vom Körper hergestellt, 10% werden aus anderen Zuckern recycelt. Daher kann Sarah von der externen Zufuhr profitieren.“ Fucose wird übrigens auch zur Herstellung von Medikamenten oder Kosmetika benötigt; eine Herstellerfirma erklärte sich auf Anfrage von Wortmann bereit kleinere Mengen für Sarahs Therapie abzugeben.
Nina Rettenegger konnte im ersten Moment gar nicht glauben, dass es eine Therapie für Sarah geben könnte: Sie beschreibt damit die Hochschaubahn der Gefühle, die viele Eltern von Kindern mit Seltenen Erkrankungen erleben, wenn sie jahrelang nach einer Diagnose suchen. „Ich als Ärztin freue mich immer sehr, wenn es uns als Team gelingt etwas zu finden, das eventuell therapeutische Konsequenzen hat – genauso wenig wollen wir aber verfrühte und falsche Hoffnungen wecken“, ergänzt Wortmann.
Psychomotorische Entwicklung
Seit der Entdeckung ihrer genetischen Variante erhält Sarah nun dreimal täglich in einem Getränk aufgelöste Fucose. „Ich habe sofort bemerkt, dass sie plötzlich kleine Aufgaben wie etwa das Ausziehen selbständig ausführen konnte. Verstanden hat sie mich immer, vor Beginn der Therapie konnte sie aber kaum etwas umsetzen,“ erzählt Sarahs Mutter. Während an der Klinik vor der Therapie mit Fucose kein psychologischer Test bei Sarah möglich war, erreicht sie heute in vielen Einzelleistungen schon ihrem Alter entsprechende Resultate. „Sarah kann sich gut konzentrieren und sie ist vor allem sehr ehrgeizig und lernbereit“, bestätigt die behandelnde Kinderärztin Wortmann. „Natürlich wissen wir aber, dass ihrem Gehirn vier Jahre lang Fucose gefehlt hat.“
„Seit der Therapie mit Fucose ist Sarah eine eigenständige Person geworden. In ihren ersten vier Lebensjahren war sie dagegen 24 Stunden am Tag völlig von mir abhängig“, sagt Rettenegger. Bei ihrer Ernährung tastet sich Sarah weitgehend an einen normalen Speiseplan heran: Sie kann und darf essen, was ihr schmeckt.
Auch Wortmann drückt ihre Freude über Sarahs Fortschritte aus. „Sie soll aber keinesfalls öfter als nötig ins Krankenhaus kommen. Die nächste Kontrolle genügt daher in eineinhalb Jahren.“ Sarahs Form der Glykosylierungsstörung – bislang sind rund 130 davon bekannt – wurde bereits international publiziert und auf Fachkongressen vorgestellt, bis dato ist weltweit jedoch keine weitere Patientin oder Patient mit gleicher Diagnose entdeckt worden.
Literatur: Feichtinger et al. EMBO Mol Med (2021)13:e14332 https://doi.org/10.15252/emmm.202114332
Fakten-Check: GFUS
GDP-L-Fucose Synthase (GFUS) wird im menschlichen Körper für die Glykosylierung benötigt. Eine genetisch bedingte Störung im GFUS-Gen zählt zu den erblichen Glykosylierungsstörungen, die international als „Congenital Disorders of Glycosylation“ (CDG) bezeichnet werden. Die erste wurde erst 1995 entdeckt, bis dato sind rund 130 bekannt. Die Symptome variieren stark, die häufigsten Symptome sind Gedeih- und Entwicklungsstörungen.
Serie: Die Gesichter Seltener Erkrankungen
Seltene Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und bestmöglich zu behandeln bzw. zu managen gehört zu den größten Herausforderungen der Medizin im 3. Jahrtausend. Mitunter sind es vielleicht nur 10, 12 Menschen in Österreich mit derselben Diagnose, die oft erst nach jahrelangen Wegen durch Ordinationen und Ambulanzen wissen, woran sie tatsächlich leiden. Die Diagnose erhielten sie meist von engagierten Ärztinnen und Ärzten, die auf den richtigen Pfad kamen und sich um Therapie und Management bemühen.
In der neuen medonline-Serie in Kooperation mit dem Referat für Seltene Erkrankungen der Ärztekammer Wien wollen wir die Gesichter Seltener Erkrankungen vorstellen mit dem Ziel, das Bewusstsein dafür zu stärken: Seltene Erkrankungen sind zwar selten, aber es gibt sie! Mitunter sind sie aber viel zu wenig bekannt. Wir stellen Ihnen daher engagierte Ärztinnen und Ärzte und ihre Patientinnen und Patienten bzw. deren Eltern vor. Ihre Erfahrungen sollen dazu beitragen, Seltene Krankheiten besser bekannt zu machen und vielleicht rascher zur richtigen Diagnose und zur bestmöglichen Behandlung zu kommen.
Mag. Christina Lechner (Koordinierende Redakteurin) & Mag. Ulrike Krestel (Redaktionsleitung medonline) mit Dr. Christoph Buchta (Ärztekammer Wien/Referat für Seltene Erkrankungen)
In Kooperation mit der Ärztekammer Wien
Referat für Seltene Erkrankungen