16. Okt. 2024Aus der Fachliteratur

Aktualisierte S3-Leitlinie zu Prävention und Therapie der Adipositas

Die im Oktober 2024 veröffentliche aktualisierte Leitlinie enthält u.a. neue Kapitel zum Thema Stigmatisierung und E-Health.

Übergewicht-Konzept, Nahaufnahme einer Personenwaage
Abbildung: Olivier Le Moal/AdobeStock

Die unter der Federführung der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG) aktualisierte S3-Leitlinie zur Prävention und Therapie der Adipositas (Version 5.0, Oktober 2024) legt den Fokus auf evidenzbasierte Ansätze zur Vermeidung und Behandlung von Übergewicht und Adipositas. Neben neuen Erkenntnissen zur Ernährungs- und Pharmakotherapie wird auch der steigenden Bedeutung von E-Health und der Stigmatisierung von Betroffenen in jeweils eigenen Kapiteln Rechnung getragen.

Die steigende Prävalenz der Adipositas (BMI ≥30kg/m²) wird mit verschiedenen Faktoren in Verbindung gebracht, wobei die Leitlinie betont, dass es sich um komplexe Interaktionen zwischen Biologie und Umwelt handelt. Dadurch entsteht nicht nur individuelles Leid durch die zahlreichen somatischen und psychischen Folgeerkrankungen und Komorbiditäten der Adipositas, sondern auch hohe Kosten für das Gesundheitssystem und die Gesellschaft.

(Selbst-)Stigmatisierung kann sich negativ auf Behandlung auswirken

Ein neu aufgenommenes Kapitel widmet sich der Stigmatisierung von Menschen mit Adipositas und Übergewicht (BMI 25–30kg/m²), die im Gesundheitswesen und in der Gesellschaft weit verbreitet ist. Stigmatisierung kann zu einer Verschlechterung der psychischen und physischen Gesundheit führen und erschwert den Zugang zur medizinischen Versorgung.

Systematische Reviews zeigten, dass ein reduktionistisches Verständnis der Adipositas Hauptursache für die gewichtsbezogene Stigmatisierung und auch Selbststigmatisierung ist. So wird angenommen, die Betroffenen seien allein verantwortlich für ihr Gewicht und reduzierte Nahrungsaufnahme sowie mehr Bewegung würden ausreichen, um abzunehmen. Biogenetische Faktoren werden hingegen weniger wahrgenommen. Da diese Vorurteile auch bei Angehörigen verschiedener Gesundheitsberufe, die mit Prävention und Therapie der Adipositas zu tun haben, verbreitet sind, kann sich dies negativ auf die Behandlung auswirken.

Die Leitlinie fordert daher die Implementierung von Maßnahmen zur Stigma-Reduktion in der medizinischen Praxis sowie die Schulung von Fachkräften in diesem Bereich. Auch Maßnahmen auf Public-Health-Ebene werden empfohlen: Einerseits sollte Adipositas als Krankheit anerkannt werden, andererseits sollte Adipositas nicht-stigmatisierend in Medien dargestellt werden.

Umfangreiche Diagnostik empfohlen

Im neuen Kapitel Diagnostik wurden 22 Empfehlungen zu 5 PICO-Fragen erstellt. Diese beziehen sich u.a. auf die Erfassung von BMI und dem Verhältnis von Körperfett zu Muskelmasse bzw. dessen Verteilung im Körper. Auch die Ernährung, Bewegung, Essverhalten sowie die Lebensqualität sollten erfasst werden.

Im Rahmen der Diagnostik empfehlen die Leitlinienautorinnen und -autoren auch, Laborwerte zu erfassen, um u.a. Hyperkortisolismus und Hypothyreose als Ursache für das Übergewicht ausschließen und das kardiometabolische und andere Risiken einschätzen zu können.

Prävention der Adipositas auf allen Ebenen

Die Prävention der Adipositas setzt auf mehreren Ebenen an, sowohl individuell als auch bevölkerungsbasiert. Die Maßnahmen werden zunächst in Primär- bis Quartärprävention unterteilt. Die Leitlinie definiert weiters Maßnahmen, die auf Verhaltensänderungen in den Bereichen Ernährung und Bewegung abzielen, ergänzt durch Strategien zur Stigmatisierungsreduktion. Individuelle Präventionsmaßnahmen umfassen Empfehlungen für eine kalorienbewusste Ernährung und ausreichende körperliche Aktivität. Auf Bevölkerungsebene werden Präventionsprogramme in Schulen, am Arbeitsplatz und in der Stadtplanung gefördert. E-Health-Ansätze wie mobile Gesundheitsanwendungen gewinnen zunehmend an Bedeutung, um eine langfristige Verhaltensänderung zu unterstützen.

