10. Okt. 2025medonline Medizingeschichte #54

Karl Bonhoeffer und der Nationalsozialismus – Mittäterschaft und Opposition

Wie ein deutscher Psychiater und Neurologe offen den Zielen des Nationalsozialismus diente und anderswo in klandestiner Opposition dazu stand.

Portrait Karl Bonhoeffer
Public Domain/Wikimedia

Karl Bonhoeffer wird am 31. März 1868 in Neresheim (Württemberg, Süddeutschland), als Sohn des königlich-württembergischen Landgerichtspräsidenten in Ulm, Friedrich, und Julie von Bonhoeffer, geboren. Von 1874 bis 1878 besucht er in Heilbronn und Ravensburg die Elementarschule, von 1878 bis 1886 das Gymnasium in Tübingen, wo er sein Abitur ablegt. Zwischen 1886 und 1887 leistet er seinen Militärdienst in Stuttgart.

Wegbereiter der modernen Psychiatrie und Forscher zwischen Ethik und Wissenschaft

Von 1887 bis 1892 studiert Bonhoeffer Medizin, zuerst an der Eberhard Karls Universität Tübingen, dann an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin und schließlich an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 1892 wird er in Tübingen zum Dr. med. promoviert.

Radierung Universität Breslau.
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Das Hauptgebäude der Universität Breslau. Radierung, ca. 1880.

1893 erhält er eine Assistentenstelle als Leiter einer Station mit an progressiver Paralyse durch Syphilis Erkrankten bei Carl Wernicke, Direktor der Psychiatrischen Klinik der Universität in Breslau. 1897 habilitiert er sich Bonhoeffer dort mit einer Arbeit zum Geisteszustand des Alkoholdeliranten für Medizin. Noch im selben Jahr legt er mit einer Arbeit über die Lokalisation von choreatischen Bewegungen, in der von Wernicke und Theodor Ziehen gegründeten Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, den Grundstein für seine experimentell-klinische Arbeit auf dem Fachgebiet.

1898 heiratet Bonhoeffer Paula von Hase, die Tochter des Konsistorialrats Karl Alfred von Hase und Enkelin des Theologen Karl von Hase. Aus der Ehe gehen acht Kinder hervor: Karl Friedrich, Walter, Klaus, Ursula (verheiratete Schleicher), Christine (verheiratete von Dohnanyi), Dietrich und dessen Zwillingsschwester Sabine (verheiratete Leibholz-Bonhoeffer) sowie Susanne (verheiratete Dreß).

Carl Wernicke, 1905.
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Carl Wernicke auf einer photographischen Abbildung aus 1905.

Im Oktober 1904 folgt Karl Bonhoeffer Wernicke als Professor für Psychiatrie und Neurologie sowie als Direktor der Königlichen Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Breslau nach. Hier entstehen Bonhoeffers wissenschaftliche Arbeiten zu den Folgen von Alkoholerkrankungen, degenerativen Hirnabbauprozessen und symptomatischen Psychosen, die seine anhaltende Bedeutung als Wissenschaftler begründen.

1908 beschreibt und klassifiziert Bonhoeffer die symptomatischen Psychosen (akut exogene Reaktionstypen) und fördert damit maßgeblich die Unterscheidung zwischen exogenen und endogenen Psychosen. Er betont insbesondere das Symptom des Bewusstseinsverlustes, das seiner Ansicht nach typisch für exogene Psychosen wie das Delirium ist. Seine Arbeit belegt, dass psychopathologische Syndrome, die mit unterschiedlichsten körperlichen Störungen einhergehen, nur in begrenzter Anzahl auftreten und daher ätiologisch unspezifisch sind. Diese Erkenntnisse widersprechen Emil Kraepelins Annahme, dass psychiatrische Phänotypen eigenständige Krankheitsentitäten darstellen. Sie greifen der heutigen Auffassung vor, dass solche Phänotypen ätiologisch eher heterogen sind.

1912 wechselt Bonhoeffer nach Berlin und übernimmt den Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie an der Charité, den er bis zu seiner Emeritierung 1938 innehat. Sein Ziel ist es, die Psychiatrie als eigenständige Fachrichtung innerhalb der Medizin zu etablieren und neben der reinen Anstaltsmedizin weiterzuentwickeln. Er setzt sich dafür ein, dass Nerven- und Gemütsleiden auch von niedergelassenen Fachärzten behandelt werden können.

Gesamtansicht der Charité aus dem Jahr 1907.
Georg Diestel (1854-1926)/Wikimedia

Gesamtansicht der Charité in Berlin aus dem Jahr 1907.

