18. Apr. 2025medonline Medizingeschichte #47

Harvey Cushing und der Beginn der modernen Neurochirurgie

Wie das jüngste von zehn Kindern einer amerikanischen Ärztedynastie zum Vater der modernen Neurochirurgie wurde.

Harvey Williams Cushing wird am 8. April 1869 in Cleveland, Ohio geboren. Er ist das jüngste von zehn Kindern von Elizabeth Maria und Henry Kirke Cushing. Die Cushings sind eine Familie von Medizinern – sein Vater, Großvater und Urgroßvater sind durch die Bank Allgemeinmediziner.

Als Kind besucht Harvey die Cleveland Manual Training School, wo er sein bereits bestehendes Interesse an Wissenschaft und Medizin gefördert sieht.

Harvey Cushing
Foto: Punlic Domain/wikimedia

Portrait von Harvey Cushing aus dem Jahr 1938.

Der Schwerpunkt der Schule auf experimentellem Lernen und einem physikorientierten Bildungsansatz spielt eine zentrale Rolle bei Cushings Entscheidung, eine Laufbahn in der Chirurgie einzuschlagen. Das dort angebotene Training in manueller Geschicklichkeit und Feinmotorik spielt eine maßgebliche Rolle bei seinem späteren Erfolg als Neurochirurg.

Harvey Cushings Studienjahre

Im Jahr 1891 schließt er sein B.A.-Studium an der Yale University ab und wechselt an die Harvard University, wo er an der Harvard Medical School 1895 seinen M.D.-Abschluss erwirbt. Cushings medizinische Laufbahn beginnt noch im selben Jahr als Intern am Massachusetts General Hospital (MGH), wo er ein Jahr lang in der chirurgischen Abteilung arbeitet. In einem Brief an seine Mutter schreibt er während dieser Zeit: „Everyone is much excited over the new photographic discovery … we won’t be able to have secrets anymore“ und bezieht sich dabei auf die neu entdeckte Röntgentechnologie des deutschen Physikers Wilhelm Conrad Röntgen. Innerhalb von drei Monaten sorgt Cushing dafür, dass das MGH eine Röntgenanlage für die Ambulanzabteilung erhält. Seine nächsten Stationen sind eine Residency als Chirurg am Johns Hopkins Hospital in Baltimore, Maryland, unter dem Pionier der Chirurgie William Stewart Halsted, und zwei Übersee-Aufenthalte, bei Emil Theodor Kocher in Bern und bei Charles Scott Sherrington in Liverpool, um Fertigkeiten in der Neurochirurgie auszubilden.

Harvey Cushing: Vater der modernen Neurochirurgie

In der Folge etabliert Cushing schon früh für sich den Ruf einer Autorität auf dem Gebiet der Neurochirurgie. Um 1900 gehört er zu den ersten Befürwortern des Riva-Rocci-Sphygmomanometers zur Messung des perioperativen Blutdrucks. Das Gerät, entwickelt von dem italienischen Kinderarzt Scipione Riva-Rocci, stellt die erste verlässliche Methode zur Blutdruckmessung dar. Dieses neue Überwachungssystem wird in der Medizin rasch angenommen und ermöglicht – zusammen mit modernen Operationstechniken – sicherere und komplexere Eingriffe.

Der sogenannte Cushing-Reflex geht auf seine Studien zur Reaktion des Gehirns auf Kompression 1901/02 zurück. Cushings Untersuchungen sind detaillierter und besser dokumentiert als die seiner Vorgänger. Obwohl das Phänomen seit etwa 20 Jahren bekannt ist, beschreibt er die zeitlichen Abläufe, Stadien und lokalen Unterschiede der Symptome bei erhöhtem Hirndruck sehr präzise. Cushing zeigt, dass gesteigerter intrakranieller Druck zu einer zerebralen Herniation und schließlich zu tödlicher Hirnstammkompression führt – mit Anstieg von systolischem Blutdruck und Pulsdruck, Bradykardie und Atemunregelmäßigkeiten. Dank seiner detaillierten Beschreibung trägt das Phänomen heute seinen Namen.

