Jonas Salk und die erste wirksame Polio-Impfung
Wie ein Sohn orthodoxer polnisch-jüdischer Immigranten in den USA die erste wirksame Polio-Impfung entwickelte.

Jonas Salk wird am 28. Oktober 1914 in New York City in eine orthodoxe polnisch-jüdische Einwandererfamilie hineingeboren. Seine Eltern haben keine formale Bildung genossen, aber sie ermutigen Jonas und seine Geschwister aktiv, ihre schulische Ausbildung als Chance zu begreifen. Nach dem High-School-Abschluss immatrikuliert sich Jonas am City College of New York und ist damit das erste Mitglied seiner Familie, dem eine Hochschulbildung zuteilwird.
Ursprünglich interessiert er sich für die Rechtswissenschaften. Seine Mutter vertritt ihm gegenüber aber den Standpunkt, dass Jonas in einem Gerichtssaal niemals erfolgreich sein könne, da er nicht einmal imstande sei, in einer Diskussion mit ihr zu bestehen. Als ihn die Kombination von Natur- und Geisteswissenschaften zunehmend zu faszinieren beginnt, wechselt er in der Folge sein Studienfach von Rechtswissenschaften zu Medizin. Salk studiert an der New York University School of Medicine und beginnt bereits als Student mit Forschungsarbeiten zum Influenza-Virus. In dieser Zeit lernt Salk seine erste Frau, Donna Lindsay, kennen, die er 1939 heiratet. Gemeinsam werden sie drei Kinder haben – Peter, Darrell und Jonathan –, die später selbst medizinische und wissenschaftliche Karrieren verfolgen.
Von der Influenza- zur Polio-Impfung
Nach seinem Abschluss gewinnt Salk ein renommiertes Forschungsstipendium an der University of Michigan unter der Leitung von Dr. Thomas Francis. Gemeinsam arbeiten die beiden während des Zweiten Weltkriegs an der Entwicklung und Einführung eines wirksamen Influenza-Impfstoffs für das US-Militär. Nach dem Ende seines Stipendiums wendet er sich dem Poliovirus zu, um auch hier nach einem sicheren und wirksamen Impfstoff zu forschen. Er beginnt seine Arbeit auf diesem Gebiet an der University of Pittsburgh, Pennsylvania, und legt dort den Grundstein für einen der bedeutendsten medizinischen Durchbrüche der Geschichte.
Im Jahr 1947 wird Jonas Salk zum Direktor des Virus Research Laboratory an der University of Pittsburgh School of Medicine ernannt. Der etablierte Ansatz zur Entwicklung eines Impfstoffs besteht zu dieser Zeit darin, zunächst einen lebenden, aber abgeschwächten Mikroorganismus zu isolieren. Dieses abgeschwächte Virus oder das Bakterium wird Patienten verabreicht, um eine leichte, ungefährliche Infektion zu erzeugen, die ihrerseits eine langfristige Immunität auslöst. Salk verfolgte aber schon in seiner vorangegangenen Arbeit zur Influenza-Impfung einen anderen Ansatz. Er nutzt nicht-infektiöse, abgetötete Viren, um die erwünschte Immunantwort zu provozieren. Trotz der Skepsis vieler Kollegen und Kritiker entscheidet er sich, diesen Ansatz auch im Rahmen seiner Polio-Forschung zu verfolgen.
In weiterer Folge publiziert Salk mehrere Beiträge über Polio und die Vorteile eines Impfstoffs mit inaktivierten Viren. Seine Arbeiten erregen schließlich die Aufmerksamkeit der National Foundation for Infantile Paralysis, einer vom an Polio leidenden US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt gegründeten gemeinnützigen Organisation zur Unterstützung der Poliomyelitis-Forschung. Die Stiftung beginnt Salks Forschung großzügig zu fördern und ermöglicht ihm, intensiv an der Impfstoffentwicklung zu forschen.
Jonas Salks Durchbruch zum Polio-Impfstoff
Salk und sein Team nutzen Formaldehyd, um das Poliovirus abzutöten, ohne dessen antigenische Eigenschaften zu zerstören. Nachdem sich sowohl Sicherheit als auch Wirksamkeit bestätigt haben, verabreichen sie den Impfstoff einer großen Gruppe von Freiwilligen, darunter Salk selbst, seine Frau und ihre Kinder. 1954 führt Salk eine groß angelegte nationale Studie durch, an der über eine Million Kinder teilnehmen. Ein Jahr später, am 12. April 1955, gibt er bekannt, dass der Impfstoff sowohl sicher als auch wirksam ist. 1955 leiden in den USA rund 29.000 Menschen an Polio. Nur zwei Jahre nach der Einführung des Impfstoffs sinkt die Infektionsrate auf weniger als 6.000 Fälle. Der Salk-Impfstoff wird rasch landesweit eingeführt und erreicht bis 1959 rund 90 Länder.