Die von Emil Kraepelin entwickelte Systematik psychischer Erkrankungen erweitert Bonhoeffer und unterscheidet zwischen exogenen Psychosen – also solchen, die etwa durch Infektionen oder Vergiftungen entstehen – und endogenen Psychosen. Im Jahr 1912 führt Bonhoeffer den Begriff des akuten exogenen Reaktionstyps in die medizinische Terminologie ein. Damit erweitert er die differenzialdiagnostischen Möglichkeiten, um Schizophrenie und Paranoia von einem Delirium oder einem organischen Psychosyndrom abzugrenzen.

Bonhoeffer forscht im Bereich der Bekämpfung von Morphinismus, Kokainismus und anderen Suchterkrankungen. Im Rahmen seiner Gutachtertätigkeit zu Unfall- und Kriegsneurosen prägt er den Begriff Rentenneurose.

Bereits im Jahr 1920, dem Gründungsjahr der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), äußert Bonhoeffer öffentlich seine Sorge, dass die durch den Ersten Weltkrieg verursachte Notlage die Fähigkeit Deutschlands gefährde, sich um Kranke und Benachteiligte zu kümmern. Er erklärt:

Es könnte fast so scheinen, als hätten wir einen Wandel im Begriff der Menschlichkeit erlebt. Ich meine einfach, dass wir durch die schrecklichen Anforderungen des Krieges gezwungen waren, dem Leben des Einzelnen einen anderen Wert beizumessen als früher.

Partizipation und Widerstand: Karl Bonhoeffer im Nationalsozialismus

Im nationalsozialistischen Deutschland wird Bonhoeffer Teil dieses vorausgeahnten Wandels im Begriff der Menschlichkeit, indem er aktiv an Entscheidungen zur Zwangssterilisation mitwirkt. Er befürwortet die Zielsetzung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von 1934, das darauf abzielt, vermeintlich erbkranke Menschen unfruchtbar zu machen. Er hält Erbgesundheitskurse zur Umsetzung des Gesetzes ab, geht aber gleichwohl restriktiv mit dem Gesetz um und schafft Präzedenzfälle für einen zurückhaltenden Umgang mit der Indikation. Damit im Einklang bleibt die Zahl der durch Bonhoeffer angeordneten Sterilisationen vergleichsweise gering. Vorliegende Dokumente belegen, dass er zwischen 1934 und 1941 als Gutachter oder Richter direkt an zumindest 126 Sterilisationsfällen beteiligt ist. In 57 Fällen spricht er sich für eine Zwangssterilisation aus. In diesem Zeitraum liegt die generelle Quote für entsprechende Gerichtsbeschlüsse bei 88,8%.

Im Vorwort eines von Bonhoeffer herausgegebenen Bandes zu den psychiatrischen Aufgaben bei der Ausführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, äußert er sich im Vorwort wie folgt:

Von der klinischen Diagnose hängt ja die Entscheidung des Erbgerichts ab, die Sicherheit der Diagnose ist die erste Voraussetzung für alles Weitere. Die Aufgabe des Arztes, insbesondere des Psychiaters, der die Diagnose zu stellen hat, ist also eine äußerst verantwortliche. Es sind nicht bloß die differentiellen Schwierigkeiten der Arztdiagnose […], sondern vielleicht mehr noch solche der quantitativen Ausbildung der Erkrankung. Denn wo die Grenze zwischen einer erbbiologisch unbedenklichen Debilität und einem sicher auszumerzenden Schwachsinn gelegen ist, […] läßt sich nicht mit der Schärfe einer Paralysediagnose abgrenzen. […] Durch das Gesetz [zur Verhütung erbkranken Nachwuchses] sind für die psychiatrische Forschung starke Anregungen gegeben worden. So ist eine weitere Klärung der Kenntnis der Umgrenzung und auch der Verursachung der Schizophrenien und der Epilepsien mehr denn je Erfordernis. Das Studium der Manifestationstendenz von krankhaften Anlagen, ihre Beeinflußbarkeit durch exogene Faktoren gewinnt an Wichtigkeit. […] Die Verkoppelung von krankhaftem mit eugenisch wertvollem Erbgut in demselben Individuum stellt besondere Aufgaben.

Für unter der nationalsozialistischen Herrschaft zuerst drangsalierte und dann verfolgte jüdische Kolleginnen und Kollegen, setzt sich Bonhoeffer im Rahmen dessen ein, was er wohl als seinen persönlichen Handlungsspielraum sieht, ohne sich selbst in ernste Gefahr zu bringen. Qualifikation und persönliche Leistungsfähigkeit zählen zu den von ihm beachteten Kriterien für wissenschaftliche bzw. ärztliche Mitarbeit – nicht aber die menschenverachtenden Kriterien der nationalsozialistischen Rassenlehre. Er beschäftigt im Lauf der Zeit an die 30 jüdische Assistentinnen und Assistenten in seinem Umfeld. Als die Nazi-Repressalien immer intensiver werden, versucht Bonhoeffer seine Mitarbeiter zu schützen. Er nutzt juristische Schlupflöcher, Beschwerden beim zuständigen Ministerium und geschickt formulierte Anträge, um Vertragsverlängerungen für sie zu erreichen. Als die verfolgten jüdischen Medizinerinnen und Mediziner in Flucht und Exil getrieben werden, stellt Bonhoeffer vielen von ihnen Empfehlungsschreiben aus, um ihnen die Suche nach Arbeit im Exil zu erleichtern.

