Weltweit einzigartige Mitochondriopathie
Eine besondere Form der Mitochondriopathie wurde bei der heute 16-jährigen Leah weltweit erstmals beschrieben. Betroffen sind neben dem Energiestoffwechsel etwa auch Innenohr, Leber oder Nieren. Dabei ist eine Transition in die Erwachsenenmedizin für Leah genauso wie für andere junge Menschen mit angeborenen Stoffwechselstörungen derzeit ungelöst.
Im Alter von sechs Monaten fiel Leahs Eltern erstmals auf, dass sie sich nicht so entwickelte wie andere Kinder: „Sie wuchs nicht richtig, versuchte auch nicht, sich zu drehen oder aufzurichten und hat jedes Zufüttern völlig abgelehnt“, schildert Leahs Mutter, Dr. Andrea Sejkora, die selbst als Betriebsärztin an den Tirol Kliniken tätig ist. Schon bald erfolgte eine genaue diagnostische Abklärung, wobei sich der Verdacht auf das Vorliegen einer Energiestoffwechselstörung bestätigte. Exakt handelt es sich um eine Mitochondriopathie mit Hepatopathie und Hypoglykämieneigung. Unter den Befunden waren vor allem die Neigung zu Unterzuckerung, erhöhte Leberwerte und konstant erhöhtes Laktat (Milchsäure) auffällig, berichtet Ao. Univ.-Prof. Dr. Daniela Karall von der Pädiatrischen Universitätsklinik I in Innsbruck. Sie kennt Leah bereits seit dem ersten Lebensjahr. „Die genaue molekulare Charakterisierung ihrer Erkrankung erfolgte jedoch erst im 10. Lebensjahr; im Detail ist das mitochondriale ribosomale Protein-2 (MRSP2) betroffen.“ Leah ist eines von insgesamt zwei Kindern weltweit, bei denen die Erkrankung erstmals beschrieben wurde.
Für die Familie erwies sich neben dem Untersuchungsmarathon Leahs Ernährung als das gravierende Problem im Alltag: „Es funktionierte nach dem Motto: drei Löffel hinein und zwei heraus“, schildert Leahs Mutter. „Wir mussten sie auch in der Nacht füttern, jedes Mal reagierte sie mit Geschrei und Abwehr, sodass schließlich schon überlegt wurde, ihr eine Magensonde zu legen.“ Dies konnte – dank des Engagements der ganzen Familie, so Karall – jedoch verhindert werden.
Heute ist die Ernährung leichter geworden, wenn auch nach wie vor schwierig: „Leah selbst möchte sehr viele Kohlenhydrate essen, vor allem Reis oder Nudeln, sie mag nur ganz wenig Fleisch und ist auch kaum zu überreden, neue Speisen zu probieren“, schildert Sejkora.
Dass die exakte Diagnose erst rund zehn Jahre nach dem Auftreten der ersten Symptome erfolgte, war für Sejkora allerdings zweitrangig: „Die Vermutung, dass es sich um eine Mitochondriopathie handelt, bestand ja schon bald. Die genaue Diagnose hat dann nicht viel geändert.“ Als Herausforderung erwiesen sich jedoch die häufigen Krankenhausaufenthalte, vor allem da Leahs Zuckerspiegel meist infolge gastrointestinaler Infekte immer wieder zu entgleisen drohte und viele Infusionen nötig waren.
Case Management nötig
Eine stete Herausforderung ist es zudem, eine „Doppelrolle“ als Mutter und zugleich Berufskollegin zu spielen: „Manche Kollegen scheinen sich zu freuen, wenn sie auf einer fachlichen Ebene mit mir sprechen können. Auf der anderen Seite fühle ich mich mitunter nicht ernst genommen, wenn ich etwa vor Behandlungen oder Operationen die Gefahr der Unterzuckerung bei Leah anspreche“, sagt Sejkora. Das Management der Erkrankung ihrer Tochter erfordert viel Zeit und Kraft: So hat Leah etwa bereits beidseits Cochlea-Implantate bekommen, da auch das Innenohr betroffen ist, und Nierensteine mussten behandelt werden. „Es sind sehr viele Fachbereiche zu koordinieren. Ein professionelles Case Management etwa durch einen Arzt oder eine Ärztin, der oder die uns bzw. andere betroffene Familien da durchführt, wäre eine enorme Hilfe“, meint Sejkora.
„Über den medizinischen Bereich hinaus sind zudem Fragen der Beschulung zu klären“, ergänzt Pädiaterin Karall. Leah, so schildert ihre Mutter, sei heute in der Pubertät: „Sie erlebt alle Nachteile davon, ohne die Vorteile zu haben. Sie ist nicht selbstständig genug, um mit Freundinnen auszugehen oder überhaupt welche zu haben.“ Leah besucht eine Schule, die ihrem Förderbedarf gerecht wird, und wird immer auf Unterstützung und Betreuung angewiesen sein, so Sejkora.
Bei einem Reha-Aufenthalt für Kinder und Jugendliche mit Stoffwechselerkrankungen wurde sie erst kürzlich in Richtung Kondition und Selbständigkeit gefördert. „Auf dem Plan standen Schwimmtherapie oder Ergometer-Training genauso wie Ergotherapie, Logopädie oder Kochen“, berichtet Sejkora über den gemeinsamen Reha-Aufenthalt. Bisher gibt es jedoch die Schwierigkeit, dass eine Familienorientierte Rehabilitation - bei der nicht nur das erkrankte Kind, sondern auch die Familienmitglieder Therapien erhalten - nur für Familien mit onkologisch erkrankten Kindern zur Verfügung steht. „Dabei stehen Familien mit Kindern mit angeborenen Stoffwechselstörungen vor ganz ähnlichen Problemen: Das Leben der gesamten Familie wird von der Erkrankung beeinflusst“, betont Karall. „Da ist es nicht nachvollziehbar, dass zum Beispiel die Frage einer Freistellung der Eltern für die Begleitung nicht in gleichem Maße gelöst wird.“
Transition wohin?