Dr. Harvey Cushing
Abbildung: Punlic Domain/wikimedia

Dr. Harvey Cushing in einem Ölgemälde des amerikanischen Impressionisten Edmund C. Tarbell von 1908.

1910 operiert Cushing den Chief of Staff der U.S.-Landstreitkräfte, Major General Leonard Wood. In einem komplizierten Eingriff entfernt er ein Meningeom vom Hinterhauptlappen. Wood überlebt den diffizilen Eingriff und kann sogar seinen Dienst in der Folge weiter ausüben. Im selben Jahr beschreibt er erstmals einen ACTH-produzierenden, gutartigen Tumor der Hypophyse. Bestätigt durch den Erfolg bei der Entfernung des Meningeoms nimmt die Karriere von Cushing in der Neurochirurgie immer mehr Fahrt auf. Im Jahr 1912 wird er Professor für Chirurgie an der Harvard University. 1913 steigt er zum Chief Surgeon des Peter Bent Brigham Hospital der Harvard University auf, in dessen Planung er ab 1910 involviert war.

Nachdem im August 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht, übernimmt Cushing die Leitung der ersten Einheit von Harvard-HCPs – 13 Chirurgen und vier Krankenschwestern – die sich für den Kriegsdienst meldet. Am 22. März 1915 verlassen sie die USA in Richtung Paris, wo sie das American Ambulance-Krankenhaus betreiben, bevor sie im Juni desselben Jahres wieder in die USA zurückkehren. In den Kriegsjahren arbeitet Cushing mehrfach in an die British Expeditionary Forces (BEF) in Frankreich angegliederten U.S.-Lazaretten. Außerdem leitet er eine chirurgische Einheit in einem französischen Militärkrankenhaus außerhalb von Paris. Hier experimentiert er mit dem Einsatz von Elektromagneten, um Metallsplitter aus dem Gehirn zu entfernen. Im November 1917 wird Cushing in einem Bericht des Oberkommandierenden der BEF, Field Marshal Sir Douglas Haig, lobend erwähnt. Schließlich wird er zum leitenden Berater für Neurochirurgie der American Expeditionary Forces in Europa berufen. Als der Krieg zu Ende geht, wird Cushing in Großbritannien zum Companion of the Bath ernannt, die US-Armee verleiht ihm die Distinguished Service Medal.

Als wären ihm seine Leistungen auf dem Gebiet der Medizin nicht genug, verfasst Cushing in den frühen 1920er-Jahren die Biographie Life of Sir William Osler, einem der Big Four-Gründungsprofessoren des Johns Hopkins Hospital, die 1925 im Verlag der Oxford University Press erscheint und 1926 mit dem Pulitzer-Preis für Biographie ausgezeichnet wird.

In den folgenden Jahren und Jahrzehnten entwickelt Cushing die Neurochirurgie systematisch weiter. Bis 1931 hat er die Letalität von Operationen am Gehirn, die zu Beginn seiner Karriere noch bei 50 % gelegen war, auf etwa 10 % gesenkt. Vor Cushing verbluteten Patienten bei intrakraniellen Operationen regelmäßig. Dank seiner Einführung strikter Blutstillung, Asepsis, Elektrokoagulation und weiterer Verfahren wird diese dramatische Reduktion der Letalität möglich. Während die Geschichte der Medizin bis dahin vorwiegend in Europa geschrieben worden war, pilgern nun europäische Chirurgen zur Weiterbildung in die USA, um dort von Cushing und seinen Schülern zu lernen.

