21. Feb. 2025medonline Medizingeschichte #43

ÄrztInnen im Nationalsozialismus: Rosemarie Albrecht

Wie uns ein Individueller Fall das komplexe Spannungsfeld von strafrechtlicher und ethisch-moralischer Schuld oder Unschuld vor Augen führt.

Undatierte Postkartenansicht der Landesheilanstalt Stadtroda.
Foto: Public Domain
Im Bild: Faksimile einer undatierten Postkartenansicht der Landesheilanstalt Stadtroda bei Jena.

Im Jahr 2000 lebt Rosemarie Albrecht als emeritierte Professorin in Jena. Die HNO-Ärztin hat zu DDR-Zeiten hohes Ansehen genossen, innovative Operationsmethoden entwickelt und ist mehrfach ausgezeichnet worden. Unter anderem 1953 als „Verdienter Arzt des Volkes“ und 1975 als „Verdienter Hochschullehrer der DDR“. Von 1967 an war sie Mitglied der Akademie der Wissenschaften der Deutschen Demokratischen Republik. Noch 1996 wird sie im wiedervereinigten Deutschland zum Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie ernannt.

Mordvorwürfe gegen Rosemarie Albrecht

Doch am 13. März 2000 gerät ihr Leben aus den Fugen, als sie der Stasi-Beauftragte Thüringens, Jürgen Haschke, bei der Staatsanwaltschaft in Gera anzeigt. Schon 1990 waren in den Archiven des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), der berüchtigten Stasi, ca. 70.000 Dokumente aus der Zeit des Nationalsozialismus gefunden worden. Aus diesen Dokumenten ziehen die bundesdeutschen Strafverfolgungsbehörden nun den Schluss, dass Albrecht in der Landesheilanstalt Stadtroda bei Jena am verbrecherischen "Euthanasie"-Programm „Aktion T4“ der Nationalsozialisten beteiligt war.

Hunderttausende Menschen waren diesem Programm zum Opfer gefallen. Viele Ärzte waren aktiv beteiligt, duldeten das Morden oder entschieden sich dafür, wegzusehen. Das Thema blieb, wie so viele andere Aspekte dieser Zeit, über Jahrzehnte unbeachtet. Kaum ein Täter, kaum eine Täterin wurde je zur Verantwortung gezogen.

Albrecht bestreitet die Vorwürfe vehement. Sie schildert ihre Arbeit in Stadtroda und ihre große Fürsorge für die von ihr betreuten Patienten der Landesheilanstalt. Morde habe es dort nicht gegeben. Nichtsdestotrotz zerstören die Vorwürfe ihren bis dahin makellosen Ruf.

Ermittlungen im Fall Albrecht

Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft beginnen unmittelbar nach der Anzeige. Die Akten aus dem Stasi-Archiv deuten auf eine große Anzahl ungeklärter Todesfälle hin. Eine Historikerin stellt fest, dass in Albrechts direkter Betreuung elf Kinder verstorben sind, die in der pervertierten Logik der nationalsozialistischen Ideologie als „schlechtestes Material“ galten. Ein Gutachter findet Hinweise auf medizinische Eingriffe, bei denen Patienten zu Versuchszwecken Liquor cerebrospinalis entnommen und ihre Gehirne nach Lufteinblasen röntgenologisch dargestellt wurden. Die Staatsanwaltschaft identifiziert mehr als 200 potenzielle Zeugen, von denen aber nur noch wenige am Leben sind. Ehemalige Kolleginnen und Kollegen erinnern sich kaum an die junge Albrecht. Eine ehemalige Pflegerin beschreibt sie als doch so „hübsches Weib … und immer freundlich, nett und lieb“.

Die Beweisführung gestaltet sich schwierig. Die Ermittlungen konzentrieren sich schließlich auf eine Patientin, die im April 1941 an einer Überdosis Schlafmittel verstorben sein soll. Die Staatsanwaltschaft stützt sich auf Aufzeichnungen über Medikamentengaben. Ein zurate gezogener Psychiater sieht in diesen Unterlagen ein Indiz für eine gezielte Tötung.

Wenig überraschend kritisiert Albrechts Verteidiger die Ermittlungen scharf. Er kritisiert sie als unsystematisch und erklärt, Verfahrensmängel zu erkennen. Zudem argumentiert er, dass auch mögliche Vergehen bereits verjährt seien. Die Staatsanwaltschaft hält dagegen: Da Mord in der bundesdeutschen Rechtsordnung seit den 1960er-Jahren nicht mehr verjähren kann, sei die Strafverfolgung zulässig.

Auch Albrecht selbst fordert einen Prozess, um sich verteidigen zu können. Die Öffentlichkeit reagiert mit zunehmendem Druck. Manche Medien berichten reißerisch über den Fall. So fragt die BILD-Zeitung, wie immer dem eigenen Stil treu: „War sie der Todesengel von Stadtroda?“ In Jena werden Demonstrationen gegen Albrecht organisiert. Vor ihrem Haus tauchen maskierte Protestierende auf. Anonyme Flugblätter werfen ihr vor, 1941 eine Kommunistin ermordet zu haben. Ihr Anwalt fordert im Lauf dieser Ereignisse Polizeischutz.