Noch überhaupt nicht gelöst ist die Frage der Transition von Patienten und Patientinnen mit angeborenen Stoffwechselerkrankungen in die Erwachsenenmedizin, da es kaum Expertise außerhalb der Pädiatrie dafür gibt. „Wir Kinderärztinnen und -ärzte betreuen diese Kinder meistens sehr lange und wollen gerne wissen, dass sie weiter gut betreut werden. Viele kommen jedoch wieder zurück an die Kinderklinik, wenn sie erfahren, dass sie selbst über ihre Erkrankung mitunter besser Bescheid wissen als manche Ärztinnen oder Ärzte“, gibt Karall zu bedenken. „Hinzu kommen mit dem Erwachsenwerden neue Fragen wie etwa nach der Fertilität oder Erkrankungen wie Bluthochdruck.“
Wesentlich ist zudem das Vertrauensverhältnis zwischen Kinderärztin und Patientin: „Für Leah ist es jedes Mal sehr schwer, zu einem Arzttermin oder ins Krankenhaus zu gehen. Wenn ich sage, wir gehen zu Daniela (Karall, Anm.), dann akzeptiert sie es noch am ehesten, immerhin kennen sich die beiden schon recht gut. Kinder mit kognitiven Einschränkungen wie Leah brauchen stabile und vertraute Strukturen“, ergänzt Sejkora.
Sehr gut funktioniert dagegen die weitere Erforschung erblicher Stoffwechselerkrankungen und die Vernetzung auf europäischer Ebene, wie Karall berichtet. Sie selbst steht im Rahmen eines European Reference Network (ERN) zu seltenen angeborenen Stoffwechselerkankungen (metabERN) in engem Kontakt mit z.B. Kollegen am Nijmegen Radboud University Medical Center in den Niederlanden. Hier entstand auch die gemeinsame Publikation, mit der Leahs Erkrankung erstmals der Fachwelt vorgestellt wurde (Gardeitchik T, Mohamed M, Ruzzenente B, Karall D, et al. Bi-allelic Mutations in the Mitochondrial Ribosomal Protein MRPS2 Cause Sensorineural Hearing Loss, Hypoglycemia, and Multiple OXPHOS Complex Deficiencies. Am J Hum Genet 2018; 102: 685–695. https://doi.org/10.1016/j.ajhg.2018.02.012).
Fakten-Check: Mitochondriopathien
Mit einer Prävalenz von 1:5.000 gehören Mitochondriale Erkrankungen zu den häufigsten neurometabolischen Erkrankungen. Dank des vermehrten Einsatzes neuer genetischer Untersuchungsverfahren wie des Next Generation Sequencing werden zunehmend neue Krankheitsbilder erforscht. Aufgrund der Bedeutung der Mitchondrien für den Energiestoffwechsel sind besonders sauerstoffbedürftige Organe betroffen: darunter das neuromuskuläre System, die Herzmuskulatur ebenso wie endokrine Organe, Leber oder das blutbildende System. Die weitreichende Bedeutung kommt auch im Begriff „Mitochondriale Medizin“ zum Ausdruck. Allerdings gelten Mitochondriopathien aufgrund ihrer klinischen Heterogenität noch immer als weitgehend unterdiagnostiziert. Als Leitsatz gilt, so Ao. Univ.-Prof. Dr. Daniela Karall: „Mitochondriale Erkrankungen können in jedem Lebensalter erstmals mit ganz unterschiedlichen Symptomen auftreten und jedes Organ und auch Kombinationen von Organen betreffen.“
Serie: Die Gesichter Seltener Erkrankungen
Seltene Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und bestmöglich zu behandeln bzw. zu managen gehört zu den größten Herausforderungen der Medizin im dritten Jahrtausend. Mitunter sind es vielleicht nur zehn, zwölf Menschen in Österreich mit derselben Diagnose, die oft erst nach jahrelangen Wegen durch Ordinationen und Ambulanzen wissen, woran sie tatsächlich leiden. Die Diagnose erhielten sie meist von engagierten Ärztinnen und Ärzten, die auf den richtigen Pfad kamen und sich um Therapie und Management bemühen.
In der neuen medonline-Serie in Kooperation mit dem Referat für Seltene Erkrankungen der Ärztekammer Wien wollen wir die Gesichter Seltener Erkrankungen vorstellen mit dem Ziel, das Bewusstsein dafür zu stärken: Seltene Erkrankungen sind zwar selten, aber es gibt sie! Mitunter sind sie aber viel zu wenig bekannt. Wir stellen Ihnen daher engagierte Ärztinnen und Ärzte und ihre Patientinnen und Patienten bzw. deren Eltern vor. Ihre Erfahrungen sollen dazu beitragen, Seltene Krankheiten besser bekannt zu machen und vielleicht rascher zur richtigen Diagnose und zur bestmöglichen Behandlung zu kommen.
Mag. Christina Lechner (Koordinierende Redakteurin) & Mag. Ulrike Krestel (Redaktionsleitung medonline) mit Dr. Christoph Buchta (Ärztekammer Wien/Referat für Seltene Erkrankungen)
In Kooperation mit der Ärztekammer Wien
Referat für Seltene Erkrankungen