Bonhoeffer nimmt, wie er später selbst einräumt, keine klare Haltung gegen die Gleichschaltung der deutschen Universitäten ein. Nach seiner Emeritierung im Jahr 1937 übernimmt Maximinus de Crinis den Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie an der Charité – gegen den Willen sowohl der Fakultät als auch Bonhoeffers. De Crinis ist Mitglied der NSDAP und der SS und spielt eine zentrale Rolle in der Planung der Massenmorde an psychiatrischen Patienten, bekannt als Euthanasie. Um seiner Verhaftung zu entgehen, nimmt er sich 1945 das Leben.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wirkt Bonhoeffer am Wiederaufbau der Westberliner Psychiatrie mit. 1948 wird er zum Ehrenmitglied der American Psychiatric Association (APA) ernannt. Er versteht sich selbst als Wissenschaftler mit einer christlich-demokratischen Gesinnung und gilt als politisch liberal. Im Oktober 1945 wendet er sich mit der Bitte um einen Forschungsauftrag an den designierten Rektor der Berliner Universität, um zum Lebensunterhalt der Familien seiner unversorgten Enkelkinder beizutragen, deren Väter von den Nazis hingerichtet wurden. Im Januar 1946 wird er auch von der Deutschen Verwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone als Hochschullehrer anerkannt. Er arbeitet als Konsiliarius und Gutachter im Fachbereich Psychiatrie und Nervenheilkunde auch für die Heilstätten Wittenau. Im November 1948 erleidet Karl Bonhoeffer einen Schlaganfall, dessen Folgen er am 4. Dezember erliegt. Seine 1947 als Fahnenabzug fertiggestellte Arbeit Führerpersönlichkeit und Massenwahn erscheint nur posthum, im Jahr 1968.

Die klinischen Theorien Karl Bonhoeffers behalten weiterhin Bedeutung. In veränderter Form finden sie sich in heutigen Klassifikationssystemen wie dem ICD-10 und dem DSM-IV wieder. Die Begriffe Bonhoeffer-Syndrom oder Bonhoeffer-Reaktionstyp werden jedoch in der klinischen Praxis nicht mehr verwendet.

Die Familie Bonhoeffer im Widerstand: Vermächtnis einer Generation

Eine distinktive Qualität erhält Bonhoeffers Geschichte während des Nationalsozialismus über die Geschichte seiner Familie. Während sich der Patriarch zumindest in Teilen seines Wirkens der Mittäterschaft schuldig gemacht hat, waren Teile seiner Familie im aktiven Widerstand tätig und mussten dafür mit ihrem Leben bezahlen.

Karl Bonhoeffers Sohn Dietrich, protestantischer Theologe und Mitglied der Bekennenden Kirche, einer Oppositionsbewegung evangelischer Theologen, und Schwiegersohn Hans von Dohnanyi, Nachrichtendienst-Offizier im Oberkommando der Wehrmacht, werden beide 1944, im Zusammenhang mit dem missglückten Attentat auf Adolf Hitler vom 20. Juli dieses Jahres, ermordet. Ein weiterer Sohn, Klaus Bonhoeffer, und der Schwiegersohn Rüdiger Schleicher, der Ehemann seiner Tochter Ursula, werden am 23. April 1945 von der SS in der Nähe des Lehrter Bahnhofs erschossen.

Der Fall Karl Bonhoeffer kann als exemplarisches Beispiel dafür dienen, mit welcher Ambivalenz sich Biografien aus der Zeit des Nationalsozialismus uns gegenüber mitunter präsentieren. Während er sich aktiv für von den Nazis verfolgte jüdische Kolleginnen und Kollegen einsetzte, brachte er sich ebenfalls aktiv (wenn auch in Relation zurückhaltend) in die Diskussion über das und die Implementierung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses ein. Wo genau sich in dieser Konstellation die Bruchlinien seines moralisch-ethischen Bewusstseins befunden haben, bleibt uns nur zu erraten. Ob und wie Bonhoeffer sein dissonantes Verhalten in Relation zum Unrechtsregime des Nationalsozialismus vor seinem Gewissen rationalisiert hat, ebenso. Was bleibt, ist die anhaltende Diskussion über sein Handeln und sein Vermächtnis aus dieser Zeit und die Frage nach der angemessenen Form des Gedenkens an diese Zeit und ihre Akteure.