Empfehlungen zu den Therapiemaßnahmen

Ist eine Behandlung indiziert, sollen realistische und individuell angepasste Therapieziele gesteckt werden, um das Köpergewicht und die damit verbundenen gewichtsassoziierten Risiken dauerhaft zu senken, so die Empfehlung.

Grundlage sei eine multimodale Basistherapie, bestehend aus Ernährungsumstellung, Bewegungssteigerung und Verhaltensmodifikation:

  • Ernährungstherapie: Ein zentrales Element der Adipositasprävention und -therapie bleibt die Ernährungstherapie. Die Leitlinie betont die Bedeutung einer individuellen Anpassung der Energiezufuhr und der Makronährstoffverteilung. Verschiedene Ernährungsformen wie kohlenhydratarme oder proteinreiche Diäten haben sich als wirksam erwiesen, wobei die Wahl der Diät an die individuellen Bedürfnisse und Präferenzen der Patientinnen und Patienten angepasst werden sollte. Besonders kalorienreduzierte Diäten (Very Low Calorie Diets, VLCD) können kurzfristig zu einer signifikanten Gewichtsabnahme führen, sollten jedoch unter medizinischer Überwachung erfolgen.
  • Bewegungstherapie: Die Bewegungstherapie bildet einen weiteren Grundpfeiler in der Behandlung von Adipositas. Regelmäßige körperliche Aktivität trägt nicht nur zur Gewichtsreduktion bei, sondern verbessert auch kardiovaskuläre Risikofaktoren und die allgemeine Lebensqualität. In Übereinstimmung mit den Empfehlungen der WHO empfiehlt die Leitlinie mindestens 150 Minuten moderate körperliche Aktivität pro Woche, die durch Krafttraining ergänzt werden sollte. Hochintensives Intervalltraining (HIIT) kann als Alternative oder Ergänzung eingesetzt werden.
  • Verhaltensmodifikation: Ein weiterer wesentlicher Bestandteil der Adipositastherapie ist die Verhaltensmodifikation. Psychotherapeutische Ansätze wie die kognitive Verhaltenstherapie unterstützen Patientinnen und Patienten dabei, langfristige Änderungen im Ernährungs- und Bewegungsverhalten zu etablieren. Hierbei steht die Identifikation von Auslösern für ungünstiges Essverhalten im Vordergrund, ebenso wie der Umgang mit Rückfällen.

Werden die individuellen Therapieziele mittels Basistherapie nicht erreicht oder aufrechterhalten, kann die Therapie durch medikamentöse Maßnahmen unterstützt werden. Durch die Einführung von GLP-1-Rezeptoragonisten hat die Pharmakotherapie in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen. Diese Medikamente führen zu einer deutlichen Reduktion des Körpergewichts und zeigen positive Effekte auf Begleiterkrankungen wie Diabetes mellitus Typ 2.

Auch der Einsatz digitaler Tools kann zur Erreichung und Aufrechterhaltung der Therapieziele hilfreich sein. Im Unterkapitel E-Health werden Empfehlungen zu verschiedenen Tools wie Wearables und Apps gegeben, die die Basistherapie unterstützen und zur Selbstbeobachtung eingesetzt werden können. Die persönliche Betreuung durch Fachkräfte lasse sich allerdings nicht ersetzen, so die Autorinnen und Autoren.

Als weitere Therapiemaßnahmen werden die Adipositas- und metabolische Chirurgie genannt, die eine wichtige Therapieoption für Patientinnen und Patienten mit schwerer Adipositas (BMI ≥40kg/m² oder ≥35kg/m² mit Komorbiditäten) darstellen, wenn konservative Maßnahmen nicht erfolgreich waren. Die operative Behandlung kann zu einer langfristigen Gewichtsreduktion und einer Verbesserung der metabolischen Gesundheit führen. Da die Literatur hinsichtlich Indikationsstellung, Verfahrenswahl, perioperativem Management, erwartbaren Ergebnissen, Nachsorge und Qualitätssicherung seit 2018 unverändert ist, verweist die Leitlinie auf die S3-Leitlinie „Chirurgie der Adipositas und metabolischer Erkrankungen“.

Langfristige Gewichtsstabilisierung als Ziel

Nach erfolgreicher Gewichtsreduktion ist die langfristige Gewichtsstabilisierung eine besondere Herausforderung. In der Leitlinie wird betont, dass die Integration von Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapien entscheidend für den Erhalt des erreichten Gewichts ist. Regelmäßige Nachsorge und die Anpassung von Therapieplänen sind von großer Bedeutung, um Rückfälle zu vermeiden.

Die Autorinnen und Autoren unterstreichen, dass die Behandlung von Adipositas eine interdisziplinäre Zusammenarbeit und eine patientenorientierte Betreuung erfordert. Sie bietet eine wertvolle Orientierung für alle medizinischen Fachkräfte, die in der Prävention und Therapie von Adipositas tätig sind.