Die Anklage gegen Rosemarie Albrecht

Nach drei Jahre dauernden Ermittlungen erhebt die Staatsanwaltschaft schließlich Anklage wegen „heimtückischen Mordes“. Laut Anklageschrift hatte Albrecht einer Patientin über Wochen hinweg hohe Dosen an Barbituraten verabreicht, was zum Tod der Frau im April 1941 geführt hat.

Die Verteidigung präsentiert Gegenbeweise. Ein Gutachten kommt zu dem Schluss, dass die Dosierung der Medikamente den damaligen Standards entsprochen hat. Zudem sei die Patientin bereits vor ihrer Aufnahme in einem kritischen Zustand gewesen. Eine ehemalige Kommilitonin Albrechts erklärt, dass junge Ärzte damals keinerlei Entscheidungsbefugnisse hatten. Die Staatsanwaltschaft lehnt es ab, sie als Zeugin zu vernehmen.

Das Landgericht Gera fordert weitere Gutachten an. Ein Pharmakologe bestätigt, dass die Medikamentengaben nicht zwangsläufig tödlich waren. Ein zweiter Gutachter erklärt, dass die Behandlung dem damaligen medizinischen Wissen entsprach. Dennoch bleibt die Staatsanwaltschaft bei ihrer Anklage. Sie argumentiert, dass die Klinik ein Ort gezielter Tötungen war und Albrecht unter einem Vorgesetzten arbeitete, der an den T4-Maßnahmen beteiligt war.

Das Gericht entscheidet schließlich, eine Hauptverhandlung anzusetzen. Doch kurz vor ihrem 90. Geburtstag stellt Albrechts Hausärztin fest, dass diese nicht verhandlungsfähig sei. Ein in der Folge erstelltes medizinisches Gutachten bestätigt das. Am 9. Februar 2005 wird das Verfahren eingestellt. Gleichzeitig erklärt das Gericht, dass Albrecht wohl ohnehin aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden wäre. Die Verfahrenskosten trägt in diesem Fall der Staat.

Die Thüringer Ärzteschaft zeigt sich erleichtert. Der Präsident der Landesärztekammer bedauert, dass Albrecht jahrelang diesem Verdacht ausgesetzt war. Eine Würdigung zu ihrem 90. Geburtstag bleibt dennoch aus. Die mediale Debatte hält aber an: Ist Albrecht nun schuldig oder nicht? Die Beweislage bleibt weiterhin unklar. Ein ethischer Schuldspruch scheint noch schwieriger als eine strafrechtliche Beurteilung des Falles. Albrecht selbst äußert sich kaum zu den Vorwürfen. Sie berichtet von ihrer Zeit in Stadtroda und gibt zu Protokoll, sich an den Transport von Patienten in die sächsische Anstalt Zschadraß wie an Gerüchte über deren dortige Ermordung zu erinnern. Ihr Vorgesetzter in Stadtroda habe die Belegschaft damals aber mit wenigen Worten beruhigt. Zudem sei sie als junge Ärztin unter den damaligen Verhältnissen „nicht berechtigt gewesen“, Kritik zu äußern. Am 7. Jänner 2008 stirbt Rosemarie Albrecht in Jena, ohne dass ihr Fall einer strafrechtlichen oder eindeutigen ethisch-moralischen Klärung zugeführt worden wäre.

Verbrechen in der Landesheilanstalt Stadtroda bei Jena

Heute ist bekannt, dass zwischen 1940 und 1945 zahlreiche Kinder in der Kinderfachabteilung der Landesheilanstalt Stadtroda starben. Die genauen Zahlen variieren je nach Quelle, jedoch dokumentieren Berichte eine signifikante, unter normalen Umständen kaum erklärliche Anzahl von Todesfällen. Die Todesursachen wurden häufig als „Herzschwäche“ oder „Herz- und Kreislaufschwäche“ angegeben, was im Kontext der dokumentierten Geschichte des T4-Programms stark auf eine Verschleierung der tatsächlichen Umstände hindeutet.

Verantwortlich für diese Taten waren Ärzte und medizinisches Personal der Klinik. So führte beispielsweise die Ärztin Margarete Hielscher in 82 Fällen das Krankenblatt bis zum Tod der Kinder, während der Arzt Gerhard Kloos in 86 Fällen gegenzeichnete. Diese Dokumentationen belegen die direkte Beteiligung des medizinischen Personals an den Tötungen.

Was die Täterinnenschaft von Rosemarie Albrecht betrifft, so lässt sich ihre Verantwortung heute nicht mehr eindeutig klären. Ihr Fall führt uns aber das komplexe Spannungsfeld von strafrechtlicher und ethisch-moralischer Schuld beziehungsweise Unschuld vor Augen, in dem bei weitem nicht alle, aber doch viele individuelle Lebensgeschichten aus der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland und Österreich verhandelt werden müssen.