Sein wohl dauerhaftester Beitrag zur klinischen Medizin ist aber das Cushing-Syndrom, das er 1932 beschreibt. Beim Studium der Literatur zur Hypophysenphysiologie für seine Lister Memorial Lecture im Jahr 1930 (Lesen Sie hier einen Bericht zu Cushings Listers Vortrag im British Journal of Medicine) erkennt Cushing die wiederkehrenden Zeichen bei einer kleinen Patientengruppe. Er liefert damit erstmals eine vollständige Erklärung für Symptome, die zuvor nur unvollständig verstanden wurden – etwa das sogenannte Diabetic-Bearded Woman- oder Achard-Thiers-Syndrom. Das Cushing-Syndrom ist die Folge einer Hypersekretion der Nebennierenrinde, unabhängig von der Ursache – ursprünglich beschreibt Cushing drei Fälle von basophilen Adenomen der Hypophyse.

A Mean Son of a Bitch?

J. Michael Bliss, Cushings Biograph, bezeichnet ihn auf professioneller Ebene als tough hombre, who reduced nurses to tears and residents to nervous breakdowns with withering scorn and sarcasm. Seine regelmäßigen 100-Stunden-Wochen und seine konservative Weltanschauung fordern auch von seiner Familie einen hohen Preis. [They] found it difficult to relate to their stern Victorian father, who disapproved of jazz, the movies, fashionable dress, telephone calls, boyfriends, women in medicine, women smoking—probably women at college—and young men who did not attend to their studies and the need to get on with qualifying for Yale, fasst Bliss die Verhältnisse im Hause Cushing zusammen. Eine der zentralen Fragen, denen er in Harvey Cushing: A Life in Surgery nachging, war konsequenterweise, whether or not he [Cushing] was an egotistical, hard-driving, selfish, mean son-of-a-bitch. Während Mitarbeiter, Mitarbeiterinnen und Familie unter dem fordernden Puritanismus Cushings mitunter leiden, ist sein Benehmen gegenüber Patientinnen und Patienten so makellos, wie seine professionelle Hingabe laut Bliss grenzenlos ist.

Nach dem OP: Cushing in Yale

Trotzdem Cushing den Großteil seines beruflichen Lebens an der Johns Hopkins University und an der Harvard University verbringt, sind seine Studienjahre am Yale College überaus prägend und bedeutend für ihn. So kehrt er 1933, nach dem Ende seiner aktiven chirurgischen Laufbahn nach Yale zurück – als Sterling Professor of Neurology and Director of Studies in the History of Medicine. In den Jahren 1934 bis 1938 arbeiten Cushing und Dr. Louise Eisenhardt dort intensiv daran, vollständige fotografische Kopien sämtlicher Krankengeschichten anzufertigen, zu denen Cushing pathologisches Material besitzt, und den letzten Teil einer Trilogie über das Wachstum intrakranieller Tumoren fertigzustellen. Nachdem das Buch schließlich veröffentlicht wird, richtet Cushing seine Energien auf die Pläne zum Bau der medizinischen Bibliothek der Yale University.

Cushing leidet unter gesundheitlichen Problemen und ist von arteriellen Durchblutungsstörungen in den Beinen geplagt, Amputation lehnt er jedoch ab. Stattdessen stellt der starke Raucher fest, dass der Verzicht auf Tabak seine Gesundheit innerhalb kurzer Zeit deutlich verbessert. Obwohl er gelegentlich Rückfälle hat, hält er später Vorträge über die gesundheitlichen Vorteile eines Rauchstopps – lange bevor das Rauchen medizinisch in Verruf gerät.

Harvey Cushing stirbt am 7. Oktober 1939 in Connecticut an den Folgen eines Herzinfarkts, nur Tage nachdem er erfahren hat, dass die Finanzierung der medizinischen Bibliothek der Yale University gesichert ist. Bemerkenswerterweise wurde bei ihm, dem Pionier der modernen Neurochirurgie, in der Autopsie das Vorliegen einer kolloiden Zyste im dritten Ventrikel festgestellt. Seine außergewöhnliche 40-jährige medizinische Karriere, in der er über 2000 Hirntumoren operierte, sowie seine Entdeckungen und Innovationen machen die Neurologie und Neurochirurgie zu den Fachgebieten, als die wir sie heute kennen. Cushings Konterfei ziert heute das Emblem der American Association of Neurological Surgeons.