Trotz seiner bahnbrechenden Arbeit bleibt Salk eine Mitgliedschaft in der American Academy of Sciences verwehrt. Auch den Nobelpreis erhält er nicht. Dem Vernehmen nach ist der Grund dafür, dass Salk die Beiträge anderer Wissenschaftler vor ihm sowie die Arbeit seines eigenen Teams nicht ausreichend gewürdigt hat. Beispielsweise gelang es Dr. John Enders und seinen Kollegen Dr. Thomas H. Weller und Dr. Frederick Robbins bereits 1948, das Poliovirus in menschlichem Gewebe im Labor zu kultivieren. Diese Entdeckung hat die Impfstoffforschung erheblich erleichtert und wesentlich zur Entwicklung von Polio-Impfstoffen beigetragen. Eine weitere wichtige Erkenntnis war die Identifizierung von drei unterschiedlichen Poliovirus-Serotypen.
Jonas Salk und der Cutter-Wyeth-Skandal
Kurz nach Beginn der Massenimpfungen in den USA erkranken einige geimpfte Personen an Lähmungen in dem Körperteil, in den die Impfung verabreicht wurde. Impfstoffchargen der Cutter Laboratories und in geringerem Maße von Wyeth Laboratories werden als Ursache identifiziert. Nachdem 250 Fälle von lähmenden Erkrankungen aufgetreten sind, wird der Impfstoff zurückgerufen. Zudem gibt es Berichte über Todesfälle bei Kindern. Untersuchungen ergeben, dass unsachgemäß inaktivierter Impfstoff in mehr als 100.000 Dosen lebende Viren freigesetzt hat.
Zu dieser Zeit arbeiten Dr. Albert Sabin und Dr. Hilary Koprowski an einem abgeschwächten Lebendimpfstoff gegen Polio. 1955 präsentieren sie ihre ersten Ergebnisse auf einer Konferenz in Stockholm und führen Tests außerhalb der USA durch, unter anderem in Mexiko und der Sowjetunion, da die USA sich bereits auf den Salk-Impfstoff festgelegt haben. 1957 entwickelt Dr. Sabin einen oralen Dreifachimpfstoff, der alle drei Poliovirus-Serotypen enthält und an zehn Millionen Kinder in der Sowjetunion verabreicht wird. Für seine Arbeit erhält er die höchste zivile Auszeichnung der Sowjetunion, die Medaille des Ordens der Freundschaft der Völker. Der orale Impfstoff kommt 1961 auf den Markt und verdrängt Salks injizierbaren Impfstoff, der nach dem Cutter-Wyeth-Skandal viel an öffentlichem Vertrauen verloren hat.
Salk Institute for Biological Studies
1965 zieht Jonas Salk nach La Jolla, Kalifornien, und gründet das Salk Institute for Biological Studies, was eines seiner bedeutendsten Vermächtnisse darstellt. Das Institut soll ein kreatives Umfeld bieten, in dem Forscher „gemeinsam die weitreichenden Auswirkungen ihrer Entdeckungen auf die Zukunft der Menschheit erforschen können“. Viele herausragende Wissenschaftler zieht es nach La Jolla, darunter auch Dr. Francis Crick, der Mitentdecker der DNA-Doppelhelix.

Dr. Jonas Salk am Podium während eines Besuchs bei den US-Centers for Disease Control (CDC) im Jahr 1988, wo er nach einem Vortrag Fragen beantwortet.
1968 endet Salks erste Ehe in einer Scheidung. Kurz darauf lernt er die französische Künstlerin Françoise Gilot kennen, die ehemalige Lebensgefährtin von Pablo Picasso. Die beiden heiraten im Jahr 1970. In dieser Verbindung findet Salk eine seltene Kombination aus Kunst, Intellekt und Gemeinschaft. Er bleibt mit ihr in La Jolla, wo er – bis zu seinem Tod infolge eines Herzversagens 1995 – weiterhin tätig ist. Auf die Frage, wer das Patent für den Polio-Impfstoff besitze, antwortet Salk mit dem berühmten Ausspruch: „Well, the people, I would say. There is no patent. Could you patent the sun?“ Diese humanistische Einstellung und seine bahnbrechenden Errungenschaften in der Virologie sichern Dr. Jonas Salk einen dauerhaften Platz in den Annalen der Medizingeschichte.